„Jemand kommt“

Einige Nächte waren vergangen. Es war Sonntag. Miranda spielte gerade mit Wyveria, die ein weiteres Stück gewachsen war und inzwischen mühelos laufen konnte. Miranda hielt eine Schnur hoch, damit Wyveria danach schnappen konnte, als Wyveria plötzlich innehielt. Sie schaute nach oben zur Decke, und es schien, als lausche sie.

„Jemand kommt“, sagte sie telepathisch zu Miranda, und sie klang ängstlich dabei.

„Was ist denn?“, fragte Miranda. „Wer soll kommen?“

„Jemand kommt.“ Mehr sagte Wyveria nicht. Miranda ging zum Fenster und schaute hinaus, aber niemand war zu sehen. Sie ging zurück zu Wyveria und wollte sie auf den Arm nehmen, um sie zu beruhigen.

„Jemand kommt. Ich habe Angst“, sagte Wyveria und verkroch sich hinter Mirandas Sessel. „Beruhige Dich doch“, sagte Miranda. „Ich gehe nachsehen.“ Sie öffnete die Tür und sah nach draußen. Auf der Wiese vor dem Baum war niemand zu sehen. Sie schaute in alle Richtungen, aber alles war einsam. Dann bemerkte sie einen Schatten über sich. Sie schaute nach oben und erschrak.

Ein riesiger Drache kreiste über ihrem Haus und landete dann vor dem kleinen Hügel auf der Wiese. Dabei machten seine gewaltigen Schwingen so viel Wind, dass Miranda fast das Gleichgewicht verloren hätte. Der Drache stand auf seinen vier Beinen auf der Wiese, doch er war so groß, dass sein Kopf auf einer Höhe mit Miranda war, die auf dem Hügel vor ihrem Haus stand. Der Drache war braun, und sah auf den ersten Blick Wyveria ähnlich, aber dann bemerkte Miranda auch einige Unterschiede: Sein Kopf war eckiger und schwerer gebaut als Wyverias langgestreckte Schnauze, und er hatte keine Hörner. Der Drache schaute Miranda aus seinen tiefen schwarzen Augen an, die ähnlich schillerten wie die von Wyveria.

„Ich suche ein Drachenkind“, sagte er schließlich mit tiefer Stimme. „Es muss vor kurzem hier geschlüpft sein. Hast Du es gesehen?“

Seine Stimme war so durchdringend und ehrfurchteinflößend, dass Miranda nicht einmal auf die Idee kam, ihn anzulügen. Außerdem schien der Drache ohnehin genau zu wissen, wo Wyveria war. „Ja, Wyveria ist vor einigen Tagen aus ihrem Ei geschlüpft.“

„Gut. Ich werde sie mitnehmen.“

„Mitnehmen? Aber Wyveria gehört doch zu mir.“

„Nein, sie ist ein Drache. Drachen müssen von Wesen ihrer Art großgezogen werden. Das ist Drachengesetz.“

„Aber die Hexe Medea hat das Drachenei doch so versteckt, dass es von einer Hexe gefunden wird, nicht von einem Drachen.“

„Es spielt keine Rolle, wer das Drachenei versteckt hat. Ein Drache muss von Wesen seiner Art aufgezogen werden. So lautet das Gesetz.“

Telepathisch hörte Miranda Wyverias Stimme. „Ich will bei Dir bleiben!“, rief sie kläglich.

„Wyveria will bei mir bleiben“, sagte Miranda.

„Ich habe es gehört. Aber auch das spielt keine Rolle. Das Gesetz muss beachtet werden.“

„Wenn Wyveria nicht mitgehen will, dann bleibt sie hier.“ Miranda fing an, zornig zu werden.

„Lass mich sie sehen“, sagte der Drache. „Ich glaube nicht, dass ein Mensch weiß, wie man sich um einen Drachen kümmern muss.“

Miranda ging ins Haus hinein und nahm Wyveria auf den Arm. Sie wimmerte leise, aber Miranda redete beruhigend auf sie ein. „Ich will Dich nur vorzeigen, damit der braune Drache sieht, dass es Dir bei mir gut geht. Ich lasse ihn Dich nicht mitnehmen, ganz bestimmt nicht.“ Damit ging sie wieder vor die Tür. Wyveria schaute den braunen Drachen an, dann zischte sie wütend und breitete ihre Flügel aus.

„Es ist ein Bronzedrache“, sagte der braune Drache. Seine Stimme klang erstaunt.

