Die habe ich jetzt gefunden: Ab sofort könnt ihr meinen Blog bei den scilogs unter
https://scilogs.spektrum.de/hier-wohnen-drachen/
finden. Da diese Blogplattform ja anscheinend doch weiterläuft, werde ich nach wie vor hier vorbeischauen und auf Kommentare antworten, neue Artikel wird es aber hier wohl nicht mehr geben.
Natürlich ist es schade, dass es hier endet, aber immerhin geht es ja weiter. Ich hoffe, dass ihr auch unter neuem Dach weiter meinen Blog lest.
So oder so nutze ich noch einmal die Gelegenheit, mich bei euch zu bedanken: Für mehr als 12 Jahre Mitlesen, Mitkommentieren, Diskutieren und manchmal auch Herumblödeln. Ohne euch würde die Bloggerei keinen Spaß machen und ohne Euch hätte ich nicht so viel gelernt und vermutlich auch nie angefangen, populärwissenschaftliche Bücher zu schreiben. (TIpp: Wenn alles gut geht, sollte mein Buch zur Quantenmechanik bald erscheinen, vielleicht sogar noch in diesem Jahr.)
Deshalb also zum Abschluss noch ein mal ein ganz herzliches
]]>Hier eine ganz schnelle Einschätzung und eine Erklärung, warum das eine seeeeeeehr weit hergeholte Art ist, das zu beschreiben, was da getan wurde.Kurz, weil ich gerade wenig Zeit habe und weil mit für längeres Schreiben auf einer sterbenden Blogplattform auch die Lust fehlt. (Aber keine Sorge, Her wohnen Drachen wird weiterleben, Details kläre ich gerade.)
Zunächst mal: Wurmlöcher sind quasi Abkürzungen durch die Raumzeit, die theoretisch zwei weit entfernte Punkte des Universums auf einer kurzen Route verbinden können. Die Allgemeine Relativitätstheorie erlaubt die Existenz solcher Wurmlöcher prinzipiell, allerdings mit zwei Haken:
1. Im Rahmen der ART gibt es keine Möglichkeit, sie zu erzeugen. Sie müssten quasi seit der Entstehung des Universums vorhanden sein oder auf eine Weise erzeugt werden, die über die ART hinaus geht.
2. Damit etwas durch ein Wurmloch reisen kann, benötigt man “exotische Materie”, solche, die einen negativen Druck um sich herum aufbauen kann, quasi um das Wurmloch am kollabieren zu hindern. Solche Materie gibt es nach unserem Wissen nicht.
Details findet ihr in diesem Artikel oder natürlich in meinem Buch “Isaac” zur ART.
Und jetzt soll also ein Quantencomputer ein Wurmloch erzeugt haben? Wie das?
Das ist eine lange und involvierte Geschichte, bei der ich auch kein Experte bin. Ich gebe hier mein grobes Verständnis wieder, Details mögen falsch sein (ich hoffe aber alles passt).
Alles fing damit an, dass man in den 90er Jahren entdeckte, dass man eine gekrümmte Raumzeit in einem 5-dimensionalen sogenannten Anti-de-Sitter-Universum (erkläre ich gleich etwas) alternativ als eine Theorie in vier Dimensionen formulieren kann, die gar keine Gravitation enthält, sondern nur Quanteneffekte. Mit anderen Worten: Wärt ihr Lebewesen in so einem 4D-Universum, dann würde es für euch so aussehen als wäre das Universum fünfdimensional und als gäbe es Gravitation. Weil das “tatsächliche” Universum eine Dimension weniger hat, spricht man von “Holographie”, denn in einem Hologramm kann ja auch ein zweidimensionales Objekt ein dreidimensionales Bild speichern und wiedergeben. Man spricht hier auch von einer Dualität zwischen den beiden Modellen.
Das hat seinerzeit für viel Aufsehen und Wirbel gesorgt, denn man hoffte, etwas ähnliches auch für unser Universum hinzubekommen. Das hat aber nicht geklappt. Unser Universum ist nämlich kein Anti-de-Sitter-Universum, sondern ein de-Sitter-Universum. Unser Universum dehnt sich bekanntlich aus, und nicht nur das, die Ausdehnung beschleunigt sich auch noch (die berühmte positive kosmologische Konstante oder “Dunkle Energie”). Ein Anti-de-Sitter-Universum dagegen hat eine negative kosmologische Konstante und ist so designed, dass seine Krümmung räumlich und zeitlich konstant ist, es sieht also überall und immer gleich aus und kann sich nicht ausdehnen. Außerdem hat unser Universum 4 Dimensionen (3 im Raum, eine in der Zeit), nicht 5.
Man hat seitdem versucht die coole Dualität irgendwie so hinzubiegen, dass sie sich auch auf ein de-Sitter-Universum wie unseres übertragen lässt. Würde das gelingen, hätte man quasi die Gravitation “wegerklärt”, sie wäre dann ein Quanteneffekt und das, was wir als unser Universum wahrnehmen, wäre quasi wie ein Hologramm, weil das “echte” Universum eine andere Dimension hätte. Gelungen ist das nicht und es gibt auch gute Gründe anzunehmen, dass das tatsächlich unmöglich ist.
Im Zuge dieser Versuche hat man alle möglichen Spielzeugmodelle untersucht, eins davon verbindet eine Quantentheorie in Null Raum- und einer Zeitdimension mit einem Universum mit einer Raum und einer Zeitdimension. (Bei einer Quantentheorie mit 0+1 Dimensionen haben die Objekte keinen Ort, aber sie können trotzdem Eigenschaften haben und so eine Theorie ist trotzdem nicht trivial). Eine Raumzeit mit nur einer Raumdimension ist quasi eine Linie – da gibt es natürlich so Dinge wie Raumkrümmung und so nicht. Das ist also wirklich ein Spielzeugmodell.
In so einem sogenannten SYK-Modell kann man jetzt Teilchen haben, die miteinander verschränkt sind und bei denen Information von einer Gruppe von Teilchen auf eine andere übertragen wird. Für jemanden, der in einem solchen SYK-Universum leben würde, würde das aussehen als würde sich ein Teilchen durch ein Wurmloch von einem Ort zum anderen bewegen. (Ich muss zugeben, dass ich nicht genau verstehe, wie das im einzelnen funktioniert. Zumindest in der ART kann man ja Wurmlöcher nicht einfach erzeugen, und ein Objekt, dass ein stabiles Wurmloch durchquert, merkt selbst nichts ungewöhnliches, weil in der ART die Raumzeit lokal immer flach ist.)
Man hat dann zunächst mit gewöhnlichen Computern so eine Verschränkung in einem SYK-Universum berechnet und dann diese Verschränkung tatsächlich auf einem Quantencomputer realisiert. Das Argument der “Wir-haben-ein-Wurmloch-gebaut”-Fraktion dafür, dass das wirklich ein Wurmloch ist, lautet, wenn ich es richtig verstehe “Dieses Quantensystem ist dual zu einem Wurmloch, also ist es von einem Wurmloch letztlich nicht zu unterscheiden”. Das würde aber natürlich nur gelten, wenn der Quantencomputer in so einem 0+1-dimensionalen Universum sitzen würde, was er definitiv nicht tut.
Ein Wurmloch wie wir es uns vorstellen (Stargate- oder DS9-Fans sind jetzt enttäuscht) ist es also nichts und hat damit auch nicht viel zu tun. Es ist ein Quantenphänome, das in einem Spielzeuguniversum dual zu einem Wurmloch wäre, für die Bewohner dieses Universums also von einem Wurmloch nicht zu unterscheiden wäre.
Lernen wir wenigstens irgendwas über Quantengravitation aus diesem Experiment? Nein. nicht wirklich. Die Dualität und das Modell waren ja vorher schon theoretisch bekannt. Klar, cool, dass man sowas auf nem Quantencomputer nachbauen kann, aber mit der Gravitation in unserem de-Sitter-Universum hat das nicht wirklich was zu tun und aus der experimentellen Realisierung lernen wir nur eins: Mit dem richtigen Hype kann man auch ein nature-Paper schreiben.
Was mich dazu bringt, warum mich das Ganze doch ein wenig aufregt: Die Wissenschaft hat aktuell eh schon bei Vielen einen schlechten Ruf – der Eindruck, Wissenschaftler würden ihre Wissenschat so hindrehen, wie sie wollen, um eine politische Agenda durchzusetzen, ist weit verbreitet. Da sollte man wirklich keine Schlagzeilen über “Wir haben ein Wurmloch gebaut” in die Welt setzen, wenn man bloß ein Quantenmodell von einem Spielzeuguniversum gebaut hat. Dieser sinnfreie Hype tut weder der Physik noch der Wissenschaft als Ganzes gut, im Gegenteil.
PS: Ich habe für diesen Artikel viel von Peter Woits Blog “Not Even Wrong” und von Sabine Hossenfelders Twitter-Account gelernt, die empfehle ich euch sehr (wobei “not even wrong” schon auf ziemlich hohem Niveau spielt.
]]>Ich erkläre die Sache wie so oft an einem Spielzeugmodell (das allerdings eine gute Näherung für eine tatsächliche Eigenschaft von Elementarteilchen ist, nämlich den Spin). Unsere Teilchen (also die Dinger, die sich nach den Regeln der Quantenmechanik verhalten sollen und mit denen wir die Verschränkung bauen) haben eine Art eingebaute “Richtung”, die man durch einen Pfeil kennzeichnen kann. Der kann in beliebige Richtungen zeigen, nach oben, unten, rechts oder links, schräg rechts oben oder so, aber nur in zwei Dimensionen. Der Pfeil ist also wie ein Zeiger auf einem Kompass mit Richtungen Norden, Nordosten usw. Für’s erste brauchen wir aber nur vier mögliche Richtungen: Oben, unten, rechts links (oder Norden, Süden, Osten, Westen, wenn ihr das lieber mögt).
Nehmen wir an, wir haben ein Teilchen, dessen Pfeilwert wir nicht kennen. Wir können die Richtung nicht einfach messen, das erlauben die Spielregeln der Quantenmechanik nicht. Wir können nur entlang einer bestimmten Richtung messen, beispielsweise in der Vertikalen. Wir können uns zum Beispiel vorstellen, wie haben einen Apparat, der alle Teilchen mit Pfeil nach oben nach oben schickt und alle mit Pfeil nach unten nach unten.
Unser Teilchen mit unbekanntem Pfeil trifft also auf den Apparat und wird dann nach oben oder unten abgelenkt. Schicken wir es danach auf noch einen zweiten identischen Apparat, wird ein Teilchen, das beim ersten nach oben ging, auch beim zweiten nach oben gehen, eins, das beim ersten nach unten geht, auch beim zweiten und so weiter. Daraus können wir schließen, dass ein Teilchen, das hinter dem Apparat nach oben läuft auch tatsächlich den Pfeilwert “oben” hat.
Das gibt Regel 1: Ein Teilchen, dessen Pfeilwert wir gemessen haben, hat auch tatsächlich diesen Wert, denn wir messen ihn danach immer wieder. Teilchen können also einen eindeutigen Pfeilwert besitzen.
Jetzt nehmen wir einen zweiten Apparat hinzu, diesmal einen, der die Zustände Pfeil rechts und Pfeil links unterscheiden kann. Wir schicken wieder ein unbekanntes Teilchen auf den Apparat, hinterher haben wir dann ein Teilchen mit Pfeilwert rechts oder links.
Interessanter wird es, wenn wir ein Teilchen mit Pfeilwert oben (oder unten) auf den Apparat schicken, der rechts oder links unterscheiden kann. Dann bekommen wir nämlich zufällig einen Wert und zwar mit derselben Wahrscheinlichkeit von 50%. Umgekehrt genauso: Schicken wir ein Teilchen mit Zustand rechts (oder links) auf den Apparat, der oben und unten unterscheiden kann, bekommen wir mit 50% Wahrscheinlichkeit oben und mit 50% unten.
Ein Teilchen mit Pfeil oben (oder unten) hat also keinen eindeutigen Wert für die Eigenschaft rechts/links und umgekehrt genauso, misst man die Eigenschaft, ist das Ergebnis zufällig. Man sagt auch, der Zustand “oben” ist bezüglich der Eigenschaft links/rechts in einer Überlagerung. (Mehr über Überlagerungen findet ihr hier.)
Regel 2 Die Zustände oben/unten und links/rechts sind nicht miteinander vereinbar, kennt man den Wert in der einen Richtung, ist der Wert in der Richtung senkrecht dazu schlicht unbestimmt. Ein Teilchen kann also bezüglich einer bestimmten Eigenschaft keinen eindeutigen Wert haben.
So, und jetzt kommen wir such schon zur Verschränkung. Wir denken uns eine Maschine, die immer zwei Teilchen gleichzeitig aussendet, am einfachsten in entgegengesetzte Richtungen. Wenn wir die Pfeilrichtungen dieser Teilchen messen, stellen wir fest, dass sie immer genau entgegengesetzt sind, ist das eine oben, ist das andere unten, ist eins links ist das andere rechts. (Technisch lässt sich das z.B. umsetzen, indem man Elektron-Positron-Paare erzeugt, das Beispiel nimmt Feynman in den Feynman Lectures.)
Nehmen wir an, eins der Teilchen fliegt nach A, eins nach B. Wir haben bei A und B jeweils einen Messapparat und messen mal die Pfeilrichtung in vertikaler Richtung (und finden, dass eins der Teilchen im Zustand oben ist, das andere im Zustand unten), mal messen wir in horizontaler Richtung (und finden als Pfeilrichtungen rechts/links)
Klingt erstmal harmlos und wenig verwirrend? Beide Teilchen sind immer entgegengesetzt, wo ist da das Problem? Wir können uns ja z.B. vorstellen, die Teilchen werden eben mal im Zustand (oben,unten) ausgesandt, mal im Zustand (links, rechts).
Aber wenn ihr nochmal an Regel 2 denkt, merkt ihr, dass das nicht funktioniert. Nehmen wir an, die Teilchen sind im Zustand (oben,unten), aber ich messe ihren Zustand entlang der Richtung links/rechts, also horizontal. Das eine Teilchen ist jetzt also im Zustand oben und nach Regel 2 hat es eine 50%-Chance bei der Messung links/rechts für jeden der beiden Werte. Was dabei herauskommt, ist zufällig. Dasselbe gilt für das andere Teilchen.
Es müsste also prinzipiell möglich sein, dass das beide Teilchen, wenn sie im Zustand (oben,unten) erzeugt werden und wir die Pfeilrichtung horizontal messen, im selben Zustand (links oder rechts) gemessen werden, aber genau das passiert nie. Es kann also nicht sein, dass die Teilchen schon am Anfang mit einer bestimmten Richtung ausgesandt werden und sich danach nicht mehr beeinflussen, denn dann würde man bei der jeweils anderen Messrichtung eine zufällige Verteilung erwarten. (Warnung: Am Ende des Artikels erkläre ich, dass es doch eine Möglichkeit gibt, das zu tricksen….)
So weit so gut, und das weiß man spätestens seit 1935. als Einstein, Podolski und Rosen genau so eine Anordnung ersonnen haben, um deutlich zu machen, wie seltsam die Quantenmechanik ist. (Bekannt ist das ganze deshalb auch als EPR-Paradoxon.) Wer es ausführlicher wissen will, kann bei den Artikelserien klicken, da gibt es eine dreiteilige Serie “Quantenmechanik verstehen”, wo ich deutlich tiefer einsteige.)
Die beiden Teilchen sind also in einem Zustand, der sicherstellt, dass man immer entgegengesetzte Messwerte bekommt, egal wie man die Pfeilrichtung misst, rechts/links oder oben/unten, je nachdem. Vor der Messung kennen wir den Zustand aber nicht und er kann auch nicht festgelegt sein, denn wir können die Richtung, die wir messen, ja auch erst auswählen, nachdem die beiden Teilchen längst losgeflogen sind. (Trickreiche Experimente dazu erkläre ich auch hier und hier.)
Wenn man also den Zustand eines Teilchens misst (beispielsweise oben), dann weiß man jetzt, dass das andere im Zustand unten sein muss. (Misst man erst bei A in der vertikalen Richtung und schickt dann das Teilchen bei B durch eine horizontale Messung, dann bekommt man 50% Wahrscheinlichkeit für rechts und links. Auch das zeigt, dass es jetzt im Zustand oben oder unten war. [Um das nachzuweisen, muss man natürlich sehr viele Experimente machen.])
Verborgene Variablen
Aber vielleicht ist unser Ansatz ja auch zu einfach. Könnte es nicht sein, dass jedes Teilchen einfach mehr Informationen trägt als eine einzige Richtung? Es könnte doch beispielsweise eins die Information oben/rechts haben und das andere die Information unten/links? Dann würde ich immer auf beiden Seiten entgegengesetzte Ergebnisse bekommen und alles wäre konsistent? Der Zustand eines Teilchens wäre eben nur komplizierter als wir vorher dachten, jedes Teilchen hätte sozusagen eine Liste, die sagt, was es bei allen möglichen Messungen tun soll. Eine Theorie, die solche komplexeren Beschreibungen enthält, nennt man eine Theorie mit verborgenen Variablen, weil man ja nie die ganze Beschreibung herausbekommen könnte, immer nur einen Wert, denn nach der Messung wissen wir ja die Richtung eindeutig. Haben wir die Richtung oben gemessen, haben wir keine Möglichkeit mehr, jetzt noch herauszufinden, was für eine horizontale Messung auf der “Liste” des Teilchens stand, diese Information ist verloren. (Würde sie erhalten bleiben, könnten wir das mit einem cleveren Experiment nachweisen.)
Auch solche “verborgenen Variablen” lösen das Problem aber nicht ohne Weiteres. Hier kommt jetzt die viel zitierte Bellsche Ungleichung ins Spiel. (Bell hat leider nie den Nobelpreis bekommen, er war möglicherweise für den Preis 1990 vorgesehen, starb aber kurz vor der Bekanntgabe der Nobelpreisträger.) Hierzu betrachtet man, was passiert, wenn man auf beiden Seiten die Messrichtungen unterschiedlich wählt, und zwar nicht nur horizontal/vertikal, sondern mit beliebigen Orientierungen. Man bekommt dann natürlich nicht mehr genau entgegengesetzte Ergebnisse, aber wenn ich zum Beispiel auf der einen Seite vertikal messe und auf der anderen unter 45 Grad zur Vertikalen (beispielsweise Nordost/Südwest), dann beobachte ich, dass ein Wert von oben (Nord) bei A häufiger mit Südwest bei B gefunden wird als mit Nordost. Durch geschickte Wahl der Richtungen kann man jetzt statistisch zeigen, dass eine am Anfang festgelegte Liste für die Richtungen eine bestimmte Ungleichung für die Korrelationen erfüllen muss, eben die Bellsche Ungleichung. Ist die verletzt, dann weiß man, dass die Erklärung “die Teilchen bekommen am Anfang eine Liste mit den Ergebnissen für alle Richtungen und beeinflussen sich gar nicht” nicht funktioniert, dass die Teilchen also wirklich verschränkt sind. (Im Detail erkläre ich das nicht. Vielleicht finde ich ja irgendwann einen Verlag, der mein Romansachbuch zur QM veröffentlicht, dann könnt ihr es da genauer nachlesen.)
Und genau solche Experimente haben Clauser und Aspect gemacht und gezeigt, dass die Bellsche Ungleichung verletzt ist und dass es die quantenmechanische Verschränkung wirklich gibt und sie nicht einfach mit verborgenen Variablen zu erklären ist. (Anekdote am Rande: In einem Philosophie-Seminar hat mir seinerzeit ein Dozent erzählt, die Physiker würden ja alle verschwiegen, dass die Quantenmechanik längst widerlegt sei, weil ja die Bellsche Ungleichung verletzt sei. Da war ich noch klein und konnte nicht viel dazu sagen, geglaubt hatte ich es allerdings nicht. [Nein, google gab es damals noch nicht, sonst hätte sich das ja schnell erledigt.] Qualitätssicherung in der Lehre, sooo wichtig…)
Zeilinger hat dagegen verschränkte Photonen genutzt, um damit abgefahrene Effekte auszunutzen. Eins davon erkläre ich im Detail hier, aber dazu schreibe ich heute nicht mehr.
Und was bedeutet das?
Fassen wir nochmal zusammen: Wir haben zwei Teilchen, deren Pfeile immer in entgegengesetzte Richtungen zeigen, egal welche Richtung wir messen (solange die Richtung bei beiden Messungen dieselbe ist). Wegen Regel 1 und 2 können die Teilchen damit nicht einfach mit einem bestimmten Zustand losgeschickt werden. Die Verletzung der Bellschen Ungleichung zeigt, dass auch eine kompliziertere Zustandsbeschreibung nicht funktioniert.
