Miranda spioniert

Als Miranda zwei Nächte später wieder in der Schule war, war sie immer noch neugierig, wo die Hexenlehrerin gewesen war.

„Hatten Sie eine schöne Reise?“, fragte sie vorsichtig, als sie am Anfang der großen Pause an der Lehrerin vorbei aus dem Klassenzimmer ging.

Aber die Hexenlehrerin antwortete nur: „Ja“, und sagte nichts weiter. Miranda fand das sehr seltsam. Normalerweise war die Hexenlehrerin gesprächiger und nicht so geheimnisvoll.

‘Ich möchte zu gern wissen, wo sie war,’ dachte Miranda. ‘Ob das mit der großen Kälte zusammenhängt?’ Die anderen Hexenkinder waren bereits draußen vor der Schule und tobten im Schnee herum. Da hatte Miranda eine Idee.

„Komm, Wyveria, für dich ist es sowieso zu kalt draußen“, sagte sie und ging wieder zurück. „Darf ich mit Wyveria drinnen bleiben?“, fragte sie die Lehrerin. „Es ist zu kalt für sie draußen, und allein langweilt sie sich.“

„Langweilt sich?“, wunderte sich die Lehrerin. „Das ist ja etwas ganz Neues. Aber wenn Du willst, kannst du auch drinnen Pause machen.“

„Danke!“, sagte Miranda und verschwand mit Wyveria im Klassenzimmer. Sie stellte sich neben die Tür und spähte vorsichtig auf den Gang hinaus. Die Lehrerin ging zur Schultür, um zu sehen, was die Kinder draußen taten. Das war die Gelegenheit für Miranda. „Warte hier“, sagte sie zu Wyveria.

„Wohin willst du denn?“

„Ich will nur sehen, ob ich rauskriege, wo die Lehrerin gestern Nacht war“, sagte Miranda und huschte zur Tür hinaus.

Die Zimmer, in denen die Lehrerin wohnte, lagen zwei Stockwerke über dem Klassenraum. Miranda schlich sich vorsichtig die Treppe hinauf, um kein Geräusch zu machen. Im zweiten Stock der Schule angekommen, schaute sie sich um. Auf einer Kommode lagen ein paar Zettel, aber es waren nur eine Einkaufsliste und ein Brief, der schon einige Tage alt war.

Neben der Kommode stand eine Garderobe, an der ein langer Hexenumhang hing. Unten am Saum des Umhangs sah Miranda etwas Rötliches: es war feiner, rötlicher Sand. ‘Roter Sand,‘ dachte Miranda. ‘Irgendwo habe ich schonmal solchen roten Sand gesehen. Aber wo?’ Doch sie konnte sich nicht erinnern. Schnell bückte sie sich, kratzte vorsichtig etwas von dem Sand in ihre Hand und schlich dann die Treppe wieder hinunter.

„Wo warst du denn?“, fragte Wyveria neugierig, als Miranda wieder in der Klasse war.

„Ich habe spioniert. Guck mal diesen Sand an, der hing am Umhang der Hexenlehrerin. Weißt du, wo es solchen Sand gibt?“

Wyveria schaute sich den Sand genau an, dann schnüffelte sie vorsichtig daran. „Das ist Sand aus dem Drachenland“, sagte sie dann.

„Dann war die Lehrerin im Drachenland! Aber warum? Und warum hat sie uns nichts davon erzählt?“ Miranda fand das alles sehr geheimnisvoll und auch ein wenig unheimlich. Warum durfte sie nicht wissen, dass die Lehrerin bei den Drachen gewesen war?

Den Rest des Unterrichts war Miranda unaufmerksam und abgelenkt, weil sie die ganze Zeit grübelte, was die Lehrerin vor ihr verbarg. Auch auf dem Nachhauseweg war sie sehr schweigsam.

