Wyveria, der Schneedrache

Es war Abend. Miranda saß neben Wyveria vor ihrem Ofen und erzählte von ihren Abenteuern im Zentaurenland. Als sie in der letzten Nacht zurückgekommen war, war die Sonne schon fast aufgegangen und sie war zum Erzählen zu müde gewesen.

„Dann müssen wir also noch einige Monate abwarten, bis wir ins Drachenland fliegen können?“, sagte Wyveria enttäuscht. „Bis dahin brauchen wir den Trank gar nicht mehr, dann ist ja längst Frühling.“

„Ja, ich weiß“, sagte Miranda seufzend. „Aber ich konnte doch nicht Polymedes aus seinem Dorf verbannen lassen.“

„Nein, natürlich konntest du das nicht.“ Wyveria legte ihren Kopf auf Mirandas Schoß und Miranda kraulte sie hinter den Hörnern, da, wo sie es gern mochte. Wyveria schloss wohlig die Augen. Plötzlich ruckte ihr Kopf in die Höhe.

„Was ist denn?“, fragte Miranda.

„Ich habe eine Idee. Du benutzt doch immer den Schnellzaubertrank, damit dein Besen schneller fliegt. Was meinst du, was passiert, wenn man einen Tropfen davon in den Zentaurenmost hineintropft. Wird der dann auch schneller zu Wein?“

„Wyveria! Das ist ja eine geniale Idee“, sagte Miranda. Sie sprang sofort auf. „Das probieren wir gleich aus.“

Miranda ging in ihre Hexenküche und holte die Flasche mit dem Zaubertrank. Vorsichtig zog sie den Korken aus dem Mostfass und füllte eine Tasse etwa halbvoll mit Most. Sie tropfte ein Paar Tropfen des Schnellzaubertranks in die Tasse. Der Most in der Tasse begann zu brodeln, als würde er kochen. Als Miranda die Tasse anfasste, spürte sie, dass sie etwas warm wurde. Im Inneren der Tasse brodelte es weiter und weiter, und Miranda und Wyveria rochen einen fruchtigen, schweren Duft. Nach einer ganzen Weile wurde das Brodeln weniger und schließlich wurde der Most wieder ruhig. Die Flüssigkeit in der Tasse war nun nicht mehr trübe, sondern ganz klar geworden. Miranda schnupperte vorsichtig. „Riecht wirklich wie Wein“, sagte sie, steckte einen Finger in die Tasse und schleckte daran. „Schmeckt auch wie Wein. Ich glaube, es hat wirklich geklappt.“

Wyveria schaute Miranda aufmerksam zu, als diese begann, den Warmtrank zu brauen, der Wyveria vor Kälte schützen sollte. Miranda schüttete den Zentaurenwein in ihren Kessel und gab dann die Zutaten hinzu, wobei sie immer wieder in ihr Hexenkochbuch schaute, um nichts zu vergessen. „Mal sehen. Pfeffer, kleingeschnittene Kaktusstacheln, Blütenblätter, eine halbe Tasse Fruchtsaft, ein Bärenhaar – das war alles. Jetzt muss der Trank nur noch einkochen.“ Miranda nahm ihre Sanduhr und drehte sie um. Jedesmal, wenn der Sand durchgelaufen war, rührte sie den Trank zweimal um. Es dauerte eine ganze Weile, aber schließlich war der Trank dickflüssig geworden und hatte eine dunkelrote Farbe.

„So, nun musst du den Trank trinken. Vorsichtig, er ist noch heiß“, sagte Miranda, als Wyveria gleich aus dem Kessel losschlürfte. Aber Wyveria lachte nur, denn sie war ein Drache und die Hitze machte ihr nichts aus. Als der Trank ausgetrunken war, sagte Wyveria „Dauert es lange, bis der Trank wirkt?“

„Nein, eigentlich nicht. Spürst du schon etwas?“

Wyveria saß ganz still und schien in sich hinein zu horchen. Als sie nichts sagte, befürchtete Miranda schon, dass es nicht geklappt hatte, aber dann rief Wyveria „Mir wird warm, ganz warm. Ich glaube, es hat geklappt!“, jubelte sie und rannte zur Tür.

Miranda griff nach ihrem Mantel und ihrem Schal und folgte Wyveria. Die stand inzwischen vor Mirandas Tür, breitete ihre Flügel aus und segelte nach unten.