Was sagt uns das über die Welt?
Die Standard-Interpretation der QM sagt, dass der Zustand der beiden Teilchen eben verschränkt ist. Die Pfeilrichtung ist unbestimmt, bis wir sie bei einem Teilchen messen, dann liegt sie auch beim anderen Teilchen fest (und ist entgegengesetzt). Das gilt auch, wenn beide Teilchen sehr weit entfernt sind, und man kann die Messungen genau gleichzeitig machen, so dass auch ein lichtschnelles Signal nicht von einem zum anderen käme. Das ist das, was Einstein mit “spukhafter Fernwirkung” meinte. Vornehm nennt man diese Art der Deutung des Experiments “nicht-lokal”. (Signale kann man damit aber nicht übertragen – um die Verschränkung zu sehen, muss man ja vergleichen, was auf beiden Seiten gemessen wurde, und das ist dann wieder eine gewöhnliche Informationsübertragung. Außer natürlich als Plot-Device in Science-Fiction-Stories [unschuldig-pfeif]…)
Alternativ gibt es die “nicht-realistische” Interpretation. Danach sagt unsere Beschreibung der Teilchen überhaupt nichts über die “wirkliche Welt” aus, sondern nur über unsere Kenntnis des Zustands. Misst man, ändert sich unser Wissen über die Welt, aber die Dinge, die wir zur Beschreibung unseres Wissens und der Messungen nutzen (wie die Pfeilrichtungen) haben keine echte Entsprechung in der “Wirklichkeit”, was immer das sein soll.
Die meisten Leute (ich bis vor kurzem auch) sehen nur diese beiden Möglichkeiten, entweder ist die Welt nicht-lokal oder nicht-realistisch. Es gibt aber noch ein anderes Schlupfloch: Den Superdeterminismus. Schaut nochmal auf die Beschreibung des Experiments oben: Ich habe gesagt, dass die Teilchen nicht im Zustand (oben,unten) ausgesandt werden können, weil es dann Probleme gibt, wenn ich die Messung in horizontaler Richtung mache. Aber was ist, wenn ich das nicht kann? Was wäre, wenn die Richtung, in der ich messe, und die Richtung, in der die Teilchen ausgesandt werden, zwangsläufig immer in irgendeiner Weise korreliert sind? Dann ergibt sich nie ein Widerspruch.
Klingt absurd? Ich rede hier (aus gutem Grund, die gibt es eh nicht) gar nicht über Willensfreiheit. Aber es gibt ja Experimente wie dieses hier bei denen man Sternenlicht verwendet, um die Richtung der Messung zu steuern. Irgendwie müsste also in dieser Deutung der Zustand des Sternenlichts mit dem Zustand der ausgesandten Teilchen geschickt korreliert sein, und zwar genau passend dazu, wie ich das Sternenlicht verwende, um die Apparate zu steuern. Das klingt natürlich weit hergeholt. Auf der anderen Seite löst der Superdeterminismus dafür aber das gesamte Problem von Verschränkung, überlichtschneller Festlegung des Zustands eines Teilchens durch die Messung am anderen, die ja auch nicht gerade un-absurd sind. (Mehr über Superdeterminismus erfahrt ihr auf Sabine Hossenfelders backreaction-Blog, ich hoffe, ich habe es halbwegs richtig erklärt.) Eine ausgearbeitete Theorie, wie dieser Superdeterminismus funktioniert, gibt es bisher nicht, aber die Idee ist auf jeden Fall interessant und wert, weiter verfolgt zu werden. (Und wenn man annimmt, dass das Universum sowieso am besten als Blockuniversum zu beschreiben ist, auch gar nicht so weit hergeholt – das Blockuniversum ist für den Superdeterminismus keine Voraussetzung, aber passt schon sehr gut dazu.)
Fazit
Die Quantenverschränkung ist schon ziemlich merkwürdig. Sie sagt uns, dass wir die Eigenschaften zweier Teilchen nicht getrennt beschreiben können, egal wie weit sie voneinander weg sind, und scheint zu zeigen, dass die Messung bei einem Teilchen das andere beeinflussen kann (zumindest in der Standard-Interpretation). Egal welcher Interpretation ihr anhängt, die Quantenmechanik zeigt, dass die Realität schon ziemlich seltsam ist. (Mehr dazu in diesem Artikel, den ich zu einer Zeit geschrieben habe, als ich den Superdeterminismus noch nicht kannte.) Das wird übrigens gern in der Esoterik-Szene genutzt, um allen möglichen Blödsinn zu behaupten – warum das nicht funktioniert und was diese viel zitierten Phrasen tatsächlich bedeuten, habe ich auch mal erklärt. Ein Nobelpreis für die, die diese Seltsamkeiten nachgewiesen haben und erforschen, ist auf jeden Fall hoch verdient.
]]>Ja, es gab auch andere tolle Dinofilme wie “Walking with Dinosaurs” (Dinosaurier – im Reih der Giganten) oder “When Dinosaurs Roamed America” (Als Dinosaurier die Erde beherrschten), aber so spannend die waren, waren sie manchmal doch unrealistisch und nicht immer auf dem aktuellen Foschungsstand.
Prehistoric Planet spielt da noch einmal in einer anderen Liga. Kein Wunder – der hauptverantwortliche Scientific Consultant ist Darren Naish, den Dino-Fans (neben diversen Forschungsartikeln) von verschiedenen Büchern, seinem Blog TetZoo und den von ihm organisierten Workshop “TetZooCon” kennen (der die letzten beiden Jahre online war…). Darren ist bekannt für sein absolut enzyklopädisches Wissen über die verschiedensten Tiere und ihre seltsamen Verhaltensweisen und Überlebensstrategien. Dieses Wissen ist in “Prehistoric Planet” eingeflossen und in so ziemlich jeder Folge gibt es ungewöhnliche anatomische Merkmale oder Verhaltensweisen der Dinos.
WARNING: Spoilers ahead (Aber nur harmlose)
Da ist zunächst mal das Aussehen der Dinos (ich poste keine Bilder, Apple hat bestimmt jede Menge fiese Anwälte, die nur darauf lauern, irgendwelche Copyrightverletzungen zu ahnden, aber ihr guckt die Serie ja eh selbst, hoffe ich, sonst googelt einfach). Noch nie sahe Dinos so realistisch aus – Tyrannosaurus ist kein Monster, sondern ein fürsorglicher Vater mit einem weniger schrecklichen Look als der T. rex aus Jurassic Park (über den aus Walking with Dinosaurs schweige ich höflich…), sondern mit einem Gesicht, das eben nicht designed wurde, um Menschen Angst einzujagen, sondern das einfach realistisch aussieht. Nie sahen gefiederte Velociraptoren so echt aus wie hier, wie große, bodenlebende Raubvögel, aber eben doch mit ihrem ganz eigenen Charakter. (Und der kleine Diss gegen Jurassic Park “It would have looked a lot like a terrifying turkey” war das Sahnehäubchen.)
Zeitgemäß gibt es an vielen Dinos Federn oder Dinoflausch, nicht nur große Federn, die wie Flugfedern aussehen, sondern auch zotteliges Fell am Deinocheirus und Therizinosaurus (Beschwerde: Der wurde wirklich zu kurz gezeigt!!!), kleine dünne Haare am Kopf der großen Raubsaurier oder seltsame stachelige Auswüchse am Pachyrhinosaurus. Und natürlich Fell an den Flugsauriern, den heimlichen Stars der Serie.
Überhaupt, die Flugsaurier. An denen sieht man, wie viel Sorgfalt in die Serie gesteckt wurde: Sie starten ziemlich genau so, wie detaillierte biomechanische Berechnungen es nahelegen, indem sie sich mit den Vorderbeinen nach Vor katapultieren, da haben sie Vögeln gegenüber einen echten Vorteil, weil sie die muskulösen Flügel auch zum Starten nutzen können, während Vögel sich ja mit den Beinen abstoßen müssen; vielleicht ein Grund, warum Flugsaurier deutlich größer werden konnten als Vögel. Die großen Flugsaurier mit schweren Köpfen fliegen mit leicht nach vorn gestreckten Flügen, weil ihr Schwerpunkt weit vorn liegt. Die Azhdarchiden wie Hatzegopteryx aus der letzten Folge werden (eine Idee, die ursprünglich von Naish veröffentlicht wurde) als im wesentlichen a Boden laufende Raubtiere gezeigt, die wie Störche von oben nach Beute schnappen. Überall sieht man also zeitgemäße Forschung einfließen. (Was mich allerdings überrascht hat war, wie sehr die Flughaut eingezogen war, wenn die Flugsaurier herumliefen, da war stellenweise ja kaum etwas von der Membran zu sehen. Wird das durch die Muskeln in der Flughaut ermöglicht?)
Das trifft auch bei der Wahl der Dinos zu: Klar, ohne T. rex und Triceratops geht es nicht, aber es gibt eben auch ungewöhnliche Dinos wie Mononykus, die Funde des Deinocheirus werden einbezogen, um dieses wirklich seltsame Tier zu zeigen, neuere Arten wie Dreadnoughtus oder Austroposeidon haben einen Auftritt und eher unbekannte Arten wie Qianzhousaurus und Atrociraptor (dessen Gesicht in der Sendung tatsächlich mit Feder bedeckt war, endlich mal ein Raubsaurier, der nicht mit der inzwischen zum absoluten Standard gewordenen federlosen Schnauze gezeigt wurde!) und die Teufelskröte Beelzebufo tauchen auf.
Auch das Verhalten der Tiere ist nicht so Stereotyp, wie es sonst oft dargestellt wird. Klar, es gibt das übliche Fressen, Jagen, vor Raubtieren Fliehen, Paarungspartner suchen – was Tiere eben so tun, das geht bei einem Tierfilm ja kaum anders. Aber wie die Tiere es tun, ist oft ungewöhnlich. Velociraptoren, die an Klippen jagen, Mononykus, der nach Termiten gräbt, Flugsaurier, bei denen es (wie bei vielen heutigen Tieren) unterschiedliche Strategien der Männchen gibt, einige dominant, einige, die sich als Weibchen tarnen und so zum Ziel kommen, T rexe und Carnotaurier, die um Weibchen werben (der Carnotaurus mit seinen blauen Stummelarmen ist inzwischen schon fast zum Meme geworden), unterschiedliche Arten der Brutpflege und und und. Alles zwar zum Teil spekulativ, aber immer in Analogie zu heute lebenden Tieren gewählt.
Apropros spekulativ: Natürlich muss man auch mal etwas wilder spekulieren. Dreadnoughtus etwa hat knarrende Luftsäcke am Hals – für die gibt es keinen fossilen Beleg, aber unplausibel sind sie nicht. Natürlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass genau dieser Dinos genau solche Luftsäcke hatte – aber wenn man keine solchen spekulativen Strukturen zeugen würde, wäre es auch nicht realistisch – Dinos waren vermutlich oft verrückter ausgestattet, als wir an den Knochen ablesen können. (Ich empfehle das Buch “All Yesterdays” zu diesem Thema.) Quetzalcoatlus in Südafrika ist auch eine ziemlich heftige Spekulation – aber klar, so große Flugsaurier waren vielleicht interkontinentaltauglich.
Natürlich ist nicht alles immer perfekt. Ich fand die Erzählweise zum Teil etwas überdramatisiert (brauchten wir wirklich zwei Folgen, in denen Waldbrände auftauchen?) und der body count an toten Dinobabies ist schon ziemlich hoch… An einigen Stellen (insbesondere in der letzten Folge) wirkten einzelne Teile auch etwas abgehackt; die Spekulation mit den lehmfressenden Triceratops, die regelmäßig tief in Höhlen absteigen müssen, um ein Gegengift zu fressen, schien mir nicht so plausibel, und den Sinn der Szene mit den Leuchtpilzen habe ich auch nicht verstanden.
Als jemand mit einem Interesse an Biomechanik fand ich keine offensichtliche Fehler. John Hutchinson hat auf Twitter angemerkt, dass T. rex vielleicht doch nicht so ein guter Schwimmer war, ich selbst fand, dass der T. rex beim Laufen und besonders beim Stehen eine etwas größere “Spurweite” hatte als ich es erwartet hätte (vielleicht gibt es aber auch fossile Spuren, die das stützen und die ich nicht kenne, bin ja kein echter Experte), aber im wesentlichen sah alles wirklich plausibel und gut aus.
Was absolut fehlte waren Säugetiere und Vögel. Einmal tauchen kurz Enantiornithen auf, einmal jagt ein Troodon nach Säugetieren, davon abgesehen aber Fehlanzeige. Das fand ich etwas schade, denn sowohl Vögel (Hesperornis z.B. bei den Meeresszenen) als auch Säugetiere hätten das Bild des Ökosystems abgerundet.
Was auch wirklich hilfreich gewesen wäre, wäre ein kurzes Bild der kreidezeitlichen Erde, jedes Mal dann, wenn die Szenerie wechselt. Immerhin lagen die Kontinente damals anders und nicht jeder, der die Serie guckt, wird gleich wissen, wie denn die “Western Interior Seaway” durch Amerika verlief oder wie das Tethysmeer am Ende der Kreidezeit aussah. Ein kurzer Schwenk und Zoom auf den jeweiligen Ort hätte es deutlich leichter gemacht.
Aber das sind wirklich nur Kleinigkeiten, Luxusprobleme und Meckern auf allerhöchstem Niveau. Die Serie ist großartig, ein Meisterwerk und wird Maßstäbe setzen. Und wenn ihr sie noch nicht geguckt habt, dann kann ich nur empfehlen, das nachzuholen. Für 7 Tage kann man bei AppleTV sogar ne kostenlose Probemitgliedschaft abschließen, ihr braucht dann nur ein passendes Gerät zum gucken (ein Browser auf dem PC geht aber auf jeden Fall ohne Probleme).
]]>Achilles: Wir treffen uns morgen Mittag um 12 Uhr.
Schildkröte: Das ist ja mitten in der Nacht.
A: Unsinn, 12 Uhr mittags ist doch Tag, quasi definitionsgemäß.
S: Wirklich? Wie definierst du denn “Tag”?
A: Wenn die Sonne am Himmel steht.
S: Aha. Aber wenn wir morgen am Südpol wären, dann stünde die Sonne um 12 nicht am Himmel, also ist 12 Uhr nicht definitionsgemäß Tag.
A: Schon, aber wir sind in Griechenland, nicht am Südpol.
S: Begriffe müssen aber eindeutig sein, sonst sind sie beliebig. Tag ist also, wenn die Sonne am Himmel steht?
A: Ja, natürlich.
S: Aber was ist wenn es wolkig ist?
A: Dann könnte ich die Sonne ja immer noch messen, beispielsweise ihre Infrarotstrahlung.
S: Und bei einer Sonnenfinsternis?
A: Das zählt auch nicht, wenn der Mond die Sichtlinie nicht verdecken würde, würde man die Sonne ja sehen.
S: Dann ist dein Begriff von Tag also nur ein gedankliches Konstrukt, weil du ja Dinge wegdenken musst.
A. Gut, ich definiere anders: Tag ist, wenn die Sonne über dem Horizont steht.
S: Aha. Wie weit denn über dem Horizont? Wenn die Sonne aufgeht, tut sie das ja langsam.
A: Jetzt wird es aber sehr spitzfindig. Aber meinetwegen. Dann sagen wir, Tag ist, wenn mindestens 50% der Sonne über dem Horizont ist.
S: Aber was genau ist der Horizont?
A: Die Sichtlinie, wo sich Himmel und Erde berühren.
S: Und wenn da ein Berg ist? Ist plötzlich Nacht, wenn die Sonne hinter einem Berg steht?
A: Natürlich nicht, man muss sich eine Sichtlinie denken, so als wäre die Erde eine perfekte Kugel.
S: Und mit genau welcher Höhe muss ich den Horizont annehmen? Ist das immer Meereshöhe, auch wenn ich im Himalaya bin? Oder eine gemittelte Höhe? Oder wie? Wikipedia allein listet fünf verschiedene Definitionen von Horizont.
A: Ääääh.
S: Siehst du. Um Tag zu definieren, verwendest du eine gedachte Linie, die du nicht einmal genau definieren kannst. Das beweist, dass das ganze Konzept Tag und Nacht nur ein Konstrukt ist, und gar nicht wirklich real existiert.
A: Natürlich existieren Tag und Nacht wirklich und lassen sich unterscheiden. Und morgen Mittag um 12 ist nun mal Tag.
S: Du kannst aber Tag und Nacht nur mit Hilfe gedachter Konstrukte unterscheiden, die auch anders sein könnten, Wolken und Berge werden weggedacht, irgendwelche Horizontlinien werden konstruiert. Da sieht man doch, dass Tag und Nacht gar nicht wirklich existieren, sondern nur Konvention sind.
Außerdem ist dein Argument astronomistisch. In Wahrheit ist es ja noch komplizierter: Das Licht der Sonne wird von der Erdatmosphäre gebrochen. Wenn 50% der Sonne über dem gedachten Horizont zu stehen scheinen, dann liegt das auch an der Lichtbrechung, die verschiebt also den Zeitpunkt noch einmal. Das berücksichtigst du gar nicht, das
zeigt doch, dass du in Wahrheit auch von Astronomie nichts verstehst. Die Wissenschaft ist da viel weiter als du denkst.
Und von der Raumzeitkrümmung durch die Allgemeine Relativitätstheorie hast du auch gar nicht geredet, eine wirklich gerade Sichtline von der Erde zur Sonne gibt es in der gekrümmten Raumzeit doch gar nicht.
A: Aber der Unterschied betrifft doch nur einen winzigen Bruchteil des Tages.
S: Das ist egal. Die binäre Unterscheidung Tag-Nacht kann nicht gültig sein, wenn es einen Zeitpunkt gibt, von dem man nicht sagen kann, ob Tag oder Nacht ist. Und deshalb sage ich, dass morgen Mittag nun mal mitten in der Nacht liegt. Da komme ich bestimmt nicht.
Was sind Definitionen?
1. Dass wir über Definitionen von Begriffen diskutieren, zeigt, dass wir ein intuitives Verständnis der Begriffe haben, das wir in Worte zu fassen versuchen. (Denkt aus Augustinus’ Frage “Was also ist die Zeit?”) Wir bilden Begriffe, indem wir Dinge klassifizieren. Für einige Fälle ist die Zuordnung zu einer Klasse eindeutig, jede Definition muss dies abbilden. Diese Fälle bilden sozusagen den “Kern” des Begriffs. Der Übergang von Tag und Nacht ist fließend, aber einige Zeitpunkt sind (am jeweiligen Ort) eindeutig “am Tag”.
2. Für die meisten Begriffe haben wir diese Klassifikation an Beispielen gelernt, als man uns als Kindern gesagt hat “Das ist ein Baum”, ” das ist kein Baum” usw. Niemand hat uns eine verbale Definition der Begriffe gegeben, wir leiten die Definition aus den Beispielen ab. So tun es übrigens auch neuronale Netze, die ja auch durch Training hervorragend in der Lage sind, Dinge zu klassifizieren, ohne dass man aus dem Netz eine Definition extrahieren könnte. In diesem Sinne “gibt” es für Begriffe zunächst einmal gar keine Definition, die Definition ist genau etwas, das wir nachträglich hinzufügen, in dem Versuch, unser intuitives Verständnis in Worte zu fassen.