Wyveria hatte sich wieder ganz tief in ihrem Korb verkrochen. Miranda dachte an die Drachen, und Wyverias Traum, in dem sie eingefroren gewesen war, fiel ihr wieder ein. Darin war schließlich auch ein Drache vorgekommen. Ob das etwas mit dem Geheimnis der Lehrerin zu tun hatte?

Miranda war so abgelenkt, dass sie zuerst gar nicht bemerkte, dass sie viel höher flog, als sie es normalerweise tat. Sie schaute auf die Schneelandschaft hinunter und plötzlich bemerkte sie etwas Seltsames: Unter ihr lag der Schnee etwa so hoch, dass er ihr bis zu den Knien reichen würde, aber weiter weg war der Schnee viel höher. Dort, wo der hohe Schnee begann, lag eine steile Schneewand, die mindestens so groß war wie sie selbst. Miranda flog noch höher, so dass sie die ganze Gegend von Ihrem Haus bis zum Hexendorf auf der einen und zur Hexenschule auf der anderen Seite überblicken konnte. Und da sah sie es: Das Gebiet, in dem nur wenig Schnee lag, war wie ein gewaltiges freies Feld mit fünf Ecken. Genau in der Mitte dieses Feldes lag ihr Hexenhaus.

„Wyveria, schau dir das mal an“, sagte sie und zeigte Wyveria, was sie entdeckt hatte. Wyveria streckte ihren Kopf unter der Decke heraus und sagte „Das ist wirklich seltsam. Hat jemand den Schnee weggezaubert? Aber warum? Und wer?“

„Vielleicht finden wir es heraus, wenn wir den Rand des Fünfecks untersuchen“, schlug Miranda vor. Aber Wyveria war nicht einverstanden. „Zu kalt“, sagte sie nur und verkroch sich wieder unter der Decke.

„Gut, dann fliegen wir nach Hause. Am besten frage ich Draconia, ob sie mitkommt, dann kannst Du zuhause im Warmen bleiben.“

Wenig später saß Miranda wieder auf ihrem Besen, neben ihr ihre Freundin Draconia. Miranda hatte ihr von dem seltsamen Schneefünfeck erzählt und die beiden wollten es nun genauer erkunden. Wyveria blieb in Mirandas Haus und saß auf ihrem Schatz, den Miranda neben den Kamin platziert hatte.

„Wenn wir ganz hoch fliegen, sehen wir es am besten“, erklärte Miranda. Die beiden flogen noch höher, als Miranda es vorhin getan hatte, und konnten es deutlich erkennen: Mirandas Haus lag tatsächlich genau in der Mitte eines großen Gebietes, in dem viel weniger Schnee lag als außerhalb.

Die beiden flogen zum Rand des Gebietes und gingen tiefer. Außerhalb des Fünfecks lag der Schnee sehr hoch, so hoch, dass Miranda vollständig darin hätte versinken können. Als sie die Grenzlinie überflogen, bemerkten sie, dass es außerhalb viel kälter war. Es wehte ein eisiger, schneidender Wind, der die beiden auch unter ihren warmen Wintersachen frösteln ließ. Sobald sie die Grenze wieder überquerten, wurde der Wind wieder schwächer.

„Mein Haus liegt auch innerhalb des Fünfecks, sonst hätte ich es bestimmt schon früher bemerkt. Das muss Zauberei sein“, sagte Draconia, „so etwas gibt es doch sonst nicht.“

„Stimmt. Vielleicht kriegen wir ja heraus, was für eine Art von Zauber dahintersteckt, wenn wir die ganze Grenze abfliegen. Irgendwo muss es doch einen Hinweis geben.“

So flogen die beiden dicht über dem Schnee hinweg und spähten aufmerksam zu Boden. Sie waren so darin vertieft, nach Spuren irgendeines Zaubers zu suchen, dass sie gar nicht bemerkten, wie sich ihnen jemand näherte.

„Was macht ihr denn da?“, schrie plötzlich eine wütende Stimme.

