Die große Prüfung

Krallenschwinges raue Stimme füllte den ganzen Vulkankegel aus, in dem der Drachenrat zusammengekommen war, um über Wyverias Schicksal zu entscheiden: „Vor vielen Jahren geschah es, dass ein Drachenei in die Obhut einer Menschenhexe gegeben wurde. Diese Hexe aber war zu alt, um das Drachenkind selbst aufziehen zu können, und so verbarg sie es gut, damit es eines Tages gefunden würde. Diese Hexenkinder haben es gefunden und eines von ihnen hat das Drachenkind Wyveria aufgenommen.“ Alle Drachen drehten ihre Köpfe wieder zu Wyveria und den Hexenkindern, die noch etwas enger zusammenrückten.

„Das Drachengesetz aber sagt, dass Drachen nur von Wesen ihrer Art großgezogen werden dürfen. Deshalb flog Grimbold“ – während sie diesen Namen sagte, deutete sie mit dem Kopf in Richtung des großen braunen Drachen, dessen Namen Miranda nun endlich erfuhr – „zu den Menschen, um das Drachenkind Wyveria ins Drachenland zu holen. Doch das Menschenkind weigerte sich, Wyveria herauszugeben, weil sie ein Bronzedrache ist und es auch im Drachenland kein Wesen ihrer Art mehr gibt.

Wir aber können nur zulassen, dass ein Drache bei einem Menschen aufwächst, wenn er dort lernt, was ein Drache lernen muss. Deshalb werden wir heute prüfen, ob Wyveria weiß, was ein Drache in ihrem Alter wissen muss.“

Alle Augen richteten sich auf Miranda und Wyveria. Miranda fühlte sich so winzig und hilflos wie noch nie in ihrem Leben. Am liebsten wäre sie auf ihren Besen gesprungen und so schnell davon geflogen, wie sie nur konnte, aber sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und begann zu sprechen.

„Wir haben versucht, Wyveria alles beizubringen, was Drachen können. Einiges hat auch gut geklappt – Wyveria kann Laufen und auch Schwimmen. Aber ich fürchte, wir konnten ihr Vieles nicht beibringen. Sie kann nur ein kleines Stück fliegen.“ Miranda drehte sich zu Wyveria, die einen kurzen Anlauf nahm und ein Stück weit durch die Luft segelte. Miranda hörte, wie einige Drachen zischten und leise miteinander redeten – vermutlich waren sie entsetzt, dass Wyveria nicht mehr konnte als das.

„Ja, und sie kann auch nur sehr wenig Feuer spucken“, fuhr sie fort. Wyveria stieß eine kleine Flamme aus, und wieder begannen die Drachen auf ihren Plätzen unruhig zu werden. „Leider kann sie auch kaum zaubern“, sagte Miranda dann. Wyveria schloss die Augen und zauberte ihre Leuchtkugel, aber im Licht der Wüstensonne war sie kaum zu erkennen. Die großen Drachen wurden noch unruhiger. Sie waren bestimmt nicht zufrieden mit dem Wenigen, das Wyveria gelernt hatte, und Miranda wurde klar, dass sie Wyveria verlieren würde. „Und schließlich“, sagte sie, während ihr Tränen in die Augen traten, „schließlich haben wir auch versucht, ihr das Sprechen beizubringen. Aber es hat nicht geklappt – sie kann nur im Kopf mit uns sprechen, aber nicht richtig.“ Jetzt liefen die Tränen aus Mirandas Augen, und sie hörte, wie einer der Drachen in der untersten Reihe sagte „Warum freut sich das Menschenkind?“ Drachen weinen nämlich, wenn sie sehr fröhlich sind, wie Miranda wusste. Einer der anderen Drachen erklärte leise „Menschen weinen, wenn sie traurig sind.“

Miranda konnte vor lauter Tränen kaum weitersprechen, aber sie wusste, was sie sagen musste. Sie legte ihre Hand auf Wyverias Kopf und nahm ihre Kraft zusammen, um die Tränen zu unterdrücken. „Ich glaube, ich kann Wyveria wirklich nicht alles beibringen. Vielleicht ist es doch besser, wenn sie im Drachenland bleibt und hier großgezogen wird.“ Draconia und Netti starrten sie entsetzt an, während Wyveria ihren Kopf zu Miranda emporreckte. Grimbold, der große braune Drache, rief: „Richtig so, Wyveria muss hier bleiben.“ Miranda kniete sich hin und schlang Wyveria die Arme um den Hals. „Ich glaube, es ist besser für dich“, sagte sie leise, „damit du ein richtiger Drache werden kannst.“

Für einen Moment hockte Miranda schweigend und weinend da. Keiner der Drachen sagte etwas. Dann sprach wieder Krallenschwinge: „Du hast uns sehr überrascht, Miranda. Ein Drachenkind in Wyverias Alter muss nichts von dem können, was Du ihr beigebracht hast, außer Laufen. Und Sprechen natürlich, aber sprechen kann Wyveria ja, wenn auch nicht auf Menschenart. All diese Dinge lernen Drachenkinder erst später, und es ist erstaunlich, dass Du sie ihr überhaupt beibringen konntest. Drachen besitzen viele Fähigkeiten, aber die wichtigste Fähigkeit ist, klug und weise zu sein.“

Miranda schaute zu Krallenschwinge auf, denn sie verstand nicht, was das bedeuten sollte. „Das kann man doch nicht beibringen“, sagte sie.