Das gilt übrigens selbst in der Mathematik: Wenn ihr mathematische Funktionen anguckt, seht ihr, dass es einige gibt, die Sprünge haben, andere, die das nicht tun. Ihr stellt fest, dass die Eigenschaft, keine Sprünge zu haben, für eine Funktion ziemlich wichtig ist (ihr könnt für solche Funktionen Dinge beweisen, die für Funktionen mit Sprüngen nicht gelten). Also gebt ihr dieser Eigenschaft einen Namen (“Stetigkeit”) und sucht ein mathematisch exaktes Kriterium dafür, um den Begriff eindeutig zu definieren. Mathematik ist kein simples Aneinanderreihen von “Definition-Satz-Beweis”, jeder Definition liegt immer ein intuitives Verständnis zu Grunde, dem ihr entnehmt, dass dies etwas ist, das sich zu definieren lohnt. “Stetig” ist ein nützlicher Begriff, weil ich für stetige Funktionen interessante Dinge beweisen kann
3. Dass unser Verständnis von Begriffen “intuitiv” ist, heißt nicht, dass es sich um ein bloßes Gedankenkonstrukt oder eine bloße Konvention handelt, das keine direkte Entsprechung in der Natur besitzt. Wir bilden die Begriffe ja nicht als Selbstzweck, sondern um uns das Agieren in und das Verständnis der Welt zu erleichtern. (So wie der Begriff “Stetigkeit”.) “Baum” ist ein sinnvoller Begriff, weil die Erkenntnis, dass etwas ein Baum ist, mir etwas darüber sagt, wie ich mit diesem Objekt interagieren kann. Wir können nicht jedes Objekt einzeln erfassen, das würde unser Gehirn überlasten. Wir brauchen Begriffe wie “Baum” oder “Haus”, um uns die Interaktion mit der Welt zu erleichtern – und die Tatsache, dass das klappt, sagt auch, dass diese Begriffe eben nicht nur gedankliche Konstruktionen sind. (Ein Begriff, der diesen Baum, jenes Haus, eine Handvoll Mäuse und einen Gummistiefel umfasst, wäre beispielsweise wenig nützlich.)
4. Es kann schwierig sein, Grenzfälle abzugrenzen. Einige Zeitpunkte sind schwer als “Tag” oder “Nacht” zu kategorisieren, das bedeutet aber nicht, dass das für alle Zeitpunkte schwierig ist. Es bedeutet auch nicht, dass ein Begriff beliebig definiert werden kann. Rot und blau sind unterschiedliche Farben, obwohl es violett gibt, 12 Uhr mittags ist (außer in der Polarnacht) am Tag, auch wenn es Zeitpunkt gibt, für die die Entscheidung “Tag” oder “Nacht” schwierig ist. Verbale Definitionen sollen oft genau dazu dienen, solche Grenzfälle zu erfassen, bei denen unser intuitives Verständnis versagt. Weil aber das intuitive Verständnis zuerst da war, kann man über Definitionen eben streiten.
5. Aus der Wissenschaft kennen wir Ähnliches als Unterschied zwischen hinreichender und notwendiger Bedingung. “Die Sonne steht am Himmel” ist eine hinreichende Bedingung dafür, dass Tag ist. Hinreichende Bedingungen sind typischerweise die, die den Kern eines Begriffs ausmachen. Notwendige Bedingungen sind die, die die Entscheidung auch für Grenzfälle ermöglichen sollen. Wenn zwei Begriffe wie “Tag” und “Nacht” jeweils eine große Menge an Elementen haben, die auf Basis der hinreichenden Bedingung klassifiziert werden können, dann sind es nützliche Begriffe. “Baum” und “Busch” sind ein Beispiel: Die Kirsche in meinem Garten ist eindeutig ein Baum, der Brombeerbusch ist es eindeutig nicht, aber im Grenzfall ist eine Unterscheidung zwischen Busch und Baum trotzdem schwierig.
6. Hinzu kommt der Unterschied zwischen der Definition und den diagnostischen Kriterien, die man ansetzt, um zu sehen, ob die Definition zutrifft. In der Biologie definiert man Tiergruppen heutzutage über ihre evolutionäre Abstammung, man braucht dann aber Merkmale, um bestimmte Tiere tatsächlich einzusortieren. Solche diagnostischen Merkmale können eindeutig sein (dann ist ihr Vorhandensein eine hinreichende Bedingung), ein Wirbeltier, das z.B. Fell hat und lebende Junge zur Welt bringt, ist ein Säugetier, aber die genaue Grenze, wo die Säugetiere aufhören und ihre Vorfahren anfangen, ist diagnostisch schwer zu ziehen. Pferde und Esel haben gemeinsame Vorfahren; wenn ihr in der Zeit zurückgeht, wird es immer schwieriger, die beiden Gruppen auseinanderzuhalten, selbst heute gibt es Maultiere und Maulesel, trotzdem ist ein Shirehorse eindeutig ein Pferd. Cuvier hat laut Anekdote den Teufel dank seiner Hufe und Hörner als ungefährlichen Pflanzenfresser klassifiziert.
7.Diagnostische Kriterien können auch wieder hinreichend sein, das heißt aber eben nicht, dass die Anwesenheit eines diagnostischen Kriteriums per Definition gefordert ist. Ein Auto erkennt ihr vielleicht daran, dass es Räder, einen Motor und eine Karosserie hat. Ihr werdet aber nicht panisch, wenn in der Werkstatt die Räder eures Autos abgeschraubt oder der Motor ausgebaut werden und ruft “Wo ist mein Auto?” Die begriffliche Definition von “Auto” erfordert, dass ein Auto ein Kraftfahrzeug ist; Räder und ein Motor sind diagnostische Kriterien. Ohne Räder oder Motor kann euer Auto nicht fahren, es hört aber trotzdem nicht auf, ein Auto zu sein.
8. Sind diagnostische Kriterien eines Begriffs für ein Objekt erfüllt, dann fällt dieses Objekt unter diesen Begriff. Das ist keine “Zuschreibung” des Begriffs, sondern eine Diagnose. Dass solche Diagnosen im Einzelfall auch falsch sein können, macht sie nicht generell wertlos. Ein diagnostisches Kriterium, das in 99% aller Fälle korrekte Vorhersagen macht, ist durchaus nützlich.
9. Nicht mal in der “exakten” Wissenschaft Physik sind Begriffe immer eindeutig oder leicht zu definieren. Ich habe das mit unterschiedlichen Beispielen hier diskutiert, ein anderes Beispiel ist die Definition der Kraft oder der Masse, und selbst der Begriff “gleich” im mathematischen Gleichheitszeichen kann unterschiedlich interpretiert werden. Am Beispiel der Dichte habe ich auch mal erklärt, warum es sinnvoll ist, physikalische Begriffe möglichst scharf und quantitativ zu fassen. Oder denkt an den Begriff “Planet” und die Frage, ob Pluto nun einer ist oder nicht. Kann man lange drüber streiten, aber egal, wie man den Begriff genau fasst, die Erde oder der Mars sind Planeten, (die Erde war es ursprünglich übrigens nicht, denn Planeten sind ja früher die “Wandelsterne” am Himmel gewesen) ein kleiner Felsbrocken von ein paar Hundert Metern Durchmesser im Asteroidengürtel ist es definitiv nicht, Pluto ist eben genau ein Grenzfall.
10. Wenn das schon in der Physik so ist, dann natürlich erst recht in anderen Naturwissenschaften. Die Frage “Was ist Leben?” ist nicht leicht zu beantworten. Leben Viren? Wenn ein Mensch stirbt, wann genau definieren wir ihn als tot? (Und wie man das definiert, hat ja auch Konsequenzen, die Frage ist also nicht nur akademisch.) Trotzdem ist ein Papagei, der krächzend durch einen Baum tobt, eindeutig lebendig, einer, der reglos kopfüber von einem Ast herunterhängt, ist dagegen tot. (Von uns gegangen. Ein Ex-Vogel.)
11. “Wissenschaftlich ist es kompliziert, diesen Begriff zu definieren” ist deshalb in vielen Fällen kein Argument. Für Einzelfälle mag es kompliziert sein, eine exakte Abgrenzung zu finden, das heißt aber nicht dass es auch für die Mehrheit aller Fälle so ist. Letztlich ist das eine Varianten des “Nirvana-Fehlschlusses”.
12. All das gilt natürlich noch mehr, wenn wir es mit Begriffen zu tun haben, die gesellschaftliche oder politische Relevanz haben. Die Tatsache, dass wir Gerichte brauchen, um Gesetze zu interpretieren und auf Einzelfälle anzuwenden, hängt genau damit zusammen: Wir können begrifflich in unseren Gesetzen nicht alles perfekt scharf fassen und es gibt deshalb immer einen Interpretationsspielraum.
Fazit
Dass ein Begriff nicht für alle Fälle perfekt definiert werden kann, heißt nicht, dass er wertlos oder beliebig ist. Es gilt, wenn ihr drüber nachdenkt, für praktisch alle Begriffe, die wir verwenden. Es gibt für jeden Begriff Grenzfälle, bei denen es problematisch ist, zu entscheiden, ob sie nun unter den Begriff fallen oder nicht, das bedeutet aber nicht, dass das für alle Fälle gilt.
Die Anwendung dieser Überlegungen auf diverse politische Debatten überlasse ich euch…
]]>Martin Bäker
Isaac oder Die Entdeckung der Raumzeit
Springer Verlag
ISBN: 978-3-662-57292-4
(Die Druckversion kommt übrigens inklusive Download-code für das e-book. Falls ihr das Buch auf der Springer-Seite direkt anschaut, wundert euch nicht, dass man die Kapitel auch einzeln kaufen kann und jedes Kapitel teurer ist als das ganze Buch, das liegt daran, dass man ein Templat für wissenschaftliche Artikelsammlungen verwendet hat…)
Außerdem kann ich diese Seite auch nutzen, um auf Fehler aufmerksam zu machen (sind bisher zum Glück nicht viele…) und andere Dinge dazu zu erzählen.
Zum Beispiel hier zwei
Geheimtipps
Wenn ihr also Fragen, Anmerkungen oder Kommentare habt oder Fehler findet, nutzt einfach die Kommentarspalte.
Fehler
Fehler? ich mache doch keine Fehler! (Ähh, leider doch, ist ja auch kein Wunder bei nem Buch von mehr als 500 Seiten…
Kap 17 S. 376
Da ist mir wirklich ein kapitaler Fehler unterlaufen. Es ist richtig, dass Gravitationswellen keinen Dipolcharakter haben, aber das heißt nicht, dass man zwingend komplizierte, sich umkreisende Massen braucht. Stürzt eine Masse auf eine andere (z.B. ein Meteorit auf die Erde), dann wird er dabei zunehmend beschleunigt und sendet (sehr schwache) Gravitationswellen aus. (Das kann man mathematisch einsehen, wenn man eine sogenannte Multipolentwicklung macht.) Tja, da habe ich mich von einer Erklärung im Buch von Misner, Thorne, Wheeler in die Irre führen lassen (meine Schuld, die Erklärung ist o.k. ich habe sie nur falsch interpretiert.)
Kap 19 S. 421
Bei der Erklärung der Ausdehnung des Universums habe ich behauptet, man könne die kosmische Rotverschiebung nicht mit dem Dopplereffekt erklären. Das steht zwar in vielen Büchern zu Relativitätstheorie, ist aber wohl so nicht korrekt. Markus Pössel hat das in diesem Artikel erklärt. Generell habe ich anscheinend den Fehler gemacht, anzunehmen, dass das Modell aus Abb. 19.6a, das die Expansion als Auseinanderfliegen von Materie beschreibt, wirklich falsch ist; man kann das Modell (wie ich ja auch selbst in Anmerkung 19.1 erkläre) durchaus verwenden (es berücksichtigt allerdings nicht zusätzliche Raumkrümmungen durch Materie) und es beschreibt die Rotverschiebung dann durchaus korrekt. (Das Ganze ist allerdings ziemlich subtil und ich gebe zu, dass ich nicht 100% sicher bin, dass ich die Feinheiten hier richtig verstehe.)
Falls ihr noch weitere Fehler entdeckt, Anmerkungen habt etc, kommentiert einfach drauf los.
PS: Wenn euch das Buch gefallen hat – mein nächstes Buch ist hoffentlich bald fertig, ich muss nur noch einen Verlag finden, der mutig genug ist, ein als Science-Fiction-Roman getarntes Sachbuch herauszubringen. Falls jemand von euch VerlegerIn ist, meldet euch gern…
PPS: Ach ja, apropos Buch gefallen: Nichts freut AutorInnen mehr als eine Bewertung mit vielen Sternen auf einschlägigen Internetseiten…
]]>for the discovery of the interplay of disorder and fluctuations in physical systems from atomic to planetary scales.
[für die Entdeckung des Wechselspiels zwischen Unordnung und Fluktuationen in physikalischen Systemen von der atomaren zur planetaren Längenskala. Übersetzung von mir]
Was Parisi gemacht hat, ist ziemlich kompliziert und nicht in zwei Minuten zu erklären (Wie Feynman mal gesagt hat “Wenn man es in zwei Minuten erklären könnte, wäre es keinen Nobelpreis wert.”) Ich versuche trotzdem, euch einen Einblick zu geben, der etwas mehr in die Tiefe geht, aber schnallt euch besser an, es wird ein ziemlicher Ritt durch alle möglichen Aspekte der Physik.
Die entscheidenden Arbeiten von Parisi stammen aus der Zeit von 1979 bis etwa 1986 (Parisi hat auch später viel zum Thema Unordnung gemacht und auch Systeme wie harte Kugeln etc. erforscht, aber die theoretischen Grundlagen stammen aus dieser Zeit). [Zur anderen Hälfte des Nobelpreis schreibe ich lieber nichts – mit Klimaforschung kenne ich mich nicht so gut aus und da wird ja jede klitzekleinste Ungenauigkeit gleich als Argument für “Klimawandel gibt es doch gar nicht” missbraucht.]
In den 60er und 70er Jahren merkten die Physikerinnen (Männer mitgemeint) zunehmend, dass Theorien, mit denen sie bisher zum Beispiel die Wechselwirkung von Atomen in Metallen beschrieben hatten, ein Problem hatten: Sie waren meist sehr idealisiert, betrachteten beispielsweise reine Metalle aus nur einer Atomsorte etc. Es wurde aber zunehmend klar, dass es sehr viele Phänomene in der Physik gab, die man damit nicht beschreiben konnte, sondern bei denen die Systeme ungeordnet waren – zum Beispiel Legierungen, in denen die Atome irgendwie im Kristallgitter verteilt waren. (Klar, dass es die gab, wusste man auch vorher schon, aber zu dieser Zeit fing man an, ernsthaft nach Theorien zu ungeordneten Systemen zu suchen, zum Teil auch, weil man endlich Computer hatte, mit denen man solche Systeme auch berechnen konnte, dazu später noch mehr. Und alles, was ich hier zur Historie schreibe, schreibe ich ohne ausführliche Studien und nach meiner Erinnerung – ich habe 1987 angefangen, Physik zu studieren, und habe später in einem eng verwandten Gebiet gearbeitet. Sollte ich irgendwo etwas Falsches schreiben, meckert aber bitte trotzdem in den Kommentaren.)
Man versuchte also, ungeordnete Systeme – und damit die reale Welt – besser zu verstehen. Wie Physikerinnen halt so sind, wandten sie also ihre Theorien sofort auf reale Systeme an [Lachtränen wegwisch…] Nein, taten sie natürlich nicht. Wie Physikerinnen halt so sind, suchten sie nach einem idealisierten, einfachen System, an dem man Unordnung in der Physik besser verstehen kann. Physikerinnen lieben Spielzeugmodelle.
Spingläser
Spingläser sind genau so ein Spielzeugmodell. In einem relativ frühen Paper zum Thema (Edwards/Anderson, 1975) ist zwar noch von Legierungen die Rede (Mangan in Kupfer wird als Beispiel herangezogen), aber relativ schnell konzentrierte man sich auf die Theorie und darauf, die Modelle zu verstehen, ohne sich viel Gedanken über die Anwendungen zu machen.
Spingläser sind nicht Gläser, die sich irgendwie drehen (“die spinnen, die Gläser…”), sondern sind (idealisierte) Systeme aus kleinen magnetischen Momenten. In der Schule habt ihr vermutlich mal in Physik etwas von “Elementarmagneten” gehört und dass Eisen zum Beispiel ganz viele davon enthält und wenn man ein Stück Eisen magnetisiert, dann orientieren sich all diese kleinen Magnete parallel zueinander und das Eisen wird magnetisch und bleibt es dann auch. Das ist gar kein schlechtes Modell und eine gute Vorstellung, so etwa kann das aussehen:
Bild aus meinem Buch “Funktionswerkstoffe”
Die lilafarbenen Pfeile sind die Elementarmagneten, die blauen Ringe sollen symbolisieren, dass man sich die so vorstellen kann, dass Elektronen auf einer Kreisbahn laufen und diese magnetischen Momente dadurch erzeugen.
Damit unser Eisen magnetisiert werden kann und das dann auch bleibt, muss es irgendetwas geben, das die Elementarmagnete daran hindert, sich wieder anders zu orientieren, wenn sie einmal ausgerichtet sind. In einem einfachen Modell kann man sich vorstellen, dass es einfach energetisch günstig ist, wenn benachbarte Elementarmagnete gleich gerichtet sind, und energetisch ungünstig, wenn sie es nicht sind. Dann ist ein Zustand, in dem alles magnetisiert ist, energetisch günstig.
Die Wahrheit ist deutlich komplizierter, aber die genaue Physik von Magneten ist aber gar nicht so wichtig, hier geht es ja nur darum, ein Modell für ein ungeordnetes System zu basteln. Im Modell bezeichnen wir die Elementarmagnete wie in der Quantenphysik üblich als “Spins”, und diese Spins haben also die Tendenz, sich alle gleich auszurichten, weil das energetisch günstig ist. Wir nehmen außerdem an, dass unsere Spins überhaupt nur in eine von zwei Richtungen zeigen können, entweder nach oben oder nach unten.(Das kann man aus der Quantenmechanik motivieren, aber wie gesagt, da kommt es heute gar nicht drauf an.)
Wir platzieren jetzt alle unsere Spins auf einem regelmäßigen Gitter (in zwei oder drei Dimensionen) – fertig ist unser Spielzeugmodell eines Ferromagneten (Ein Ferromagnet ist ein Material, das sich so wie Eisen magnetisieren lässt und die Magnetisierung dann auch beibehält):
Bereits dieses System ist ziemlich kompliziert – wenn man annimmt, dass nur direkt benachbarte Spins miteinander wechselwirken, hat man das sogenannte Ising-Modell, mit dem man viele Phänomene der Thermodynamik erklären kann, beispielsweise Phasenübergänge (in dem Artikel nehme ich das Ising-Modell, um Legierungen zu beschreiben, ist aber mathematisch dasselbe Modell) oder auch negative Temperaturen.
Wir haben jetzt also ein System aus kleinen Magneten – den Spins. Den “Spin”-Teil des Wortes “Spinglas” haben wir damit erklärt.
Das “Glas” kommt ins Spiel, weil Gläser quasi das Paradebeispiel für ein ungeordnetes System sind. Glas bekommt man ja (ich vereinfache mal wieder…), wenn man ein Material so schnell abkühlt, dass die einzelnen Atome nicht genügen Zeit haben, um sich energetisch günstig in einem Kristallgitter anzuordnen; hier am Beispiel von Siliziumoxid gezeigt (aus dem normales Fensterglas besteht)
Von Silica.jpg: Jdrewitt – Silica.jpg, Gemeinfrei, Link
Ihr seht, dass zwar jedes Sauerstoffatom zwei Bindungen hat und jedes Si-Atom drei (ist eine zweidimensionale Darstellung; in drei Dimensionen hat jedes Si-Atom vier Bindungen), dass aber die Struktur trotzdem nicht regelmäßig und kristallin ist; die Bindungswinkel sind alle nicht perfekt wie in einem Kristall, sondern etwas schief.
Das System ist also nicht in einem energetisch optimalen Zustand, aber um eine kristalline Anordnung zu bekommen, müssten sich viele Atome durch die Gegend bewegen, Bindungen müssten aufgebrochen und dann neu geknüpft werden. Das würde viel Energie kosten, und bei niedriger Temperatur steht diese Energie nicht zur Verfügung. (Bei hoher Temperatur sieht es anders aus, da schmilzt das Glas dann und kann durch langsames Abkühlen in einen energetisch günstigeren Zustand gelangen.). Das Glas ist in einem sogenannten “metastabilen” Zustand und in dem ist es quasi gefangen.
Um unser magnetisches System in ähnlicher Weise zu eine ungeordneten System zu machen, machen wir einfach folgendes: Wir nehmen nicht mehr an, dass alle Spins in unserem Magneten gleich ausgerichtet sein wollen, weil das energetisch günstig ist, sondern machen die Wechselwirkung zufällig: Für einige Spins ist es zum Beispiel energetisch günstig, sich parallel auszurichten, für andere ist es günstig, sich antiparallel auszurichten, also einer nach oben, einer nach unten.
Warum das zu einem komplizierten Verhalten führen kann, können wir schon mit drei Spins sehen. Nehmen wir an, wir haben drei Spins in einem Dreieck angeordnet und jedes von ihnen möchte antiparallel zu den beiden anderen sein:
Das erste lassen wir nach oben zeigen, das zweite nach unten, und das dritte dann …? Egal wie man es spint und wendet, man wird nie alle drei Spins so anordnen, dass jeder von ihnen zufrieden ist.Die drei Elektronen sind “frustriert” – man kann es nicht allen recht machen und einen perfekten Zustand einstellen, in dem alle Wechselwirkungen am günstigsten sind so wie vorher bei unserem einfachen Magneten, wo alle Spins gleichgerichtet sein wollten.