Erschrocken schauten die beiden nach oben. Über ihnen flog eine Hexe auf ihrem Besen und schaute sie grimmig an. Es war die Hexe, der der Laden im Hexendorf gehörte, in dem Miranda immer einkaufte.

„Wir schauen uns nur um“, sagte Miranda schnell.

„Macht, dass ihr verschwindet! Bei dieser Kälte solltet ihr euch gar nicht draußen herumtreiben.“

„Aber was ist denn das hier für eine seltsame Schneewand? Und warum ist es draußen so viel kälter als drinnen?“, wollte Draconia wissen.

„Das geht euch überhaupt nichts an. Und jetzt nach Hause mit euch, ehe ich euch verzaubere!“

Obwohl die beiden nicht wirklich glaubten, dass die Hexe sie verzaubern würde, machten sie sich davon.

„Das wird ja immer seltsamer“, meinte Draconia. „Seit wann dürfen wir denn nicht mehr herumfliegen, wo wir wollen?“

„Was mindestens genauso seltsam ist: Bisher dachte ich, nur die Hexenlehrerin würde sich komisch benehmen, aber wenn die Dorfladenhexe auch damit zu tun hat, dann finde ich das alles noch viel seltsamer.“

„Ja, hier geht irgendetwas ganz ganz Merkwürdiges vor, und die Hexen wollen nicht, dass wir davon erfahren“, sagte Draconia. „Und, fliegen wir nun nach Hause?“

„Natürlich nicht“, antwortete Miranda. „Ich weiß was wir machen.“

Sie flogen ein Stück in Richtung von Mirandas Haus und dann stellten sie ihre Besen ab und nahmen ihre Zauberstäbe heraus. Es dauerte nur einen Moment, und die beiden hatten sich in Eulen verwandelt. In dieser Gestalt würden die anderen Hexen sie hoffentlich nicht erkennen können.

Vorsichtig flogen sie wieder auf die Schneewand zu und dann an ihr entlang. Diesmal hielten sie immer wieder Ausschau, ob eine Hexe in der Nähe war.

„Da ist sie wieder“, sagte Draconia. Tatsächlich flog die Dorfladenhexe wieder den Rand des Fünfecks ab und hielt Ausschau. Schnell flogen die beiden Eulen ein Stück davon und setzten sich in einen Baum. Die Hexe hatte sie anscheinend nicht bemerkt. Sie warteten eine Weile, bis die Dorfladenhexe verschwunden war, dann machten sie sich wieder auf den Weg.

Sie flogen noch eine ganze Weile an der Grenze entlang, bis sie schließlich zu einer der Ecken des Fünfecks kamen.

„Dort unten leuchtet etwas“, sagte Draconia. Die beiden landeten und schauten sich um. In der Erde steckte ein langer Stab aus Eisen, der an seiner Spitze geformt war wie eine Tatze. Die Tatze war gebogen und hielt mit ihren Klauen einen rot leuchtenden Edelstein fest.

„Das sieht aus wie der Vorderfuß von einem Drachen“, wunderte sich Miranda.

„Ob das ein Drachenzauber ist?“, fragte Draconia.

„Keine Ahnung“, sagte Miranda. „Aber neulich war ein Drache hier in der Gegend, ich habe seinen Fußabdruck gesehen.“

„Vielleicht wollen die Drachen uns vor der Kälte schützen, so gut es geht“, überlegte Draconia.

„Ja, vielleicht.“ Miranda dachte einen Moment nach. „Vielleicht wollen sie auch nicht uns beschützen, sondern Wyveria. Vielleicht ist deshalb mein Haus genau in der Mitte.“

„Aber warum sagen sie uns das nicht einfach?“, grübelte Draconia weiter. „Da muss doch noch mehr dahinter stecken als bloß Kälte und Schnee.“

„Ja, das glaube ich auch. Aber ich habe keine Ahnung, was es ist.“