„Das stimmt“, sagte Krallenschwinge. „Drachen benötigen viele Jahre, um ihre Weisheit zu erlangen. Dazu müssen sie einen wachen Verstand besitzen, und diesen Verstand üben schon die allerkleinsten Drachen, indem sie Rätsel lösen.“

Miranda war so verblüfft, dass sie vor Staunen auf ihr Hinterteil geplumpst wäre, wenn sie sich nicht noch an Wyveria geklammert hätte. Netti platzte heraus: „Aber das haben wir doch die ganze Zeit gemacht!“

Und so begann die Drachenprüfung. Krallenschwinge stellte Wyveria Rätsel, doch diese hatte in den letzten Wochen so viele Rätsel gelöst, dass sie jedes von ihnen kannte, und so antwortete sie jedes Mal sofort.

„Und nun das letzte Rätsel“, sagte Krallenschwinge schließlich. „Wenn man nicht sieht, so sieht man sie. Wenn man sieht, sieht man sie nicht.“ Diesmal antwortete Wyveria nicht sofort, denn dieses Rätsel kannte sie noch nicht. Wie immer, wenn sie nachdachte, legte sie ihren Kopf auf die Tatzen und schloss die Augen. Miranda hielt den Atem an. Sie versuchte, selbst auf die Lösung zu kommen, aber sie war viel zu aufgeregt, um richtig nachdenken zu können. Außerdem schien ihr das Rätsel vollkommen sinnlos zu sein. Entweder man konnte etwas sehen, oder man konnte es nicht sehen. Aber wie konnte man etwas sehen, das man nicht sehen konnte?

Es war vollkommen still im Drachenrat, alle Drachen schauten gespannt auf Wyveria, und warteten regungslos, ob sie die Lösung finden würde. Mirandas Herz schlug immer heftiger. Als Krallenschwinge gesagt hatte, Wyveria müsse Rätsel lösen, hatte sie neue Hoffnung geschöpft, dass sie Wyveria doch behalten konnte. Aber nun schien es, als wäre alles vergeblich gewesen. So lange hatte Wyveria noch nie über ein Rätsel nachgedacht. Sie sah, wie Grimbold den Kopf hob und die anderen Drachen ansah, so als wolle er sagen „Wie lange sollen wir noch warten?“

In diesem Moment öffnete Wyveria die Augen und hob den Kopf: „Ein gutes Rätsel“, sagte sie langsam. „Es ist die Dunkelheit.“

Krallenschwinge schaute auf sie herunter und sagte „Du hast die Prüfung bestanden.“ Miranda fiel Wyveria um den Hals, und auch ihre beiden Freundinnen kamen hinzu. Sie alle lachten überschwänglich, und aus Wyverias Augen liefen Tränen heraus. Als Miranda nach einer Weile zu den Drachen hinaufschaute, schien es ihr, als wären auch die Drachen froh – jedenfalls wirkten ihre Mienen nicht grimmig, sondern schienen Miranda freundlich zu sein. Nur einer der Drachen schaute immer noch ärgerlich: Grimbold.

Miranda aber kümmerte sich lieber um Wyveria und ihre Freundinnen. „Du hattest die ganze Zeit recht gehabt“, sagte sie zu Wyveria: „Du wusstest, was Du lernen musstest, auch wenn ich es nicht glauben wollte.“ Dann drehte sich zu Netti: „Wenn Du nicht gewesen wärst, dann hätten wir es nie geschafft.“

„Ich bin nur froh, dass Wyveria bei uns bleiben darf“, antwortete Netti.

Kommentare (4)

  1. #1 rolak
    12. April 2020

    Hübsche Abrundung!

    dessen Namen Miranda nun endlich erfuhr

    Aufmerksame TextVerschlinger* waren sich da schon ziemlich sicher :•)

  2. #2 MartinB
    12. April 2020

    @rolak
    Bei der Textexegese darf man ja Kommentare nie genau so bewerten wie den Urtext.

  3. #3 RJ
    13. April 2020

    Tolle Geschichte, @MartinB, vielen Dank!

    Hast Du mal überlegt, sie als Audiobuch aufzulegen?
    Vielleicht weniger Risiko und Vorbereitungsaufwand, als gleich in den Markt für gedruckte Kinderbücher einsteigen zu wollen.

  4. #4 MartinB
    13. April 2020

    @RJ
    Danke für das Lob
    Nein, über Audiobooks habe ich noch nie nachgedacht – ich sammle gerade meine ersten Erfahrungen mit screencasts bei der Digitalisierung einer Vorlesung.
    Aktuell freue ich mich erst Mal, dass es ja doch einige gibt, denen die Geschichten gefallen, und bin ganz zufrieden, sie hier einfach hochzuladen, so dass jede sie lesen kann.