Auf einem Gitter sieht das dann etwa so aus:
Die Pfeile symbolisieren die Spins, die Plus- und Minuszeichen geben an, ob benachbarte Spins gleich oder lieber entgegengesetzt gerichtet sein wollen. Links oben haben wir ein Beispiel für Frustration: Wenn ihr die vier Spins links oben alle gleich ausrichtet, dann sind die beiden unteren von ihnen nicht zufrieden; dreht ihr einen um, ist eine andere Wechselwirkung nicht optimal. Ihr könnt ja mal selbst überlegen, wie die 24 Spins ausgerichtet sein müssen, um einen energetisch möglichst günstigen Zustand zu bekommen, dann merkt ihr, dass das gar nicht so einfach ist. [Es gab mal eine schöne Android-App namens Spin-The-Spin, wo man mit so einem System rumspielen konnte, aber anscheinend gibt es die nicht mehr; wirklich schade.]
Wir haben jetzt also ein Beispiel für ein System mit Unordnung. Es ist insofern etwas anders als ein normales Glas, als dass Glas ja einen eindeutigen energetisch günstigen Zustand hat (wenn es eben kein Glas ist, sondern ein Kristall), aber ansonsten ist es in gewisser Weise ähnlich – wie beim Glas, wo die Bindungen nie perfekt ausgerichtet sind, muss auch in unserem Spinglas ein Kompromiss gefunden werden; einige Wechselwirkungen sind zwangsläufig energetisch ungünstig.
Die Spingläser, die Parisi angeguckt hat, waren übrigens noch etwas komplizierter, weil dort Wechselwirkungen nicht nur auf nächste Nachbarn beschränkte waren – stattdessen konnten alle Spins miteinander wechselwirken, auch über größere Entfernungen hinweg (wobei die Stärke der Wechselwirkung dann aber abnahm das war falsch, die Reichweite ist da unendlich, danke schnablo) und jede einzelne Wechselwirkung war nicht einfach plus oder minus, sondern hatte eine Stärke. [Der Grund dafür ist, wenn ich es richtig verstehe, dass man dann für die Stärke der Wechselwirkung eine Gaußverteilung nehmen kann, die hat den Vorteil, dass beim Bilden von Integralen lauter Integrale über Gaußfunktionen vorkommen, was so ziemlich die einzigen Integrale sind, die Physikerinnen lösen können… ]
Grundzustand und Ordnungsparameter
So, jetzt haben wir es also geschafft, ein ungeordnetes System zu erzeugen. Das Ganze sollte aber ja dazu dienen, um solche Systeme besser verstehen zu können. Dabei ging es vor allem darum, wie sich solche Systeme mit der Temperatur verhalten.
Nehmen wir nochmal unser Modell eines Ferromagneten, das Ising-Modell. Am energetisch günstigsten ist es, wenn alle Spins gleichgerichtet sind (entweder nach oben oder nach unten), das ist klar und eindeutig (bis auf die oben-unten-Freiheit.) In diesem Zustand ist das System also magnetisiert. Bei hohen Temperaturen ändert sich das Bild aber – durch thermische Fluktuationen haben wir genügend Energie, um einzelne Spins auch in eine andere Richtung zeigen zu lassen. (Warum? Das erkläre ich ein wenig in dem Artikel über negative Temperaturen und in meiner Artikelserie über Phasenübergänge – klickt rechts bei Artikelserien, wenn ihr einen Grundkurs Thermodynamik haben wollt…) Bei sehr hohen Temperaturen ist das System dann nicht mehr magnetisiert; die Spins sind im wesentlichen zufällig verteilt. Unser System macht einen Phasenübergang von einem Zustand, in dem sich alle Spins bevorzugt gleich ausrichten, zu einem, bei dem es zwar vielleicht noch lokal begrenzt eine Gleichrichtung gibt, aber nicht mehr auf große Entfernungen.
So sieht das Ganze aus, die Temperatur nimmt von oben nach unten zu, die Farbe symbolisiert die Spins
Oben links haben wir im wesentlichen alle Spins in blau, mit einzelnen Inseln von gelb. Je höher die Temperatur wird, desto mehr Unordnung bekommen wir im System (das ist die gefürchtete Entropie, die ich auch in meiner Artikelserie erkläre (jetzt klickt endlich!!!$$$)). In den beiden oberen Bildern ist das System noch ferromagnetisch, unten links ist es genau am Übergang, unten rechts ist es dann nicht mehr ferromagnetisch.
Solche Phasenübergänge sind in der Physik sehr wichtig (siehe die gerade schon angepriesene Thermodynamik-Serie für Beispiele).
Wie können wir einem System ansehen, ob es gerade einen Phasenübergang macht? Bei unserem Ising-Modell ist das einfach – vor dem Phasenübergang haben wir, wenn wir über das ganze System alle Spins mitteln, einen positiven oder negativen Wert (je nachdem, ob wir mehr gelb oder mehr blau haben), hinterher nicht. Wir können auch das System eine längere Zeit verfolgen und zwei Spins angucken, die weit voneinander entfernt sind. In einem Ferromagneten werden beide Spins häufig gleichgerichtet sein (entweder beide rauf oder beide runter), wenn auch nicht immer, aber doch im Mittel. Wir haben also – vornehm gesprochen – eine “langreichweitige Korrelation”, was heißt: Wissen wir den einen Spin, haben wir eine bessere Chance als 50%, dass der andere gleichgerichtet ist.
Parameter wie die Magnetisierung und die Korrelation nennt man in der Thermodynamik “Ordnungsparameter”. Ein anderes Beispiel für so einen Ordnungsparameter ist die Dichte in einem Gas oder einer Flüssigkeit – die macht genau am Phasenübergang einen Sprung; in der Flüssigkeit sind die Moleküle alle dicht beieinander, im Gas dagegen ist ihr mittlerer Abstand viel größer.
Um ein System thermodynamisch zu verstehen, muss man also mindestens zwei Dinge darüber wissen:
Und genau mit diesen beiden Fragen hat sich Parisi in seinen Arbeiten über Spingläser beschäftigt.
Bei unserem Ising-Modell ist das mit dem Ordnungsparameter relativ einfach; in einem Spinglas sieht die Sache aber anders aus. Denn wenn benachbarte Spins mal parallel und mal entgegengesetzt ausgerichtet sein wollen (“wollen” = “haben niedrige Energie”, aber zum Glück schreibe ich hier ja nen lockeren Blogtext, kein Fachbuch…), dann wird das System als Ganzes natürlich im Mittel genau so viele Spins rauf wie runter haben. Trotzdem wird es bei niedriger Temperatur Zustände geben, in denen die Konfiguration der Spins (welche sind rauf, welche sind runter?) stabil ist, weil diese Konfiguration energetisch günstig ist.
Mittlere Magnetisierung und Korrelationen über eine lange Entfernung scheiden damit als Ordnungsparameter aus; die mittlere Magnetisierung ist im Spinglas immer Null, und ob zwei Spins über lange Entfernung nun eher parallel oder entgegengesetzt ausgerichtet sind, hängt selbst in einem energetisch günstigen Zustand in komplizierter Weise davon ab, wie die Wechselwirkungen im System verteilt sind.
Edwards und Anderson hatten bereits Ordnungsparameter gesucht; sie hatten als Parameter vorgeschlagen, einen einzelnen Spin über die Zeit zu verfolgen; wenn das System in einem energetisch günstigen, stabilen Zustand ist, dann sollte der Zustand jetzt mit dem Zustand in langer Zeit korreliert sein; das System hat sozusagen ein Gedächtnis. Der war aber auch nicht unproblematisch. Edwards und Anderson hatten auch vorgeschlagen, immer mehrere Kopien des Systems zu untersuchen (die sogenannte “replica Methode”); man stellt sich also vor, man hat mehrere Versionen des Spinglases, in denen alle Wechselwirkungen identisch sind, in denen die Spins selbst aber unterschiedlich sein können.
Die Originalpaper sind hier leider ziemlich dicht und nicht so ganz leicht zu verstehen; zum Teil liegt es auch daran, dass sie bei Physical Review Letters erschienen sind, wo man auf 4 Seiten beschränkt ist. Wenn ich die zum Teil etwas kryptischen Sätze darin aber richtig deute, dann wurden auch Computersimulationen gemacht, um Spingläser zu untersuchen (damals noch mit Lochkarten-Eingabe und so…). Bei solchen Computersimulationen betrachtet man ja immer nur ein Spinglas zur Zeit und man merkte sehr schnell folgendes: Auch wenn man die Wechselwirkungen innerhalb des Systems konstant lässt und mehrere Simulationen macht (bei denen man mit einem mathematischen Verfahren, das sich “Monte-Carlo-Simulation” nennt [und über das ich auch mal bloggen könnte…], ein solches System über die Zeit verfolgt, so wie oben bei den Bildern vom Ising-Modell), wenn man also simuliert dann merkt man, dass mehrere Simulationen nicht zum selben Grundzustand führen, sondern durchaus zu unterschiedlichen Zuständen.
Es war damals nicht klar, woran das lag – es könnte beispielsweise sein, dass die Verfahren es einfach nicht schaffen, den Grundzustand korrekt zu finden; in einem Spinglas gibt es sehr viele Zustände mit sehr ähnlicher Energie, die sich oft stark unterscheiden, und das System war vielleicht einfach in einem lokalen Maximum gefangen. So etwa kann man sich das veranschaulichen – wobei die horizontale Achse hier sämtliche Spinkonfigurationen enthält.
By Wilke 06:56, 18 Jul 2004 (UTC) – en: [1], Public Domain, Link
B ist der energetisch günstigste Punkt (im Bild oben, weil das aus nem Artikel über Evolution stammt), aber wenn wir Pech haben, landen wir bei A oder C und denken vielleicht, dass wir den Grundzustand gefunden haben.
Kurz, die Situation war verwirrend.
Parisi tat in seinen Arbeiten vor allem zwei Dinge, um das Chaos zu entwirren: Zum einen erkannte er, dass es in einem Spinglas so sein musste, dass es (wenn das Spinglas unendlich groß ist) nicht bloß einen Grundzustand geben sollte, sondern unendlich viele solcher Grundszustände, die alle dieselbe Energie haben. Das klärte schon eine Menge Probleme und war auch theoretisch ziemlich interessant; zum Beispiel ist die Entropie ja definiert über die Zahl aller Möglichkeiten, einen Zustand zu erreichen (erkläre ich in der bereits mehrfach wie altbackene Brötchen angepriesenen Thermodynamik-Serie); normalerweise gibt es nur einen Grundzustand und die Entropie ist in dem Zustand dann Null. In einem Spinglas gibt es dann aber viele Möglichkeiten für den Grundzustand, was auch einige Unstimmigkeiten bei dem Versuch erklärte, die Entropie von Spingläsern in der Thermodynamik zu berechnen.
Als zweites ersann Parisi einen neuen, cleveren Ordnungsparameter. Er nutze dazu die zwei Ideen von Edwards und Anderson und machte folgendes: Wir betrachten nicht bloß die Korrelation eines Pins mit sich selbst in einem System, sondern wir betrachten viele Kopien (replicas) unseres Systems und schauen, wie die Spins zwischen diesen Kopien korreliert sind. Damit ergab sich dann auf trickreiche Weise eine unendliche Vielzahl von Ordnungsparametern.
Falls ihr jetzt weitere Details wissen wollt, muss ich ehrlicherweise passen – die verstehe ich auch nicht zu 100%, sondern nur eher vage. Selbst der deutlich mathematischere “scientific background” zum Nobelpreis sagt hier lakonisch “The mathematics are beyond the scope of this venue.”
Spingläser überall
Na, gut, überall ist übertrieben, aber die Logik, die Parisi bei den Spingläsern verstanden hat, lässt sich auch in anderen Systemen wiederfinden. Ein Beispiel sind etwa Kugelpackungen (mit denen Parisi sich auch deutlich später intensiv beschäftigt hat). Stellt euch einen Haufen Kugeln vor, die alle unterschiedliche Durchmesser haben und die ihr möglichst platzsparend anordnen wollt. Das ist ein ähnliches Problem mit Unordnung (weil die Kugeldurchmesser eben zufällig variieren) und auch hier ist es schwierig, den Grundzustand zu finden (also die tatsächlich dichteste Packung). Dieses Problem hat auch direkte praktische Relevanz; zum Beispiel spielen die Radien der Atome bei sogenannten metallischen Gläsern eine große Rolle für die Anordnung (in metallischen Gläsern hat man Metallatome, die aber nicht kristallin angeordnet sind, sondern eben wie in einem Glas, so wie in dem Bild am Anfang des Artikels. Auch wenn ihr euch mit Partikeltechnik beschäftigt, habt ihr solche Probleme: Körner unterschiedlicher Größe werden geschüttet, und wen ihr zum Beispiel einen Silo baut, in dem Sand gelagert wird und der wird dann rausgeschüttet, dann wollt ihr vermeiden, dass der erste Lastwagen den feinen und der letzte den groben abbekommt, da soll alles durchmischt sein. (Soweit meine sehr laienhafte Erklärung zur Partikeltechnik; wenn ihr darüber mehr wissen wollt, fragt bei uns an der TU die Kolleginnen vom IPAT [Institut für Partikeltechnik]).
Die Spingläser haben auch eine Verbindung zur theoretischen Elementarteilchenphysik und damit auch zu meinem Promotionsthema. Da ging es um die Quantenfeldtheorie, genauer gesagt, um die Quantenchromodynamik, die die Wechselwirkungen zwischen Quarks in einem Proton oder Neutron beschreibt. Diese Theorie ist sehr kompliziert und um sie besser in den Griff zu bekommen, formuliert man sie gern in ganz spezieller Weise als sogenannte “Gittereichtheorie”. Zu dem Thema habe ich auch mal einen langen Blogartikel geschrieben, deshalb mache ich die Erklärung kurz, dieser Artikel ist eh schon extrem lang.
In der Gittersichtheorie beschreibt man Teilchen wie Quarks über Zahlen, die an den Knoten eines Gitters sitzen, und benachbarte Gitterplätze sind miteinander verbunden über eine Wechselwirkung, die die Gluonen beschreibt, die “Kraftteilchen” der starken Kernkraft. Im Grundzustand tragen (wegen der Quantenfluktuationen) sehr viele unterschiedliche Möglichkeiten für die Zahlenwerte der Quarks und Gluonen bei, die man in Computersimulationen zu erfassen versucht.
Ihr seht also schon, dass da formal eine große Ähnlichkeit mit den Spingläsern herrscht: Wir haben einen Grundzustand mit vielen Beiträgen, wir haben Größen auf einem Gitter, die durch andere Größen, die unterschiedliche Werte haben können, miteinander verbunden sind; weil viele Zustände beitragen, ist das Ganze ein ungeordnetes System. Kein Wunder also, dass Leute, die an diesem Thema gearbeitet haben, sich auch für das interessierten, was in anderem Zusammenhang bei den Spingläsern erforscht wurde.
Das war dann auch der Grund, warum mein Doktorvater zusammen mit zwei Kollegen einen Workshop zum Thema organisiert haben. (Na gut, ehrlicherweise war es ein Grund – der andere war, dass die beiden Kollegen aus Israel kamen, die drei sich gerade in Eilat am Roten Meer befanden und dachten, es wäre doch nett, an so einem schönen Ferienort mal ne Konferenz abzuhalten….) Das war 1995, kurz vor Ende meiner Promotion, als unsere gesamte Arbeitsgruppe nach Eilat verfrachtet wurde, wo sich eine sehr bunte Mischung aus Chaosforscherinnen, theoretischen Physikerinnen, Mathematikerinnen usw. traf. (War ein sehr cooler Workshop ohne Programm – am Abend, bevor es losging, trafen wir uns alle in einem Raum mit nem Whiteboard und entwarfen gemeinsam das Tagungsprogramm; während der Konferenz wurden dann noch spontan weitere Sitzungen organisiert, so habe ich auch mal was über Waveletes gelernt…)) Dabei war auch Parisi (an dessen Vortrag ich mich inhaltlich leider nur noch sehr vage erinnere) – und deswegen erzähle ich auch davon – es soll zeigen, wie eng diese Themen doch alle zusammenhängen.
Auch Computerwissenschaftlerinnen waren übrigens bei dem Workshop vertreten – durch die komplizierte Energielandschaft sind Spingläser auch ein schönes Spielzeugmodell, um Optimierungsalgorithmen zu testen; ähnliche Verfahren habe ich auch in meiner Promotion eingesetzt. Direkt aus der Spinglasforschung ist ein Verfahren hervorgegangen, das man “Simulated Annealing” nennt, und die Ideen haben auch Anwendungen bei der Theorie der neuronalen Netze – aber das erkläre ich jetzt nicht auch noch, sonst schreibe ich schon wieder ein Buch…
Fazit
Der (halbe) Nobelpreis für Parisi zeigt auch mal wieder sehr schön, wie wichtig Grundlagenforschung ist – was könnte theoretischer sein als ein Spinglas, ein System, das im wesentlichen wirklich nur ersonnen wurde, um als Spielzeugmodell zu dienen? Anderson schrieb zum Thema
“The history of spin glass may be the best example I know of the dictum that a real scientific mystery is worth pursuing to the ends of the Earth for its own sake, independently of any obvious practical importance or intellectual glamour.”
[Die Geschichte der Spingläser ist vermutlich das beste Beispiel, das ich kenne,, für die Aussage, dass ein echtes wissenschaftliches Rätsel es wert ist, bis ans Ende der Erde verfolgt zu werden, unabhängig von jeder offensichtlichen praktischen Anwendung oder intellektuellem Ruhm. Grobe Übersetzung durch mich]
Hätte man Parisi damals gefragt “Wozu ist das gut?”, hätte er vermutlich wenig direkte und klare Wege zur Anwendung zeigen können. “Wir versuchen, komplexe Systeme zu verstehen, und da es sehr viele komplexe Systeme gibt, gucken wir uns ein einfaches Modell an. Wenn wir es verstanden haben, denken wir nach, was wir damit anfangen können.” Viel mehr hätte er wohl kaum sagen können. Dass Ideen wie Ordnungsparameter und unendlich viele Grundzustände am Ende für Neuronale Netz, mathematische Optimierungsverfahren, Elementarteilchenpyhsik oder die Partikeltechnik wichtig sein würden, war damals wohl nicht abzusehen
Quellen
Hauptquelle war der Scietific background des Nobelpreiskommittees:
Scientific Background “For groundbreaking contributions to out understanding of complex physical systems” (pdf)
Im Detail habe ich in zwei Arbeiten von Parisi reingeschaut (dankenswerterweise frei verfügbar):
journals.aps.org/prl/abstract/1
journals.aps.org/prl/abstract/1
Das zitierte Paper von Edwards und Anderson ist:
Theory of spin glasses SF Edwards, PW Anderson – Journal of Physics F: Metal Physics, 1975
]]>Und Florian hat recht: Es ist ein tolles Buch, spannend, flüssig geschrieben, mit einem sehr kreativen Weltuntergangsszenario (und sich sowas auszudenken ist nicht leicht, weiß ich aus eigener Erfahrung, den ich habe gerade auch eins entworfen, warum erzähle ich irgendwann…), viel Wissenschaft und Technik und kreativer Problemlösung sowie einigen wirklich netten Überraschungen in der Handlung, also ganz klar eine absolute Leseempfehlung.
Allerdings gab es da ein paar Punkte, die wissenschaftlich nicht ganz zusammenpassten und die ich interessant genug finde, um ein wenig darüber zu schreiben. Um es nochmal klar zu sagen (weil Detailkritik an Büchern gern missverstanden wird, wie ich aus eigener Erfahrung hier im Blog gelernt habe): Es ist ein tolles Buch, wen ihr technische SF mögt, lest es, es ist viiieel besser als der Marsianer.
Alles, was jetzt kommt, setzt voraus, dass ihr das Buch gelesen habt. Habt ihr das nicht, lest nicht weiter, denn es folgen Spoiler.