„Natürlich ist sie das“, sagte Miranda. „Und sie hat gesagt, dass sie bei mir bleiben will.“

„Nein. Das Drachengesetz muss erfüllt werden.“

‘Was kann ich nur tun?’ dachte Miranda verzweifelt. ‘Ich kann doch die arme Wyveria nicht mit ihm fortgehen lassen, wenn sie nicht will. Womöglich sehe ich sie nie wieder.’ Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten, doch dann fiel ihr etwas ein. „Euer Drachengesetz kann gar nicht erfüllt werden“, sagte sie dann. „Wyveria ist der Letzte der Bronzedrachen. Also kann sie gar nicht von einem Wesen ihrer Art aufgezogen werden, denn es gibt keine anderen Bronzedrachen mehr.“

„Aber sie muss trotzdem von Drachen großgezogen werden, auch wenn sie von einer anderen Art sind.“

„Nein“, sagte Miranda so energisch sie konnte. „Wenn Wyveria bei mir bleiben will, dann bleibt sie auch.“

„Du wirst sie mir jetzt übergeben“, sagte der Drache mit grollender Stimme und dann richtete er sich zu seiner ganzen Größe auf und breitete seine Schwingen aus. Sein Kopf ragte höher auf als die Spitze von Mirandas Wohnbaum und unter jeder seiner Schwingen hätte ihr ganzes Haus Platz gehabt. Dann streckte er eine seiner Vordertatzen nach Wyveria aus. Die Tatze hatte vier Zehen mit Krallen, von denen jede so lang war wie Mirandas Unterarm. Der Anblick war so furchterregend, dass Wyveria von Mirandas Arm heruntersprang und ins Haus rannte.

Auch Miranda bekam Angst, doch ein anderes Gefühl war noch stärker und sie zog ihren Zauberstab. „Was fällt Dir ein?“, schrie sie wütend. „Wyveria so zu erschrecken! Du hast wohl gar keine Ahnung, wie man mit Kindern umgeht. Von jemandem wie Dir lasse ich sie nicht großziehen. Und jetzt verschwinde, bevor ich Dich verzaubere.“ Später wusste Miranda nicht mehr, ob es mutig oder eher wahnsinnig von ihr gewesen war, den Drachen so anzuherrschen. Immerhin war er so groß, dass er sie mühelos mit einem Haps hätte verschlingen können, von seinem Feueratem, den er sicherlich hatte, gar nicht zu reden. Aber ihre Wut war größer als ihre Vernunft.

„Was tust Du?“, grollte der Drache. „Weißt Du nicht, dass Deine Zauber mir nichts anhaben können? Aber das Gesetz muss erfüllt werden, sonst kann großes Unheil entstehen. Ein Drache muss von Wesen seiner Art großgezogen werden, damit er alles lernen kann, was ein Drache wissen muss.“

„Wenn das alles ist! Ich kann ihr auch alles beibringen.“

„Kannst du das? Das glaube ich kaum. Aber gut, wir werden es prüfen: Heute in einem Monat wird der große Drachenrat einberufen werden. Komme mit Wyveria bei Sonnenaufgang dorthin, dann werden wir sie prüfen. Wenn sie beherrscht, was ein Kind in ihrem Alter gelernt haben muss, dann darf sie bei dir bleiben.“

Ohne ein Wort des Abschieds breitete der braune Drache seine Flügel aus. Er machte einen Satz in die Luft und flog mit kräftigen, langsamen Schlägen seiner Flügel davon.

Miranda ging zurück ins Haus. Ihre Knie zitterten von der aufregenden Begegnung. „Er ist weg“, sagte sie zu Wyveria, die ängstlich unter dem Schrank hervorkroch. „Immerhin, Du darfst erst einmal bei mir bleiben.“ Aber als sie Wyveria auf den Arm nahm wurde ihr klar, dass sie keine Idee hatte, was ein Drachenkind lernen musste.

Kommentare (2)

  1. #1 Christian
    3. April 2020

    Meine zwei Jungs lesen die Geschichte abwechselnd ihrer kleinen Schwester vor. Alle drei haben mich beauftragt, die nächsten Kapitel zu sammeln, bis sie wieder bei mir sind.
    Danke für die Geschichte!

  2. #2 MartinB
    3. April 2020

    @Christian
    Allein dafür hat es sich dann ja schon gelohnt, das freut mich sehr.