„Vorsicht!“, rief Miranda, denn Wyverias Flugkünste waren ja noch nicht sehr gut. Immerhin segelte sie zu Boden, kam dabei allerdings etwas heftig auf und überschlug sich zweimal.

„Alles in Ordnung?“, fragte Miranda ängstlich.

„Natürlich“, rief Wyveria und dann rutschte sie auf ihrem gepanzerten Drachenschwanz den kleinen Hügel hinunter. „Spaß!“, rief sie, rannte den Hügel wieder hinauf und rutschte von neuem. Miranda holte ihren Schlitten heraus, und dann sausten sie beide durch den Schnee, bis sie müde wurden.

„Miranda, mir wird wieder etwas kalt.“

„Gut, lass uns reingehen. Die Sonne geht sowieso bald auf.“ Als sie drinnen waren, schaute Miranda auf die Uhr. Der Warmtrank hatte Wyveria fast zwei Stunden lang warmgehalten. „Ich glaube, mit dem Fass können wir dich eine ganze Weile lang warmhalten. Dann können wir also doch ins Drachenland fliegen.“

„Gut“, antwortete Wyveria. „Aber jetzt wollen wir schlafen.“

Am nächsten Abend, noch vor der Schule, braute Miranda noch einen Kessel voll Warmtrank, den sie ja bestimmt bald wieder brauchen würden. Dann flogen die beiden zur Schule. Für diesen kurzen Weg hatte Miranda Wyveria keinen Warmtrank gegeben, und so verkroch sie sich unter ihren Decken in ihrem Korb.

Als sie bei der Schule ankamen, sahen sie, dass die Schultür verschlossen war. „Die Schule fällt aus!“, rief Esmeralda den beiden zu und flog wieder nach Hause.

„Wieso fällt denn die Schule schon wieder aus?“, wunderte Miranda sich. Sie landete und schaute auf die Schultür. Tatsächlich hing dort ein Zettel auf dem stand: „Liebe Hexenkinder. Leider muss ich noch einmal dringend verreisen. Deshalb fällt die Schule heute aus.“

„Ich habe noch nie erlebt, dass so oft die Schule ausfällt“, sagte Miranda zu Wyveria. „Ich will jetzt wirklich wissen, was dahintersteckt.“

„Sollen wir ins Drachenland fliegen? Jetzt hätten wir doch Zeit.“

„Hmm. Ich will erstmal ins Hexendorf und sehen, ob ich dort etwas herausfinde.“

Also machte Miranda sich auf den Weg. „Beeil’ dich, mir wird kalt“, beklagte sich Wyveria. Aber da war Miranda schon im Dorf angekommen. Zu ihrer Überraschung war auch das Hexendorf wie ausgestorben, keine der Hexen war zu Hause.

„Wo können die nur alle sein?“, überlegte Miranda, und dann wurde es ihr klar. „Die halten bestimmt einen Hexenrat ab“, sagte sie zu Wyveria. „Da wäre ich zu gern dabei.“

„Bist du nicht zu klein für den Hexenrat?“, fragte Wyveria.

„Ja, schon. Aber wir könnten uns doch vorsichtig hinschleichen und lauschen.“

„Dann bekommst du aber eine Menge Ärger, wenn sie dich erwischen.“

„Dann dürfen wir uns eben nicht erwischen lassen“, sagte Miranda und steuerte ihren Besen nach Hause. Dort bekam Wyveria ihrem Warmtrank und die beiden machten sich auf den Weg.

Der Hexenrat fand auf dem großen Versammlungsplatz der Hexen am Blocksberg statt. Miranda flog dicht über dem Boden, um nicht gesehen zu werden, landete ihren Besen ein gutes Stück vom Versammlungsplatz entfernt und schob ihn in ein Gebüsch. Dann zauberte sie sich unsichtbar. „Schade, dass ich dich nicht auch unsichtbar zaubern kann“, sagte sie zu Wyveria. Sie schlichen leise den Berghang hinauf. Der Versammlungsplatz war flach und ungefähr rund, an seinem Rand lagen große Steine und Felsbrocken herum. Die beiden huschten hinter einen der Felsbrocken, so dass Wyveria vorsichtig um ihn herumspähen konnte, und dann lauschten sie.