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Spoiler-Space
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Astrophagen
Die Astrophagen speichern also Energie in Neutrinos, die entsteht, wenn Protonen miteinander mit hinreichend hoher Geschwindigkeit kollidieren.(Nebenbemerkung: Dass jemand weiß, wie kosmische Strahlung funktioniert, aber noch nie von Paarproduktion gehört hat, scheint mir sehr unwahrscheinlich – aber das war ja nur ein Plot-Trick, damit ein Erklär-Dialog eingebaut werden konnte.) Diese Geschwindigkeit erreichen sie, wenn man sie genügend stark aufheizt, und zwar auf 96,415 Grad Celsius, wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe (bin zu faul, nachzugucken), weil thermische Energie letztlich kinetische Energie ist und die Protonen bei dieser Temperatur die richtige Geschwindigkeit erreichen.
Tja, so funktioniert Temperatur leider nicht – Moleküle, Atome oder Protonen haben bei einer bestimmten Temperatur eine bestimmte mittlere Bewegungsenergie und damit eine mittlere Geschwindigkeit, aber es ist nicht so, dass es bei einer bestimmten Temperatur einen genau bestimmten Wert der Geschwindigkeit gibt. Auch bei niedrigeren Temperaturen werden einige der Protonen die richtige Geschwindigkeit haben, es sind da nur etwas weniger.
Wenn es also eine kritische Geschwindigkeit gibt, bei der die Reaktion beginnt, dann würde sie schon bei viel niedrigeren Temperaturen anfangen und dann immer stärker werden, so wie bei Wasser, das wir aufheizen, auch schon die ersten Moleküle abdampfen, bevor das Wasser kocht.
Was dann wieder halbwegs passt, ist, dass man die Astrophagen nicht auf eine höhere Temperatur bringen kann, denn dann wird überschüssige Energie einfach in Neutrinos gespeichert. Die Situation ist auch hier ein wenig wie bei einem offenen Kochtopf, wo die schnellsten Wassermoleküle immer in die Luft entkommen, so dass ihr im Wasser selbst keine 100 Grad erreicht – das kennt jeder, der schon mal einen Wasserkocher nicht richtig zugemacht macht und hinterher die ganze Küche trockenwischen durfte, weil überall der kondensierte Dampf von den Schränken läuft. So soll es wohl auch bei den Astrophagen sein: Alle Protonen, die zu schnell sind, produzieren Neutrinos und kühlen deshalb ab.
Was aber meiner Ansicht nach wieder nicht passt ist, dass es auch nicht möglich ist, die Astrophagen unter die kritische Temperatur abzukühlen – jedenfalls wurde das, wenn ich mich recht erinnere, nicht wirklich erklärt. Man kann spekulieren, dass sie irgendeinen Mechanismus haben, der dann die Neutrino-Energie wieder zurückwandelt, ohne sie als Photonen abzustrahlen, sondern sie wieder in Bewegungsenergie der Protonen überführt.
Mit etwas Fantasie kann man die Idee in meinen Augen übrigens retten. Wir können uns zum Beispiel vorstellen, dass die Protonen (die ja in irgendeiner Art von Membran sitzen sollen) dort eine regelmäßige Anordnung besitzen und so etwas wie einen Kristall bilden. Dann könnte es in diesem Kristall einen Phasenübergang geben, zum Beispiel, weil sich die Spins in gewisser Weise anordnen müssen, damit die Neutrino-Reaktion passiert; vielleicht dominiert bei niedrigen Temperaturen eine parallele Ausrichtung der Spins, bei höheren Temperaturen dann eine anti-parallele Ausrichtung, und die ermöglicht dann erst die Neutrino-Reaktion. Wenn wir dann noch eine passende Rückreaktion erlauben (vielleicht sind es ja auch die Neutrinos, die sich irgendwie kristallin anordnen; wie die im Astrophagen gespeichert werden, blieb ja auch ungeklärt), dann hätten wir gleich noch so etwas wie eine Schmelzwärme, die dann dafür sorgt, dass beim Abkühlen erst mal Neutrinoenergie wieder in die Protonen und damit ins Material zurückfließt. Dann bleiben wir trotz Energieentzug bei konstanter Temperatur, ähnlich wie beim Gefrieren von Wasser. Ich denke, mit etwas Mühe könnte man daraus ein halbwegs plausibles Szenario zusammenzimmern. [Vielleicht sollte ich mich als technischer Berater für SF-Filme bewerben?]
Ein anderer Aspekt der Astrophagen hat mir übrigens ein paar Minuten echtes Kopfzerbrechen gemacht: Wir können sie in heißes Wasser tauchen und speichern Energie, die wir dann als Photonen freisetzen, die wir dann z.B. als Antrieb nutzen können. Widerspricht das nicht dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, nachdem es nicht möglich ist, einfach einem Wärmebad Energie zu entziehen und diese vollständig in Wärme umzuwandeln? Wenn ihr wollt, könnt ihr selbst mal kurz überlegen, warum das nicht der Fall ist.
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Denkpause
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Antwort: Die Photonen werden ins All abgestrahlt, und das ist bei einer Temperatur von nur 3K. Wenn wir uns vorstellen, wir würden das Ganze in einem abgeschlossenen, verspiegelten Behälter machen, dann würde dieser von mehr und mehr Strahlung erfüllt werden, bis die Strahlung im Behälter dieselbe Energie enthält wie die Photonen im Antrieb. Unser Schiff wird dann von allen Seiten von Photonen getroffen und dann ist es vorbei mit dem Antrieb. Wir nutzen also tatsächlich die Kälte des Weltalls bei diesem Antrieb aus und mit dem 2. Hauptsatz ist alles o.k.
Der Planet Erid
Das zweite Thermodynamik-Problem, das ich sehe, hängt mit dem Planeten Erid zusammen. Wir erfahren, dass seine Atmosphäre für Strahlung praktisch vollkommen undurchsichtig ist; er wird zwar von der Sonne aufgeheizt, aber auf der Oberfläche kommt keine Strahlung an, weil die Atmosphäre so dicht ist.
Das ist ein Problem nicht für die Physik, aber für die Biologie. Auf dem Planeten muss es ja irgendeine Art von “Pflanzen” geben, also Primärproduzenten, die eine andere Energieform in chemische Energie umwandeln und dabei biologisches Material aufbauen, so wie es Erdpflanzen mit Licht tun, um Zucker zu produzieren. Auf der Erde ist das kein Problem – wir bekommen hochenergetische Photonen von der Sonne, die genau dazu genutzt werden können.
Wenn es aber keine Photonen mit hoher Energie gibt, woher nehmen wir dann die Energie, oder genauer gesagt, die Freie Energie? Jetzt haben wir nämlich wirklich eine Situation, bei der der 2. Hauptsatz der Thermodynamik zuschlägt: Die “Pflanzen” befinden sich in einem “Wärmebad” bei konstanter Temperatur, dem können sie nicht einfach so Energie entziehen und in chemische Energie umwandeln. (jede Reaktion, die durch Absorption von thermischen Photonen möglich ist, kann durch Stoßprozesse etc. mit der Umgebung auch passieren, und umgekehrt kann alles, was sich so bildet, wieder zerfallen. Der Trick bei der Photosynthese ist ja, dass wir ein Molekül mit hoher Bindungsenergie bauen, bei dem aber eine Energiebarriere überwunden werden muss, damit es wieder zerfallen kann. Diese Barriere kann maximal so hoch sein wie die Energie der Photonen, aber wenn das bloß thermische Photonen sind, dann kann die Barriere eben auch durch thermische Energie überwunden werden und das Molekül ist nicht stabil.)
Dazu wird im Buch schlicht nichts gesagt, was ein bisschen schade ist. Mit etwas Fantasie kann man sich schon etwas ausmalen, aber dazu hätte ich gern etwas gelesen: Wir wissen ja, dass das Leben auf Erid aus dem All kam. Es könnte also so sein, dass die ersten Primärproduzenten weit oben in der Atmosphäre existiert haben, vielleicht bevorzugt auf der Nachtseite (der Planet rotiert ja sehr schnell), wo sie die Wärmestrahlung des Planeten aufnehmen, während sie selbst in größerer Höhe von Kälte umgeben sind; sozusagen indirekte Photosynthese. Später bildeten sich dann Organismen, die gezielt in die Tiefe getaucht sind, um dort thermische Energie aufzunehmen, die sie dann weiter oben freisetzen. Daraus entwickelte sich dann eine Art Phytoplankton, das in einem ewigen Kreislauf durch die Atmosphäre saust. Erid hat ja eine sehr dichte Atmosphäre, so dass sich trotz der hohen Schwerkraft fliegende Lebewesen leicht bewegen können – es entstanden dann also größere fliegende Lebewesen und wir haben ein Ökosystem in der Luft ähnlich wie auf der Erde im Meer. Leben am Boden würde sich dann zunächst von herabsinkenden Resten aus der Atmosphäre ernähren (ähnlich wie in Teilen der Tiefsee oder z.B. am Waldboden). Später könnten dann komplexere Lebewesen entstehen, zum Beispiel solche, die am Boden sitzen und das “Plankton” aus der Atmosphäre herausfiltern.
Denaturierung
Ein weiteres kleines Problem sah ich erstmal in der hohen Temperatur der Astrophagen. Wenn die Astrophagen immer eine konstante Oberflächentemperatur von 96 Grad haben, dann ist es auch in ihrem Inneren 96 Grad heiß. Die meisten Proteine zersetzen sich bei solchen Temperaturen (wie man vom Eierkochen weiß) – aber immerhin gibt es auf der Erde Extremophile, die Temperaturen von 100 Grad und mehr aushalten können. Das ist also nicht vollkommen unplausibel
Bei den Eridianern ist es noch extremer, die leben ja bei Temperaturen von 200 Grad und mehr. Ob da extremophile Anpassungen noch möglich sind, scheint mir fraglich (vielleicht habe ich da auch was überlesen und es wurde detaillierter erklärt) – und spätestens als Rocky sich regeneriert hat und alle seine Kühlöffnungen für Tage verstopft waren, erreichte das Innere seines Körpers sicherlich eine einheitliche Temperatur und jede Form von Kühlung entfällt.
Aber vor 50 Jahren oder so hätte vermutlich auch niemand gedacht, dass es bakterien geben kann, die 100 Grad aushalten können, von daher ist der Einwand nicht so ernstzunehmen.
Ungeklärte Fragen
Zwei Dinge sind mir entgangen, vielleicht hat jemand von euch besser aufgepasst:
Wurde irgendwann erklärt, warum die Astrophagen perfekte Lichtabsorber waren, auch für die sehr langen Wellenlängen? Das scheint mir aus der Protonenreaktion nicht direkt zu folgen und ich erinnere mich nur an sehr halbherzige Erklärungsansätze.
Und das zweite, was ich nicht verstanden habe, ist die interstellare Evolution: Erde und Erid wurden also von Organismen besiedelt, die von Tau Ceti stammten, und zwar vor so knapp 4 Milliarden Jahren. Aber welche Organismen waren das? Es waren ja sicher nicht die Astrophagen, denn deren Evolution ist ja neu und sie sind erst vor kurzem von tau Ceti ausgewandert und haben die Erde erreicht. War es eine Art Vorstufe der Astrophagen, die keine Protonenreaktion benutzen, sondern etwas anderes? Waren es Lebewesen des Tau-Ceti-Planeten, die aus der Atmosphäre kamen?
Zum Abschluss nochmal ganz klar: Das hier ist Detailkritik an Kleinigkeiten – das Buch ist trotzdem hervorragend. (Aber es hätte vielleicht noch einen Tick besser sein können…)
]]>In der Quantenmechanik sieht die Sache aber anders aus: Dort haben Objekte (wenn wir sie nicht gerade “messen”, dazu komme ich noch) eine Wahrscheinlichkeit, dafür, an einem bestimmten Ort zu sein, aber auch nicht mehr. Nehmen wir mal wieder das berühmte und klassische Experiment der Quantenmechanik, den Doppelspalt-Versuch: Wir schießen einzelne Elektronen auf zwei schmale, eng beieinander liegende Spalte, dann bekommen wir dahinter nach einer Weile ein Muster aus hellen und dunklen Streifen:
(Bild gemeinfrei, modifiziert von Wikipedia.)
Jedes einzelne Elektron trifft auf den Schirm und kann dort gemessen (detektiert) werden. Man kann das Muster dadurch erklären, dass das Elektron eine Wahrscheinlichkeit dafür hat, durch den einen oder anderen Spalt zu laufen und dass diese beiden Möglichkeiten hinter dem Doppelspalt miteinander wechselwirken, so dass sich einige Möglichkeiten auslöschen, andere verstärken. (Ich erkläre das hier sehr verkürzt; mehr dazu findet ihr in diesem Artikel oder auch hier.)
Man sagt auch, dass sich das Elektron in einem Überlagerungszustand befindet. Praktischerweise habe ich Überlagerungszustände in einem meiner letzten Blogartikel erklärt (der schon sehr lange her ist – leider komme ich im Moment kaum zum Bloggen, zu viele andere Dinge und Hobbies interferieren da, und irgendwie sind es die Blogartikel, die da immer das Minimum der Wahrscheinlichkeit erwischen…)
Elektronen können also in einem Überlagerungszustand sein, beispielsweise einer Überlagerung aus “Elektron geht durch den oberen Spalt” und “Elektron geht durch den unteren Spalt”, und dass es solche Überlagerungszustände gibt, können wir nachweisen, indem wir Interferenzexperimente machen.
Jetzt könnte man sagen “Ja, o.k., das sind halt Elektronen, die genügen den seltsamen Regeln der Quantenmechanik (kurz QM), die gelten halt für klassische Objekte wie Stifte einfach nicht.” Fragt sich nur: Warum nicht? Denn auch der Stift besteht ja aus Elektronen (und Quarks und Gluonen in den Atomkernen), die den Regeln der QM genügen. Was sorgt also dafür, dass Stifte trotzdem nie in einer Überlagerung aus “hier” und “da” sein können?
Es kann nicht einfach so sein, dass die Regeln der QM irgendwann “aufhören” – beispielsweise, wenn Objekte zu groß oder zu schwer werden, denn es gibt makroskopisch direkt beobachtbare Quantenphänomene. In einem Supraleiter beispielsweise sind sehr viele Elektronen alle im selben Zustand und verhalten sich wie ein großes Quantenobjekt; in einem Laserstrahl haben wir eine komplexe Überlagerung von Zuständen mit unterschiedlich vielen Photonen (Ein bisschen habe ich das hier erklärt.) Und inzwischen schafft man es, auch an ziemlich großen Objekten die Überlagerung durch Interferenzen nachzuweisen, beispielsweise an Molekülen.
Ein weiterer Grund, warum die QM nicht einfach irgendwann “aufhören” kann zu gelten, wenn wir zu großen Objekten übergehen, ist der, dass die klassische Physik ja eine Konsequenz der QM sein sollte – die QM ist eine grundlegendere Theorie, die die klassische Physik umfasst. Da ist es doch zumindest seltsam, dass Quanteneffekte so empfindlich sein sollen, dass sie quasi sofort verschwinden, sobald man etwas größere Objekte anguckt.
Guckt man genauer hin, sind es eigentlich zwei leicht unterschiedliche Fragen, die wir hier stellen:
Und eng damit verwandt ist das größte offene Rätsel der QM, dass Messproblem:
3. Was passiert bei einer Messung? Wie (und warum) wird aus “Wahrscheinlichkeit” “Gewissheit”?
Die ersten beiden Fragen können (weitgehend) durch ein physikalisches Phänomen erklärt werden, dass man erst seit den 70er und 80er Jahren (des 20. Jh) so richtig untersucht, die so genannte “Dekohärenz”. Einige Leute behaupten auch, dass die Dekohärenz die 3. Frage beantwortet und das Messproblem löst, aber das ist [meiner Ansicht nach] falsch.
Was “Dekohärenz” ist? Das schauen wir uns jetzt ausführlich an. (Hinweis: Das meiste, was ich hier schreibe, habe ich aus dem Artikel von Schlosshauer, s.u., auch das Buch “Beyond Weird” ist sehr zu empfehlen, es ist allerdings an einigen Stellen etwas schwammig. Ich empfehle auch unbedingt, bei Sabine Hossenfelders backreaction-Blog vorbeizuschauen, sie erklärt das Ganze etwas anders, aber auch sehr klar.)
Interferenzen
Schauen wir noch einmal auf das Elektron am Doppelspalt: Es kann beide Wege gehen, befindet sich also hinter dem Doppelspalt in einer Überlagerung aus beiden Möglichkeiten, und diese Überlagerung führt zur Interferenz. Bezeichnen wir die beiden Möglichkeiten – wie in der QM üblich – mit Zuständen, die wir in seltsame Klammern einschließen:
|oben> für den Zustand, wo das Elektron durch den oberen Spalt geht und
|unten> für den Weg durch den unteren Spalt.
Das Elektron ist jetzt – da es für beide Spalte dieselbe Wahrscheinlichkeit hat, im Zustand
|oben> + |unten>
(wobei ich mir eigentlich notwendige mathematische Normierungsfaktoren spare. Wer’s genau wissen will, kann bei den Artikelserien klicken und meine Serie “Quantenmechanik verstehen” lesen.)
Die Regeln der QM (In der QM-verstehen-Serie detailliert erklärt) sagen uns jetzt, dass wir, um die Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, diesen Ausdruck mit sich selbst multiplizieren müssen. Irgendwann in der Schule habt ihr mal die binomischen Formeln gelernt: (a+b)²=a² + 2ab + b².
Das geht hier genauso, nur dass man (aus Gründen…) statt (|oben>)² was anderes schreibt, nämlich <oben|oben>. Dann bekommen wir also (mit ziemlich viel mathematischer Schlampigkeit, weil ich auch eigentlich das Betragsquadrat für komplexe Zahlen nehmen müsste und so, aber darauf kommt es hier zum Glück nicht an):
<oben | oben> + 2 <oben | unten> + <unten | unten>
Wie kann man diese Formel interpretieren? Sie gibt die Wahrscheinlichkeit an, dass ein bestimmter Punkt auf dem Schirm vom Elektron getroffen wird. An den Punkten, die man nur auf dem Weg über den oberen (oder den unteren) Spalt erreichen kann (wenn es solche gibt) ist nur der erste (oder letzte) Term ungleich Null und man merkt von dem jeweils anderen Spalt nichts.
Anders sieht es an den Punkten aus, die auf beiden Wegen erreicht werden können: Dort gibt es drei Terme, der erste entspricht dem, was man auch in der klassischen Physik erwarten würde, wenn das Teilchen den oberen Weg geht, der dritte dem klassischen Ergebnis für den unteren Weg. Das Gesamtergebnis ist aber nicht einfach die Summe aus diesen beiden, denn es gibt ja auch noch den Term in der Mitte: Wir sehen, dass wir einen Ausdruck haben, in dem die Zustände oben und unten gemischt auftreten, und genau der ist für die Interferenz verantwortlich. Interferenz gibt es also genau an den Punkten auf dem Schirm, die von einem Elektron auf beiden Wegen erreicht werden können.
(Ich spare mir hier sehr viele Details, weil es heute auf die nicht so ankommt; wer es genauer wissen will, kann die oben verlinkten Artikel lesen oder einen Blick in die Feynman Lectures riskieren; Feynman erklärt das sehr ausführlich, allerdings mit ein wenig mehr Mathematik.)
Wir können das Interferenzmuster aber zerstören, wenn wir das Elektron beobachten. Wenn wir beispielsweise einen der beiden Spalte mit einem Laser bestrahlen, dann wechselwirken die Photonen mit dem Elektron, wenn es durch diesen Spalt geht, aber nicht, wenn es durch den anderen Spalt geht. Wir können uns (nicht super-realistisch, aber konzeptionell einfach) beispielsweise vorstellen, dass das Elektron ein Photon ablenkt und es zur Seite ablenkt, so dass es in einen Detektor fliegt.
Wir müssen jetzt die Photonen mit in das Spiel mit einbeziehen. Nehmen wir an, der Laser bestrahlt den oberen Spalt. Ich nenne den Zustand, wo die Photonen nicht durch das Elektron beeinflusst werden (weil das Elektron den unteren Weg genommen hat)
|p ungestört>
und den, wo das Elektron von den Photonen getroffen wird und eins der Photonen deshalb am Elektron gestreut wird
|p gestört>.
Wir haben jetzt hinter dem Spalt den Zustand
|oben> |p gestört> + |unten> |p ungestört>.
Nach der gleichen Logik wie eben müssen wir jetzt wieder das Quadrat dieses Ausdrucks bilden, um zu sehen, ob es Interferenzeffekte gibt. Wir bekommen damit
<oben | oben> <p gestört | p gestört> + 2 <oben | unten> <p gestört | p ungestört> + <unten | unten> <p ungestört | p ungestört>
Der erste und der dritte Term entsprechen dabei dem, was wir auch in der klassischen Physik hätten – der erste steht für den Fall, dass das Elektron den oberen Weg geht und die Photonen stört, der letzte für den Fall, dass das Elektron den unteren Weg geht und die Photonen nicht stört.
In der Mitte haben wir jetzt wie vorher <oben | unten> , zusätzlich aber multipliziert mit <p gestört | p ungestört>. Und dieser zweite Ausdruck ist gleich Null.Warum? Er entspricht der Interferenz zwischen dem gestörten und dem ungestörten Laserstrahl. Da wir aber im gestörten Laserstrahl ein Photon in eine ganz andere Richtung abgelenkt haben, können diese beiden Möglichkeiten gar nicht interferieren. (Mathematisch genauer: Da wir das nicht beobachten, müssen wir hier über die beiden Zustände komplett integrieren, und solange sie orthogonal sind, ist das Ergebnis Null.)
Häufig wird das anders ausgedrückt: Durch die Wechselwirkung mit dem Photon haben wir jetzt eine “Welcher-Weg-Information”, das heißt, wir wissen (oder können es zumindest prinzipiell wissen), welchen Weg das Elektron gegangen ist, dazu müssen wir ja nur schauen, ob ein Photon gestreut wurde oder nicht. Die Zustände |p gestört> und |p ungestört> sind direkt und eindeutig unterscheidbar, damit wissen wir, welchen Weg das Elektron gegangen ist. Dabei ist es übrigens nicht entscheidend, ob wir tatsächlich hingucken oder nicht – wenn das gestreute Photon auf eine Wand fällt und da absorbiert wird, ist das auch in Ordnung, denn prinzipiell könnten wir ja sehen, dass die Wand Energie vom Photon bekommen hat.
Falls ihr jetzt überlegt “Aber Moment mal, Photonen sind doch auch Quantenobjekte, könnte ich die beiden Photonen nicht mit ein paar geeigneten Spiegeln wieder zusammenführen, so dass sie doch miteinander interferieren könnten?”, dann habt ihr recht. Das kann man tun, und sobald ihr das so tut, dass der resultierende Zustand für die beiden Photonen nicht mehr eindeutig erkennen lässt, welchen Weg die Photonen genommen haben, ist das Interferenzmuster auch wieder da. Das wird später noch wichtig werden, aber auf die Details, wie man das genau macht (und wie alles logisch konsistent bleibt, wenn man die Photonen vielleicht erstmal irgendwo speichert und erst später entscheidet, ob man sie interferieren lässt oder nicht) gehe ich hier nicht ein. Wer dazu mehr wissen will, dem empfehle ich das Buch “Einsteins Schleier” von Zeilinger, der beschreibt einen ganzen Haufen sehr abgefahrener Quantenexperimente, die genau solche Tricks ausnutzen. Oder ihr googelt mal nach “Quantenradierer”.
Und falls ihr gerade überlegt, dass die beiden möglichen Zustände für das Photon (gestreut oder nicht gestreut) ja vielleicht nicht perfekt unterscheidbar sein könnten (vielleicht nehmen wir ein Photon, das nur ganz wenig gestreut wird) – ja, dann bekommt ihr ein teilweises Interferenzmuster. So was nennt man dann eine “schwache Messung”, aber darauf gehe ich heute nicht weiter ein. (Ein bisschen was dazu steht aber in diesem Artikel.)
Dekohärenz
Falls euch das eben zu detailliert war, hier die gute Nachricht: Entscheidend an dem Beispiel mit der Interferenz ist nur eins: Sobald euer Objekt, dessen Interferenz ihr beobachten wollt, mit anderen Objekten wechselwirkt, könnt ihr die Interferenz nicht mehr beobachten, weil der Zustand eures Objekts jetzt mit dem der anderen Objekte verknüpft ist. Diese “Verknüpfung” ist übrigens nichts anderes als ein Beispiel für die berühmte quantenmechanische Verschränkung. Durch den Laser habt ihr den Zustand eures Elektrons mit dem der Photonen verschränkt, und damit könnt ihr jetzt nicht mehr ohne Weiteres Interferenzen des Elektronzustands beobachten, weil dazu auch die verschränkten Teilchen passend interferieren müssten. (Ein wichtiges paper zum Thema hat deshalb auch den Titel “Destruction of interference by entanglement”.)
Und jetzt kommen wir endlich zur Dekohärenz. Stellt euch ein makroskopisches Objekt vor, an dem ihr ein Interferenzexperiment machen wollt; vielleicht so etwas wie einen Ball. Nehmt an, der Ball wäre in einem Überlagerungszustand aus zwei Positionen, hier und da. (So wie die beiden Wege oben und unten durch den Spalt.) Der Ball ist groß, er wird ständig von Luftmolekülen getroffen, absorbiert Photonen und wechselwirkt damit auf verschiedenste Weise mit jeder Menge anderer Teilchen. Diese Wechselwirkung ist “hier” anders als “da”, weil die Luftmoleküle eben “hier” auf den Ball treffen und abgelenkt werden, wenn er “hier” ist, und “da”, wenn er “da” ist.
Es passiert jetzt genau dasselbe wie bei unserem Elektron: Um eine Interferenz der beiden Zustände des Balls zu bekommen, müssten auch die Zustände all dieser Luftmoleküle, Photonen und so weiter miteinander interferieren können, und das ist bei der Vielzahl an Wechselwirkungen natürlich vollkommen unmöglich.
Weil der Ball mit der Umwelt wechselwirkt und sein Zustand dabei mit allen möglichen anderen Teilchen verschränkt wird, ist eine Interferenz nicht mehr möglich. Zustände, die interferieren können, nennt man manchmal auch “kohärent”, und diese “Kohärenz” geht verloren. Deshalb heißt das Ganze “Dekohärenz”.
Das klärt also unsere erste Frage von oben: Makroskopische Objekte können keine Interferenz zeigen, weil sie immer mit der Umgebung wechselwirken und dadurch mit ihr verschränkt werden. Deshalb muss man bei Experimenten, die Interferenz an Molekülen zeigen sollen (siehe oben) auch sicherstellen, dass es möglichst wenig Störeinflüsse aus der Umgebung gibt, ansonsten funktioniert es nicht. Wie groß ein Objekt maximal sein kann, um noch Interferenz zu zeigen, hängt damit davon ab, wie gut ihr das Objekt von allen Störeinflüssen isolieren könnt.
Diese Überlegung beantwortet auch noch eine weitere Frage, die ich oben aufgeworfen habe: Wieso verschwinden Quanteneffekte bei makroskopischen Objekten sofort? Sie tun das gar nicht wirklich, im Gegenteil: Der Quantenzustands eures makroskopischen Objekts wird mit allen möglichen anderen Objekten quantenmechanisch verschränkt, die Quantennatur verschwindet also nicht, im Gegenteil, sie breitet sich über die gesamte Umgebung aus. Diese Ausbreitung verhindert aber, dass ihr an dem Objekt selbst noch Interferenzphänomene beobachten könnt (alle gemischten Terme wie <oben|unten> werden mit unglaublich vielen weiteren Termen multipliziert, die alle praktisch Null sind), weil ihr dazu die gesamte Umgebung mit einbeziehen müsstet. Um mich mal selbst zu zitieren:
“Alle diese Verschränkungen werden verloren sein, wie Tränen im Regen….”.
Klassische Zustände
O.k., makroskopische Objekte können also keine Interferenzerscheinungen zeigen, weil sie sich durch Wechselwirkung mit der Umgebung verschränken. Das erklärt, warum wir an makroskopischen Objekten nur selten Quanteffekte direkt beobachten können. (Was nicht heißen soll, dass Quanteneffekte im Alltag nicht wichtig wären, siehe z.B. hier, hier und hier.)
Es erklärt aber nicht, warum die Zustände, die wir beobachten, typischerweise Zustände sind, bei denen sich Objekte an einem bestimmten Ort befinden, und nicht Überlagerungszustände aus zwei Unterschiedlichen Positionen. Rein aus Sicht der Quantenmechanik zeichnet Ortszustände nichts aus gegenüber anderen Zuständen, |hier> oder |da> sind genau so gute und legale Zustände wie |hier>+|da> (oder sogar |hier>-|da>), wie ich auch in meinem Überlagerungsartikel schon erklärt habe.
Auch hier ist die Dekohärenz verantwortlich. Zustände, die wir an einem makroskopischen Objekt beobachten, sind stabil, das heißt, sie sollten sich durch Wechselwirkung mit der Umwelt nicht (stark) ändern. Nehmen wir an, wir fangen mit einem Quantenzustand an, der eine Überlagerung aus zwei Ortszuständen ist. (Man spricht gern von “pointer states”, also “Zeigerzuständen”, weil man sich vorstellt, man hätte einen Zeiger, der uns Auskunft über einen Quantenzustand geben soll.) Am Anfang kann der Zustand noch mit sich selbst interferieren, aber dann kommen, wie oben erklärt, die Wechselwirkungen ins Spiel, die diese Möglichkeit der Interferenz zerstören.
Man kann sich jetzt fragen: “Was wird dann durch diese Vielzahl an Wechselwirkungen aus dem anfänglichen Überlagerungszustand?” Die Wechselwirkungen mit den vielen Gasatomen sind, wie erklärt, für die beiden Zustände unterschiedlich und sorgen für eine komplizierte Verschränkung mit der Umwelt. Der Zustand verändert sich dadurch immer weiter.
Erreichen wir irgendwann einen stabilen Punkt, wo sich der Zustand nicht mehr nennenswert ändert? Ja, das tun wir. Die Wechselwirkungen mit der Umwelt hängen vom Ort ab (weil Atome um so stärker wechselwirken, je näher sie sich kommen; weit entfernte Atome merken nicht viel voneinander.) Damit die Wechselwirkungen unserem Zustand nicht mehr viel anhaben können, muss dieser Zustand genau so sein, dass die vielen weiteren Wechselwirkungen sich sozusagen herausmitteln.
(Hinweis für die Fortgeschrittenen: Mathematisch lässt sich das relativ leicht und weniger schwammig erklären: Der Zustand kann trotz Wechselwirkungen mit der Umwelt nur stabil sein, wenn der zugehörige Projektionsoperator zu diesem Zustand mit dem Hamilton-Operator für die Wechselwirkung mit der Umwelt kommutiert. Da diese Wechselwirkungen vom Ort abhängen, kommutiert der Hamilton-Operator der Wechselwirkung mit der Ortsraum-Basis, also sind das auch die passenden Zeigerzustände. Schlosshauer erklärt das genau auf diese Weise.)
Noch mal etwas konkreter: Wir fangen mit einem Überlagerungszustand an, beispielsweise
|hier> + |da>
Die vielen Stöße mit der Umwelt führen dazu, dass dieser Zustand sich mit der Umwelt verschränkt und nicht mehr interferieren kann. Der |hier>-Zustand und der |da>-Zustand sind jetzt jeweils mit dem Zustand der Umwelt verschränkt, und die jeweiligen Zustände der Umwelt unterscheiden sich deutlich voneinander. Genau das zeichnet die Ortszustände aus – sie sind die Zustände, bei denen sich die Verschränkungen mit der Umwelt deutlich unterscheiden, bei Zuständen wie
|hier> + |da> oder |hier> – |da>
ist genau das nicht der Fall.
Die bevorzugten Zustände, die wir beobachten, sind also die, bei denen die Zustände der Umwelt sich unterscheiden, und das sind im wesentlichen Ortszustände, weil Gasatome entweder hier oder da auf unseren Zeiger treffen.
Wahrscheinlichkeiten
Weil es so viele Stöße mit der Umwelt gibt und diese Stöße keiner Regel folgen (Gasmoleküle purzeln ja chaotisch durch die Gegend), sind die Verschränkungen mit der Umwelt ziemlich chaotisch. Natürlich haben wir keine Chance, diese ganzen chaotischen Zustände im einzelnen nachzuverfolgen. Können wir trotzdem Aussagen über den Zustand machen?
Ja, das können wir. Dazu muss man sich erinnern, dass wir in der Quantenmechanik ja eigentlich nur von Wahrscheinlichkeiten (oder genauer “Wahrscheinlichkeitsamplituden”) reden können. Hier gibt es jetzt eine relativ einfache Regel: Wenn wir einen verschränkten Zustand haben, bei dem wir nur einen Teil beobachten können, dann müssen wir über alles, was wir nicht beobachten, mitteln. (Mathematisch kann man das mit der sogenannten Dichtematrix einsehen, das erklärt Sabine Hossenfelder im oben verlinkten Artikel perfekt.)
Wir fangen also an mit dem Zustand
|hier> + |da>
Dieser verschränkt sich jetzt (durch die Stöße mit Gasatomen, Wechselwirkung mit Photonen und so weiter) mit der Umwelt, ich schreibe das mal so
|hier> |Gasmoleküle stoßen hier> +
|da> |Gasmoleküle stoßen da>
Um jetzt die Wahrscheinlichkeiten der beiden Zustände |hier> und |da> zu sehen, können wir die Logik anwenden, die wir schon beim Doppelspalt gesehen haben. Die Zustände |Gasmoleküle stoßen hier> und |Gasmoleküle stoßen da> können aber nicht miteinander interferieren (genau wie beim Doppelspalt die beiden Zustände der Photonen), so dass wir keine gemischten Terme bekommen. Wir können das (mathematisch nicht so ganz korrekt, sondern eher symbolisch zu verstehen) so schreiben:
<hier|hier> <Gasmoleküle stoßen hier|Gasmoleküle stoßen hier> + <da|da> <Gasmoleküle stoßen da|Gasmoleküle stoßen da>
Weil wir den Zustand der Gasmoleküle aber ja nicht beobachten, müssen wir über alle Möglichkeiten für diese Zustände mitteln; dabei kommt für beide Möglichkeiten |hier> und |da> dasselbe heraus.
Am Ende landen wir deshalb bei einer Situation, die wir so schreiben können:
<hier|hier> + <da|da>,
weil die ganze Mittelung über die Gasatome für beide gleich ist (und irgendwelche konstanten Faktoren ignoriere ich hier ja ohnehin).
Wir können das interpretieren als einen ganz klassischen Zustand, der eine Wahrscheinlichkeit von 50% für |hier> hat und von |50%> für da – welcher der beiden Fälle eintritt, wissen wir nicht, aber Zufälle sind in der QM ja nichts besonderes.
Ist das Messproblem gelöst?
Auf den ersten Blick sieht es jetzt so aus, als hätten wir damit den heiligen Gral der QM gefunden – aus einem anfänglichen quantenmechanischen Überlagerungszustand ist etwas geworden, das rein klassische Wahrscheinlichkeiten hat, die nur darauf beruhen, dass wir nicht alles über unser System wissen. Haben wir damit das Messproblem gelöst?
Klare Antwort: Nein. (Ja, es gibt Leute, die das anders sehen, aber ich lehne mich jetzt mal weit aus dem Fenster und sage kategorisch: Diese Leute irren sich.)
Ich habe bei diesem Argument nämlich ein bisschen getrickst und geschummelt. Ich habe (korrekt) argumentiert, dass an aus der Verschränkung mit der Umwelt und unserer Unkenntnis über diese Umwelt eine klassische Wahrscheinlichkeit bekommt.
Aber unsere Unkenntnis der Umwelt ist ja nichts Fundamentales, sondern genau das: unsere Unkenntnis. Wenn wir den Zustand eines Quantensystems nicht genau kennen, dann müssen wir über die Möglichkeiten in diesem System mitteln (und das geht mathematisch mit der Dichtematrix). Aus Verschränkung und Unkenntnis ergibt sich damit genau die klassische Wahrscheinlichkeit.
Aber in der Natur gibt es keine “Unkenntnis” – die Tatsache, dass wir nicht in der Lage sind, über die Zustände aller Gasmoleküle usw. Bescheid zu wissen, heißt ja nicht, dass die nicht eindeutige Zustände haben.
Schauen wir nochmal auf den Doppelspalt: Wenn wir eine Wechselwirkung mit einem Photon haben, dann sehen wir kein Interferenzmuster auf dem Schirm mehr. Ich hatte aber dazugesagt, dass es prinzipiell möglich wäre, die beiden Möglichkeiten für unser Photon (gestreut oder nicht gestreut) am Ende wieder so zusammenzuführen, dass wir die beiden Möglichkeiten nicht mehr unterscheiden können (das ginge zum Beispiel mit einem so genannte Interferometer), und dann ist das Interferenzmuster auch wieder da.
Prinzipiell ginge das auch für unser makroskopisches System – theoretisch ist es denkbar, all die Zustände der Gasatome, die sich bei Streuung |hier> und |da> unterscheiden, wieder so zusammenzuführen, dass eine Interferenz dieser Zustände wieder möglich ist, und dann landen wir auch wieder bei unserem Zustand |hier>+|da>.
Praktisch ist das nicht möglich, deshalb bekommen wir für alle praktischen Zwecke niemals solche Interferenzen (was nebenbei bemerkt der Sargnagel für alle Ideen von “Quantenheilung”, “Homöopathie beruht auf Quantenverschränkungen” etc. ist). Aber theoretisch gibt es keinen Punkt, ab dem das wirklich absolut und kategorisch unmöglich ist.
Wir haben es hier mit zwei unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsbegriffen zu tun. Die klassische Wahrscheinlichkeit ist die, die es schon in der klassischen Physik gab: Auch wenn diese vollkommen deterministisch ist, sorgt unsere Unkenntnis aller Gegebenheiten dazu, dass beim Werfen einer Münze oder eines Würfels das Ergebnis zufällig ist.
Die Quantenmechanische Wahrscheinlichkeit ist (soweit wir wissen – es könnte natürlich eine fundamentalere Theorie geben, die die Wahrscheinlichkeiten erklärt) etwas anderes: Wenn wir ein Objekt in einem Überlagerungszustand haben und messen, dann wissen wir hinterher, in welchem Zustand es ist. Vorher hatten wir eine Wahrscheinlichkeit, hinterher haben wir Gewissheit, aber die Wahrscheinlichkeit beruhte eben nicht auf einer bloßen Unkenntnis, sondern ist fundamentaler. Dass das so ist, zeigt genau unser Elektron am Doppelspalt: Wenn wir es mit unserem Laser messen, indem wir seinen Zustand mit dem des Photons verschränken (und das Ganze nicht wieder durch Interferenz zunichte machen), dann wissen wir, wo das Elektron war, aber wenn wir es nicht messen, dann zeigt die Interferenz am Doppelspalt, dass es eben nicht eindeutig am einen oder anderen Spalt war.
(Anmerkung: Naja, theoretisch ist es denkbar, dass es das doch war und dass wir das nur fundamental nicht wissen können, es gibt Interpretationen der QM, die das möglich machen, beispielsweise die deBroglie-Bohm-Theorie, aber diese fiese Pandora-Büchse mache ich heute nicht auf…)
Jetzt könnte natürlich jemand einwenden “Moment. Wenn ich das Photon messe, indem ich gucke, ob es vom Elektron aus der Bahn geworfen wurde, lande ich dann nicht auch in einem Überlagerungszustand? Wäre es nicht theoretisch möglich, auch meinen Zustand wieder durch Interferenz so zusammenzuführen, dass hinterher wieder beide Möglichkeiten da sind und ich den Zustand des Photons nicht mehr kenne?” Gute Frage. Wir wissen, dass wir so etwas nicht beobachten, deshalb haben wir das Konzept der Messung ja überhaupt eingeführt (mehr dazu in diesem Artikel). Die QM soll die Welt so beschreiben, wie wir sie durch unsere Erfahrungen und Messungen vorfinden – und da sehen wir eben, dass wir so etwas nie beobachten und dass wir das Photon entweder sehen oder nicht. (Falls jemand jetzt auf die Viele-Welten-Theorie verweist – die löst das Problem nicht wirklich, ich verweise hier mal wieder auf den backreaction-Blog. Das Buch “Beyond Weid” ist dazu auch sehr zu empfehlen.)
Entscheidend ist hier also Folgendes: Die Dekohärenz (die Wechselwirkung unserer Objekte mit der Umwelt) sorgt für alle praktischen Zwecke dafür, dass wir über den unbekannten Zustand der Umwelt mitteln müssen, und das liefert uns eine klassische Wahrscheinlichkeit. Fundamental haben wir es aber immer mit Quantenzuständen zu tun, und deren Wahrscheinlichkeiten sind konzeptionell etwas anderes. Das Messproblem bleibt ungelöst.
Fazit
Das Konzept der Dekohärenz ist – daran besteht kein Zweifel – ein großer Sprung vorwärts für das Verständnis der QM. Die Verschränkungen mit der Umwelt, die wir bei makroskopischen Objekten gar nicht vermeiden können, sorgen dafür, dass wir an solchen Objekten keine quantenmechanischen Interferenzerscheinungen beobachten können. Weil die Wechselwirkung mit der Umwelt davon abhängt, so die Objekte sind, sind Zustände, in denen Objekte an einem Ort sind, gegenüber anderen Zuständen bevorzugt. Wichtig ist dabei, dass die Dekohärenz zeigt, dass es eben nicht so ist, dass Quanteneffekte bei großen Objekten verschwinden. Im Gegenteil – makroskopische Objekte sind in unglaublich komplexer Weise mit der Umwelt quantenmechanisch verschränkt, aber gerade das führt dazu, dass wir von diesen Quanteneffekten nichts merken.
Damit erklärt uns die Dekohärenz einiges darüber, warum unsere makroskopische Welt so aussieht, wie sie es tut.
Das Messproblem bleibt allerdings ungelöst.
Quellen:
M. Schlosshauer Quantum decoherence
]]>Es geht um die sogenannte Querkontraktionszahl (manchmal auch Poisson-Zahl genannt). Was das ist? Stellt euch vor, ihr würdet einen Gegenstand verformen, ihn beispielsweise in die Länge ziehen. Am anschaulichsten ist vermutlich ein Gummiband. Ihr bringt also eine Kraft auf, um das Gummi in die Länge zu ziehen.
Dabei könnt ihr sehen (geht am besten mit einem breiten Gummi wie für Einweckgläser), dass sich das Gummi in Querrichtung etwas zusammenzieht:
Dieses Zusammenziehen ist die Querkontraktion.
Die Querkontraktionszahl
Machen wir es etwas quantitativer: Nehmen wir an, ihr dehnt das Gummi um ein Prozent. (In der Materialwissenschaft geben wir Dehnungen immer als relative Größen an, gern in Prozent, weil sich bei gleicher Kraft ein doppelt so langer Gegenstand natürlich auch doppelt so stark dehnt. (Das Konzept der Dehnung habe ich in einem ganz anderen Zusammenhang auch schon erklärt.) Dann wird es sich in Querrichtung etwa um ein halbes Prozent zusammenziehen. Warum? Weil Gummi bei der Verformung sein Volumen praktisch nicht ändert und es zwei Querrichtungen gibt. Das Zusammenziehen in den beiden Querrichtungen kompensiert genau die Längung in der Zugrichtung.
Ich reaktiviere mal wieder mein Warnschild für Nebenrechnung (und sonstigen Kram), die ihr auch überspringen könnt: Man kann das leicht nachrechnen, wenn man sich einen Würfel mit Kantenlänge 1 vorstellt: Der hat das Volumen Länge*Breite*Höhe, also 1*1*1=1. Ziehe ich ihn um x in die Länge und er wird in Querrichtung um x/2 kürzer, bekomme ich für das Volumen (1+x)*(1-x/2)*(1-x/2) = (1+x) * (1-x+x**2/4). Solange x klein ist kann ich Terme der Ordnung x**2 vernachlässigen, also habe ich (1+x)*(1-x) = 1-x**2, also in erster Näherung 1. (Alternativ könnt ihr auch gleich ausplumifikationieren und alle Terme mit x**2 und x**3 weglassen.)
Warnhinweis: Ich rede hier nur über elastische Verformungen, also solche, die nach Entlastung wieder zurückgehen. man kann Metalle auch plastisch verformen (beispielsweise, wenn ihr eine Büroklammer verbiegt), aber den Fall betrachten wir hier nicht. Außerdem nehmen wir an, dass die Verformungen klein sind; Gummi lässt sich bekanntlich mit sehr großen elastischen Dehnungen in die Länge ziehen, aber dann braucht man fiese mathematische Werkzeuge wie Deformationsgradienten und lauter so gruseliges Zeug… Kleine elastische Verformungen sind aber in der Technik sehr wichtig: beispielsweise wollt ihr euren Fahrradrahmen so ausgelegt haben, dass alle Verformungen elastisch bleiben, sonst wäre das Fahren irgendwann etwas schwierig, wenn sich der Rahmen bleibend verbiegt.
Zieht man Gummi also um 1% in die Länge, zieht es sich in Querrichtung um 0,5% zusammen. Die Querdehnung ist also halb so groß wie die Dehnung, die ihr von Außen aufbringt. Diese Zahl nennt man die Querkontraktionszahl, sie beträgt für Gummi (und für alle anderen Materialien, bei denen sich das Volumen nicht ändert, wenn man sie elastisch verformt) 0,5.
Bei Metallen ist das anders: Längt ihr ein Metallblech um 0,1% (1% wäre ziemlich viel, da werden die meisten Metalle schon plastisch), dann zieht es sich in Querrichtung typischerweise etwa um 0,03% zusammen, die Querkontraktionszahl (Kurz Querko-Zahl) ist also 0,3. Für Berechnungsingenieurinnen (die die Querkozahl brauchen) lautet die faustregel für die Querkozahl bei Metallen auch “Wenn du sie nicht weißt, nimm 0,3 an”.
Stimmt aber nicht so ganz – bei manchen Metallen ist die Querko-Zahl größer (Zahlenwerte von engineeringtollbox). Aluminium hat 0,33, Kupfer 0,35, Silber 0,37, Blei sogar etwa 0,4. Bei anderen dagegen passt es ganz gut – Nickel hat 0,31, Titan hat 0,3. Noch andere haben kleinere Werte – Eisen 0.29, Wolfram 0,28, Uran sogar nur 0,21. Auch Keramiken haben meist kleinere Werte als 0,3, Siliziumkarbid (laut Wikipedia) zum Beispiel nur 0,17.
Einige Materialien haben auch Werte, die komplett aus dem Rahmen fallen und größer sind als 0,5 oder kleiner als 0. Beim in die Länge ziehen nimmt das Volumen also ab (bei Querko-Zahl größer als 0,5) oder das Material dehnt sich auch in Querrichtung aus (bei Querko-Zahl kleiner 0). Das sind aber Ausnahmen – meist irgendwelche Verbundwerkstoffe mit komplizierter Anordnung der Fasern, wo sich beim Ziehen Fasern umorientieren können. Zumindest Werte größer als 0,5 können soweit ich weiß auch nur in einigen bestimmten Richtungen auftreten, aber nicht generell. Solche Seltsamkeiten lasse ich hier mal außen vor. Hier und im Folgenden nehme ich auch grundsätzlich an, dass unser Material isotrop ist, also keine richtungsabhängigen Eigenschaften hat. Das ist für die meisten Metalle und Keramiken meist ne gute Annahme, die haben zwar auf atomarer Ebene ein Kristallgitter, aber makroskopisch bestehen sie aus vielen einzelnen Kristallen, die regellos orientiert sind, und alle Richtungseffekte mitteln sich raus.
Soweit so gut, und so ähnlich (wenn auch vielleicht stilistisch etwas weniger salopp) könnt ihr das in so ziemlich jeder Einführung in die Werkstoffkunde nachlesen. Was aber anscheinend kaum irgendwo steht, ist die Antwort auf die ziemlich offensichtliche Frage: Warum? Warum ist die Querko-Zahl von Silber größer als die von Eisen und die von Keramiken kleiner als die von Metallen? (Gummi lasse ich im folgenden außen vor, da ist die elastische Verformung sehr speziell…)
Elastizitätsmodul, Schubmodul und Kompressionsmodul
Um zu verstehen, was physikalisch dahinter steckt, müssen wir uns noch etwas genauer angucken, wie man Werkstoffe verformen kann. Bisher haben wir unser Material in die Länge gezogen. Dafür brauchen wir eine Kraft. In der Materialwissenschaft hantieren wir lieber mit der Kraft pro Fläche, der sogenannten Spannung, weil dann alles unabhängig davon ist, wie groß euer Bauteil ist. Um ein Bauteil mit doppelter Querschnittsfläche in die Länge zu ziehen, braucht ihr die doppelte Kraft. (Details zum Spannungsbegriff findet ihr auch auf dem Blog, aber so genau müssen wir das heute nicht angucken.)
Solange die Verformungen klein sind und alles elastisch bleibt, gilt (für Metalle und Keramiken und bei hinreichend kleinen Dehnungena uch für Polymere) das Hookesche Gesetz: Spannung und Dehnung sind proportional: Braucht ihr eine Spannung von 100 Megapascal für 0,1% Dehnung, dann braucht ihr 200 Megapascal für 0,2% Dehnung. (Ein Megapascal ist ein Newton pro Quadratmillimeter, die genauen Zahlen brauchen euch aber nicht zu kümmern, es geht hier nur ums Prinzip. ) Wenn Spannung und Dehnung proportional sind, ist Spannung geteilt durch Dehnung eine Konstante – der sogenannte Elastizitätsmodul. In unserem Beispiel wäre er genau 100MPa/0,1%=100MPa/0,001=1000*100MPa=100GPa. Ein Wert von 100 Gigapascal ist etwa das, was man bei Titanlegierungen findet.
Also: Der Elastizitäsmodul gibt an, wieviel Kraft ich brauche, um das Material zu längen (oder auch zu stauchen).
Man kann sein Material aber auch noch auf andere Weise traktieren; beispielsweise könnte man es abscheren. Ihr haltet eine Seite eures Materialklotzes fest und bewegt die gegenüberliegende Seite parallel zur festgehaltenen Seite:
Auch hier kann man eine Spannung messen und eine Dehnung (im Prinzip nichts als der Winkel, um den man abschert). Und auch hier sind bei elastischer Verformung die beiden proportional; die Proportionalitätskonstante heißt Schubmodul.
Der Schubmodul und der E-Modul (niemand, wirklich niemand sagt “Elastizitätsmodul”, sonst müssten Werkstoffkundevorlesungen immer 10 Minuten extra Zeit bekommen…) hängen zusammen – ist ja irgendwie logisch, weil beide was damit zu tun haben, wie viel Kraft man braucht, um den Werkstoff zu verformen. Interessant ist aber, dass die beiden über die Querko-Zahl zusammenhängen.
Warum? Dazu schauen wir uns die Abscherung nochmal genauer an:
Hier habe ich zwei Diagonalen eingezeichnet – die rote wird beim Scheren länger, die blaue kürzer.
Was bei einer Abscherung eigentlich passiert ist also, dass das Material in einer Richtung gelängt und gleichzeitig in der anderen gestaucht wird. (Hätte ich einen quadratischen Materialklotz gezeichnet, würden die beiden Linien auch exakt senkrecht aufeinander stehen.) Hat unser Material eine große Querko-Zahl, dann zieht es sich beim in die Länge ziehen ja ohnehin in Querrichtung zusammen, hat es eine kleine Querko-Zahl, tut es das nicht. Materialien mit großer Querko-Zahl sollten also einen kleinen Schubmodul (relativ zum E-Modul) haben (weil sie sich sowieso schon passend zusammenziehen) und umgekehrt.
In Formeln lautet der Zusammenhang: , wobei E der E-Modul, G der Schubmodul und die Querko-Zahl ist.
Man kann den Zusammenhang auch grafisch darstellen, so sieht das aus (geplottet habe ich G/E, also das Verhältnis von Schubmodul und E-Modul:
Bei kleiner Querko-Zahl ist der Schubmodul also halb so groß wie der E-Modul, bei großer Querko-Zahl nur ein Drittel so groß, weil das Abscheren leichter geht, wenn sich das Material sowieso quer zur gelängten Richtung zusammenziehen will.
Eine andere Möglichkeit, ein Material zu verformen, besteht darin, es von allen Seiten zusammenzudrücken (vornehm “hydrostatischer Druck” genannt) – stellt euch beispielsweise vor, ihr nehmt das Material und taucht damit ins Meer ab, wo der Wasserdruck es von allen Seiten belastet. Auch hier kann man eine passende Größe definieren – den Kompressionsmodul.
Wir haben ja oben schon gesehen, dass ein Material mit Querko-Zahl 0,5 sein Volumen bei der Verformung nicht ändert. Solche Materialien sind also inkompressibel. Es verwundert also hoffentlich nicht, dass es auch zwischen E-Modul und Kompressionsmodul einen Zusammenhang gibt, in dem die Querko-Zahl drin steckt. Jetzt aber so, dass eine große Querko-Zahl einen hohen Kompressionsmodul bedingt. (Und bei Querko-Zahl 0,5 ist der rechnerisch unendlich.)
In Formeln ist mit K als Kompressionsmodul. Ist die Querko-Zahl 0,5, ist der Term in der Klammer Null, damit der E-Modul trotzdem endlich sein kann, muss der Kompressionsmodul also unendlich sein. (Mitleid mit allen Mathematikerinnen, die gerade angesichts des physikermäßigen Umgangs mit Grenzwerten in die Tischkante beißen.)
Auch das kann man plotten, hier geht der Wert dann gegen unendlich bei Querko-Zahl 0,5:
Fazit: Ist die Querko-Zahl groß (dicht bei 0,5), lässt sich das Material schlecht zusammenquetschen, aber vergleichsweise gut abscheren, ist die Querko-Zahl klein, ist es umgekehrt. Man kann auch direkt das Verhältnis aus Schubmodul und Kompressionsmodul plotten (der E-Modul kürzt sich dann raus), dann ergibt sich dieses Bild:
Auf der horizontalen Achse ist die Querko-Zahl aufgetragen, auf der vertikalen das Verhältnis. Bei Querko-Zahl 0,5 geht es gegen Null, weil der Kompressionsmodul unendlich groß wird und im Nenner steht, bei Querko-Zahl 0 ist der Schubmodul 1,5 mal so groß wie der Kompressionsmodul.
Wenn wir den E-Modul als fest vorgegeben ansehen, dann muss sich das Material also entscheiden: Entweder kann es einen hohen Widerstand gegen Kompression haben, dann lässt es sich aber leichter abscheren, oder umgekehrt.
Und warum ist das so…?
Soweit findet ihr die Zusammenhänge auch in den meisten Werkstoffbüchern. Was aber nicht drin steht ist, was das Ganze physikalisch bedeutet.
Nehmen wir mal eine Keramik. Die besitzt chemisch gesehen kovalente Bindungen, also Bindungen zwischen den Atomen, die gerichtet sind:
Quelle: Rösler, Harders, Bäker, Mechanisches Verhalten der Werkstoffe, Springer Verlag
Die (bindenden) Elektronen sitzen hier in den Bindungen zwischen den Atomen, und es gibt Bereiche, in denen die Dichte der Elektronen sehr klein ist. Also lassen sich die Bindungen schlecht abscheren. Da es aber eben Bereiche mit wenigen Elektronen gibt, sollte es möglich sein, das Material zusammenzudrücken. (Absolut gesehen ist der Kompressionsmodul in Keramiken immer noch meistens hoch, weil die einen hohen E-Modul haben, aber hier geht es ja um das Verhältnis aus beidem.) Schwer abzuscheren, dafür eher zusammendrückbar – also muss die Querko-Zahl vergleichsweise klein sein.
Bei Metallen ist es anders: Hier geben die Atome Elektronen an das sogenannte Elektronengas ab, das für die Bindung sorgt. Die Bindung ist nicht gerichtet, die (bindenden) Elektronen sind einigermaßen gleichmäßig überall verteilt. Hier eine sehr schematische Darstellung mit punktförmigen Elektronen (eine detailliertere Erklärung der metallischen Bindung gibt es hier)
Von User:ARTE – Eigenes Werk, Gemeinfrei, Link
Abscheren sollte also einfach sein, aber das Metall zu komprimieren sollte nicht so einfach sein, denn dann quetschen wir das homogene Elektronengas zusammen. (Und das mögen Elektronen nicht so gern…) Also sollten Metalle eher einen niedrigeren Schubmodul und einen höheren Kompressionsmodul haben, also ist ihre Querko-Zahl größer.
Aber wieso ist die Querko-Zahl z.B. von Silber wesentlich höher als die von Wolfram? Silber ist ein Edelmetall, das dem Ideal einer metallischen Bindung sehr nahe kommt. Wolfram dagegen ist komplizierter. Wenn ihr ins Periodensystem schaut, seht ihr, dass es ein sogenanntes Übergangsmetall ist. Das sind solche, bei denen die sogenannte d-Schale der Atom-Orbitale nur teilweise besetzt ist. Das führt dazu, dass diese d-Orbitale miteinander Bindungen eingehen können, die eher wie die Bindungen in einer Keramik sind, also ein wenig gerichtet. Metalle, bei denen das der Fall ist, sollten also wieder etwas schwerer zu scheren sein und eine kleinere Querko-Zahl haben. (Bei Uran dürfte es wegen der f-Elektronen ähnlich sein.) Beim Nickel sind die Bindungen zwischen den d-Elektronen vergleichsweise schwach, deshalb ist die Querko-Zahl größer, beim Eisen sind sie stärker, also ist die Querko-Zahl kleiner. (Ich muss aber zugeben, dass Zink nicht so ganz ins Bild passt – warum Zink eine vergleichsweise kleine Querko-Zahl besitzt, ist mir nicht klar. Vermutlich kann – und sollte – man etwas tiefer einsteigen und sich z.B. Fermi-Flächen angucken, die sagen ja auch etwas über die Gerichtetheit der Elektronenzustände.)
Fazit
Und das ist das, was ich gerade gelernt habe: Die Querko-Zahl ist nicht einfach ein Parameter, der irgendwelche willkürlichen Werte hat oder dessen zu Stande kommen so kompliziert ist, dass man es nicht einfach erklären kann. Die Querko-Zahl sagt schlicht etwas darüber aus, ob ein Material sich eher abscheren oder eher komprimieren lässt, und das wird direkt durch die Bindungsart bestimmt. Bei Keramiken ist sie niedrig, bei Metallen hoch, bei Übergangsmetallen irgendwo dazwischen.
Meiner Meinung nach könnte man das in Einführungen in die Werkstoffkunde ruhig erklären – den ganzen Zinnober mit E-Modul, Schubmodul etc erklärt man da ja sowieso, ebenso die Bindungsarten. Wieso wird da nicht diese Verbindung hergestellt? Oder wird sie das? Kennt jemand ein Buch, wo das erklärt ist? Oder – schrecklicher Gedanke – ist es vielleicht einfach falsch?
Hinterlasst gern einen Kommentar, wenn ihr eine Idee habt oder mehr wisst als ich.
]]>Ich nehme das Ganze aber mal zum Anlass, um für alle die, die im Uni-Betrieb nicht drinstecken, zu erklären, wie so eine Promotion eigentlich läuft und warum so etwas “eigentlich” nicht passieren sollte. Dabei gleich ein entscheidender Hinweis: Alles, was ich hier schreibe, bezieht sich auf meine Erfahrungen in der Physik (als Doktorand) und den Ingenieurwissenschaften (als Gutachter). In den Geisteswissenschaften funktionieren Promotionen meines Wissens oft anders; insofern lässt sich das, was ich hier schreibe, nur bedingt direkt auf den Fall Aschbacher übertragen.
Die Theorie des Promotionsverfahrens
Also, so rein theoretisch könntet ihr (oder konntet es früher) zu hause im stillen Kämmerlein eine Doktorarbeit schreiben und diese dann schlicht bei einer Universität einreichen, um sie begutachten zu lassen. Die jeweilige Fakultät (=Fachbereich, wie z.B. Naturwissenschaft, Physik, Ingenieurwissenschaft, je nach Organisation eurer Uni) würde dann eine Promotionskommission einberufen, die dann Gutachterinnen ernennt, und dann wird die Arbeit begutachtet, dazu später mehr. (Wenn ihr den rechtlichen Rahmen wissen wollt, könnt ihr euch eine Promotionsordnung angucken, beispielsweise die des Maschinenbaus an der TU Braunschweig.)
Damit ihr promovieren dürft, müsst ihr einen entsprechenden Abschluss haben, der zur Fachrichtung passt, jemand, der wie ich Physik studiert hat, kann nicht einfach in Politikwissenschaft promovieren. (Verwandte Fächer gehen, eventuell bekommt man z.B. als Physikerin, die in den Ingenieurwissenschaften promovieren will, die Auflage, ein paar Vorlesungen aus dem Maschinenbau zu hören. [Ein bisschen ironisch wird es dann, wenn die Vorlesung, die man dann hört, von jemandem gehalten wird, der selbst Physiker ist …])
Also, rein theoretisch könnte man mit einer Doktorarbeit unter dem Arm, den passenden Zeugniskopien und sonstigen Unterlagen in die Fakultät spazieren, dort die Sachen auf den Tisch werfen und einen Antrag auf Promotion stellen. [So war es zumindest früher. (An einigen Unis mag es immer noch so sein.) Um sicherzustellen, dass eine Promotion aber auch tatsächlich vernünftig begutachtet werden kann, braucht die Uni aber natürlich auch Leute, die sich mit dem Thema auskennen. Und um andererseits sicherzustellen, dass Doktorandinnen auch vernünftig betreut werden, braucht man Betreuerinnen. Deshalb gehört an der TU Braunschweig zum Verfahren zunächst mal der Antrag auf Annahme als Doktorandin oder Doktorand. ]
Promotion in der Praxis
In der Praxis kommt so etwas – gerade in den MINT-Fächern – eigentlich nicht vor. Normalerweise arbeitet ihr an einem Projekt in einem Institut und werdet dafür bezahlt, entweder mit einer regulären Stelle oder vielleicht auch mit einem Graduiertenstipendium (sowas hatte ich seinerzeit). Ihr seid – anders funktioniert Forschung heutzutage ja auch nicht – in ein Projekt eingebunden, ihr habt Zugriff auf die Ressourcen (Computer, Experimente etc.) des Instituts und betreibt Forschung. Das Geld dafür kommt entweder aus den Mitteln die das Institut sowieso zur Verfügung hat oder von externen Geldgebern wie der deutschen Forschungsgemeinschaft. (Wie das geht habe ich auch schon mal erzählt.)
So forscht ihr also fröhlich vor euch hin, erweitert den Stand des menschlichen Wissens um eine mikroskopische Winzigkeit, wobei ihr permanent mit eurer Betreuerin im Kontakt seid, die guckt, dass auch alles gut läuft und euch hilft, wenn ihr irgendwo nicht weiterkommt. (Mein Doktorvater hatte immer eine gute Idee parat, wenn ich mal nicht weiterwusste.) Die diese Betreuung genau läuft, hängt vom Institut und der Betreuerin ab – an kleinen Instituten betreuen die Professorinnen meist selbst, an großen werden die Doktorandinnen oft vor allem von Postdocs (also Leuten, die schon nen Doktortitel haben) betreut und besprechen mit der Professorin nur die grobe Linie. Auch wie oft man mit der Betreuerin redet, ist stark unterschiedlich, es sollte aber eigentlich immer so sein, dass die Betreuerin weiß, wo ihr gerade steht und was die aktuellen Probleme etc. sind.
Früher oder später (typischerweise so nach 3-4 Jahren) habt ihr dann genügend Erkenntnisse zusammengetragen (und wenn alles nach Plan läuft, auch ein paar wissenschaftliche Veröffentlichungen geschrieben), dass ihr daran denken könnt, eure Doktorarbeit zu schreiben. (An manchen Unis gibt es dazu auch die Möglichkeit, dass ihr einfach eure Veröffentlichungen – wenn es denn genügend sind – hintereinanderheftet und mit einer ausführlichen Einleitung und oder einem Schluss verseht, das nennt man dann eine kumulative Doktorarbeit. Da die Veröffentlichungen selbst ja auch schon begutachtet wurden, ist dann eine externe Qualitätssicherung schon automatisch mit eingebaut. Ich betrachte jetzt aber den “normalen” Fall.)
Die Doktorarbeit
Ihr schreibt also ein Pamphlet von so größenordnungsmäßig 150-200 Seiten zusammen (hängt sehr stark vom Fach, von den Rahmenbedingungen und auch von so banalen Dingen wie dem Papierformat ab; meine Dissertation hatte etwas mehr als 100 Seiten, aber die habe ich in 10-Punkt-Schrift mit sehr schmalen Rändern gedruckt; in dem Format, dass bei uns an der TU üblich ist, würden daraus vermutlich eher 250-300 Seiten werden…). Das tut ihr nicht einfach so, sondern in enger Absprache mit eurer Betreuerin, mit der ihr genau klärt, was in die Arbeit muss, wie viel theoretische Grundlagen und Literaturrecherche notwendig sind, welche Ergebnisse rein müssen, und so weiter. Wie stark diese Rückkopplung mit der Betreuerin ist, ist von Fall zu Fall verschieden – mein Doktorvater hat meine Arrbeit im Vorfeld einmal gegengelesen und mir Verbesserungsvorschläge gemacht, aber bei meinen Doktoranden habe ich Teile auch fünfmal oder noch öfter gelesen, bis ich zufrieden war.
Wenn dann alles fertig geschrieben ist, dann druckt ihr ein paar Exemplare der Arbeit, schmeißt einen Haufen Formulare und Unterlagen zur Einleitung des Promotionsverfahrens drauf und gebt das Ganze bei eurer Fakultät (Fachbereich oder wie immer das heißt) ab. Dort wird dann (nachdem die Formalia geprüft sind) eine Promotionskommission eingesetzt. Wie die sich genau zusammensetzt, hängt von der Uni ab – es gibt meist eine Vorsitzende und zwei Gutachterinnen für die schriftliche Arbeit; bei meiner eigenen Promotion gab es zusätzlich noch eine dritte Person, die die Verteidigung (also den Vortrag zur Arbeit) begutachtete, aber nicht die Arbeit selbst. Aktuell ist es meist so, dass die erste Gutachterin auch tatsächlich diejenige ist, die die Arbeit betreut hat – es gibt aber inzwischen Bestrebungen, das zu ändern und sozusagen keine Begutachtung innerhalb eines Instituts zuzulassen. Ob das eine gute Idee ist, darüber könnte man sicher lange diskutieren, mache ich mal nicht, ich erzähle, wie der aktuelle Stand ist.
Die Begutachtung
Die erste Gutachterin ist also (oft) eure betreuende Professorin, die zweite Gutachterin kommt von einem anderen Institut (eventuell sogar von einer anderen Universität). Bei der Wahl der zweiten Gutachterin habt ihr ein Vorschlagsrecht, dem muss die Fakultät nicht folgen, tut es aber meist. Bei uns an der TU ist es meist relativ klar, wen man wählt – man möchte eine Gutachterin haben, die zumindest ein wenig von dem versteht, was man in der Arbeit getan hat; und da die Themenvielfalt an der TU recht groß ist, ist dann die Auswahl meist nicht so groß. In wie weit ihr mit der schon vor Einreichen der Promotion Kontakt zur Zweitgutachterin hattet, hängt auch wieder vom Einzelfall ab; meist ist der eher spärlich, aber ich hatte auch schon den Fall, dass ich Zweitgutachter für jemanden war, die im Vorfeld ein paar Mal mit mir über die Arbeit geredet hatte (weil ich an der TU in Sachen Finite Elemente gern mal gefragt werde, wenn Leute Probleme haben…).
Wir haben jetzt also zwei Gutachterinnen – die erste sollte die Inhalte eurer Arbeit eigentlich schon kennen, die zweite nicht. Manchmal kommt aus formalen Gründen auch noch ne dritte Gutachterin hinzu, das ist aber eher die Ausnahme als die Regel. (Ich war mal Gutachter bei einer Diss in Frankreich, da lief das anders: Dort gab es eine größere Kommission mit ich glaube 5 Leuten drin, die alle ein Gutachten schrieben.) Die Gutachterinnen haben jetzt die Aufgabe, Gutachten zu schreiben (deswegen heißen die so…). So ein Gutachten ist nicht einfach bloß eine Zeile mit ner Note, sondern eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Arbeit, bei mir werden es meist 2-3 Seiten. Im Gutachten geht man die Arbeit durch, man schildert kurz, worum es geht, was das Ziel der Arbeit ist, und geht dann auf die einzelnen Kapitel ein, wobei man immer dazu schreibt, wenn etwas besonders gut oder vielleicht auch nicht so toll war. (Zum Aufbau eines Gutachtens gibt es keine klare Vorgabe, aber eigentlich haben alle, die ich bisher gesehen oder geschrieben habe, das so gemacht.)
Als Erstgutachterin kennt ihr die Arbeit ja ohnehin schon, trotzdem lest ihr natürlich die Endfassung nochmal gründlich. Als Zweitgutachterin ist die Arbeit euch zunächst fremd und ihr müsst euch reinlesen – aber auch als Zweitgutachterin lest ihr die Arbeit (O.k., in der Praxis lesen nicht alle Zweitgutachterinnen die Arbeiten komplett, sondern überfliegen vielleicht einige unwichtigere Teile auch nur.) undschreibt dann euer Gutachten.
Die beiden Gutachten gehen dann an die Vorsitzende der Kommission. Die liest beide Gutachten (und sollte auch mal in die Arbeit selbst reinschauen, auch wenn das formal nicht wirklich notwendig ist) und guckt, dass die sinnvoll sind (und möglichst nicht voneinander abgeschrieben wurden…). Wenn alles o.k. ist, dann wird der Termin für die Verteidigung der Arbeit angesetzt.
Die Verteidigung
Wie die Verteidigung (auch Disputation genannt) abläuft, unterliegt auch starken Schwankungen: Bei meiner eigenen Promotion musste ich einen Vortrag von 45 Minuten halten, mit anschließender wissenschaftlicher Diskussion; an der TU Braunschweig gibt es einen Vortrag von 30 Minuten, dann eine Diskussion, dann noch eine Prüfung.
In der Diskussion nach dem Vortrag sind vor allem die Gutachterinnen gefragt – hier stellen sie jetzt nochmal kritische Fragen, weisen auf Schwachstellen hin oder schauen, ob die Doktorandin auch die größeren Zusammenhänge der Arbeit versteht. Die Diskussion ist aber offen für alle (an der TU Braunschweig) oder zumindest für zugelassene Fragesteller (In Hamburg war es zu meiner Zeit so, dass nur Leute, die selbst promoviert waren, offiziell Fragen stellen durften). Es ist sehr selten, dass eine Verfahren in diesem Stadium noch scheitert, ist aber schon vorgekommen. (Normalerweise sollte die Doktorandin die meisten Fragen leicht beantworten können, denn es ist ja ihr absolutes Spezialgebiet…)
Falls sich noch eine Prüfung anschließt, werden da auch nochmal Fragen gestellt. Einige Prüferinnen lassen die Doktorandinnen vorher eins ihrer Vorlesungsskripte lesen und machen dann dazu eine Prüfung. Ich finde das unsinnig (dass die Doktorandin das kann, hat sie im Master oder Diplom bewiesen) und stelle Fachfragen, die vom Thema der Promotion ausgehen (frage also zum Beispiel nach den beteiligten Werkstoffen oder nach Grundlagen zu den eingesetzten Simulationsmethoden, weil das nun mal meine Spezialgebiete sind.) Und wenn dann alles gut gelaufen ist, gibt es am Ende eine Note und eine Feier.
Fazit
So also das Verfahren. Damit ein Machwerk wie das von Frau Aschbacher als Doktorarbeit durchgehen kann, müssen also mindestens zweieinhalb Leute in ihrem Job vollkommen versagen, nämlich die beiden Gutachterinnen und die Vorsitzende der Kommission. Ob sie die Arbeit tatsächlich nicht gelesen haben oder ob sie aus Gefälligkeit trotzdem positive Gutachten verfasst haben oder was da sonst schief gelaufen ist, kann ich nicht beurteilen. Was man gegen so etwas tun kann?
Eine Möglichkeit, um Kungeleien zu verhindern, wäre, dass man eben die direkte Betreuerin einer Arbeit nicht als Gutachterin zulässt (wie oben schon erwähnt), das hat allerdings den Nachteil, dass dann eventuell niemand, der die Arbeit wirklich in allen Teilen zu 100% fachlich beurteilen kann und versteht, ein Gutachten schreibt. Man kann auch vorschreiben, externe Gutachterinnen (von anderen Unis) einzubinden – ob das solche Probleme wirklich entschärft, weiß ich nicht; wer kungeln will, hat vermutlich auch ne Kollegin an einer anderen Uni an der Hand, die da mitzieht.
Letztlich gilt für Promotionen das, was auch sonst in der Wissenschaft gilt: Wissenschaft basiert immer auch auf Selbstkontrolle und Vertrauen. Wer das sabotiert, schadet der Wissenschaft und ihrer Glaubwürdigkeit als Ganzes.
]]>Wo war ich? Ach ja, die Spannung in der Physik. Wie gesagt, auch da schon ein etwas überfrachteter Begriff, aber meist nicht so schlimm, weil man aus dem Zusammenhang weiß, ob es um die elektrische oder mechanische Spannung geht. (Es sei denn, man redet über Piezomaterialien, wo eine angelegte elektrische Spannung eine mechanische Spannung verursacht, dann muss man aufpassen, das erlebe ich jedes Jahr wieder in meiner Funktionswerkstoffe-Vorlesung.)
Hier und heute reden wir aber nur über die mechanische Spannung, ein von Studis im Maschinenbau eher nicht so geschätztes, aber doch spannendes (aargh!) wichtiges Thema.
Wir fangen mit einem kleinen Experiment an: Nehmt euch ein Gummiband (oder stellt es euch vor) und zieht es ein wenig in die Länge. Ihr spürt jetzt, dass ihr mit euren Fingern eine Kraft auf das Gummiband ausüben müsst, um es langgezogen zu lassen; sobald ihr es loslasst, schnellt es (autsch) in seine Ausgangslänge zurück. (Dass es das tut, verdankt es übrigens der Entropie der aufgeknäulten Gummimoleküle.)
Wir brauchen also eine Kraft, um das Gummiband zu dehnen. Da kommt schon die erste Verständnishürde ins Spiel: Laut Definition der Kraft, die ihr bestimmt mal in der Schule unter dem Namen “zweites Newtonsches Gesetz” lernen musstet, ist Kraft gleich Masse mal Beschleunigung. Hier wird aber ja (wenn das Gummi erst mal gedehnt ist) gar nichts beschleunigt, also sollte es auch keine Kraft geben. (Etwas ausführlicher habe ich das in diesem Artikel erklärt, da habe ich auch angekündigt, eventuell mal was über den Begriff der Spannung zu schreiben, hat ja nicht mal 5 Jahre gedauert, bis ich das Versprechen wahr gemacht habe…)
Aber wenn an jedem Punkt die Kraft Null ist, warum ist dann das Gummiband gedehnt? Und warum schnappen die beiden Enden zurück, wenn ich es in der Mitte durchschneide?
Tatsächlich ist die Angelegenheit etwas komplizierter: Jeder Punkt im Gummi erfährt zwei Kräfte, eine nach links, eine nach rechts. Jede davon würde den Punkt beschleunigen, aber die Gegenkraft von der anderen Seite verhindert das. Wenn ich das Gummi durchschneide, dann fällt die Kraft von der einen Seite weg und das Gummi kann zurückschnappen. In der Summe sind diese beiden Kräfte Null, deswegen ist das Gummiband in Ruhe, aber zwei entgegengesetzte Kräfte, die beide Null sind, sind nicht dasselbe wie keine Kraft.
Schauen wir noch etwas genauer hin, dann sehen wir, dass hier zusätzlich das dritte Newtonsche Gesetz ins Spiel kommt: Kraft gleich Gegenkraft. Ausführlicher: Wenn ein Körper eine Kraft auf einen zweiten ausübt, dann übt der zweite Körper auch eine Kraft auf den ersten aus, die genau entgegengesetzt ist. Wir können das Gummiband gedanklich in zwei Teile teilen – der linke Teil übt eine Kraft auf den rechten aus und umgekehrt, beide sind entgegengesetzt, in der Summe ergibt sich an jedem Punkt Null. (Es ist ein nettes Gedankenexperiment, sich vorzustellen, das 3. Newton-Gesetz würde nicht gelten. Das mache ich hier nicht, habe ich aber in meinem Buch zur Relativitätstheorie getan.)
Der Begriff der Spannung
Bisher habe ich nur von Kräften geredet, nicht von Spannungen. Warum der Begriff der Spannung sinnvoll ist, seht ihr, wenn ihr das Gummiband gedanklich wieder in zwei Teile teilt, diesmal aber der Länge nach. Um jede einzelne der beiden Hälften zu dehnen, braucht ihr logischerweise die halbe Kraft. Wenn ihr euch fragt, was im Material passiert, dann ist es einem kleinen Stück Gummi egal, ob es zu einem Band mit voller oder mit halber Breite gehört, lokal an diesem Punkt passiert genau dasselbe.
Deswegen ist es sinnvoll, die Kraft auf die Fläche zu beziehen, und genau das nennt man die Spannung. Die Spannung ist also definiert als Kraft pro Fläche. Wenn ich eine Kraft von einem Newton brauche, um das Gummi um einen Zentimeter in die Länge zu ziehen, dann brauche ich nur ein halbes Newton für ein halb so breites Gummiband und zwei Newton für ein doppelt so breites. In jedem Fall passiert im Material dasselbe, es ist nur mal mehr, mal weniger Material da. (Das ist auch praktisch wichtig: Wenn ihr einen Kran aus Stahl bauen wollt, wollt ihr die Materialeigenschaften nicht an meterlangen Stahlproben oder ganzen Kränen messen, sondern an kleinen, handhabbaren Proben. Sonst geht es euch wie dem Vater bei Calvin und Hobbes…)
(Kleine Nebenbemerkung: genauso wie es sinnvoll ist, die Kraft auf die Fläche zu beziehen, ist es auch sinnvoll, die Längenänderung auf die Länge zu beziehen. Wenn ihr mit einer Kraft von 1 Newton ein 10cm langes Gummiband um 1cm in die Länge ziehen könnt, dann könnt ihr mit derselben Kraft ein 20cm langes Gummiband um 2cm in die Länge ziehen. Das muss so sein, wenn ihr wieder mit Kraft=Gegenkraft argumentiert. Teilt das Gummi gedanklich der Länge nach in zwei Hälfte, am linken Ende des linken und am rechten Ende des rechten Gummis wirkt die Kraft 1N, also wirkt diese Kraft auch in der Mitte von jeweils einer Hälfte auf die andere. In der Mechanik guckt man deswegen auf die Dehnung, das ist die Längenänderung bezogen auf die Länge, hier ist sie also 10%. Und damit wisst ihr jetzt auch, warum wir MaterialwissenschaftlerInnen uns dauernd mit so genannten Spannungs-Dehnungs-Kurven herumschlagen müssen…)
Zurück zur Spannung. Die ist also definiert als Kraft pro Fläche. Kräfte haben eine Richtung (ich ziehe ja am Gummi auf der einen Seite nach links, auf der anderen nach rechts), also sollte auch die Spannung eine Richtung haben. Fragt sich nur, welche. Wenn ihr wieder die Mitte unseres Gummibands betrachtet, seht ihr, dass das nicht so offensichtlich ist: Hier wirkt ja eine Kraft von rechts, die das Gummi nach rechts ziehen will, und eine von links, die das Gummi nach links ziehen will. Zeigt die Spannung nun nach links oder nach rechts?
Die Antwort auf diese Frage lautet: “Ja”. Oder auch “nein”, ganz wie ihr wollt. Bevor ihr jetzt denkt, dass mir der aktuell herrschende Dauerregen aufs Hirn geschlagen ist, keine Sorge. Ist er nicht. (Glaube ich jedenfalls. Wobei ich mich natürlich fragen muss, ob ich es merken würde, wenn es anders wäre…)
Was ich gerade zu erklären versuche ist, dass die Richtungsabhängigkeit der Spannung etwas komplizierter ist als die einer Kraft. Wenn wir an beiden Enden des Gummibands ziehen, dann ist der Spannungszustand im Gummi eben so, dass an jedem Punkt des Gummis zwei Kräfte wirken, die diesen Punkt jeweils nach außen hin ziehen wollen. Deshalb nennen wir so etwas eine Zugspannung.
Man kann sich das auch so veranschaulichen, dass man sich fragt: Wenn ich das Gummiband zerschneiden würde, aber trotzdem dafür sorgen möchte, dass es seine Form dabei nicht ändert, welche Kräfte bräuchte ich dafür? Dann seht ihr, dass ihr auf die Schnittfläche der linken Seite eine Kraft nach rechts ausüben müsst, auf die Schnittfläche der rechten Seite eine Kraft nach links. So erklären es übrigens auch die meisten Bücher zur Mechanik.
Umgekehrt gibt es auch Druckspannungen. Die kann man mit einem Gummiband nicht so gut zeigen, aber mit einem Gummiklotz (z.B. einem weichen Radiergummi) schon: Nehmt das Radiergummi zwischen zwei Finger und drückt zusammen. Wenn ihr jetzt eine Ebene in der Mitte des Gummis betrachtet, wirken wieder zwei Kräfte, eine von links, eine von rechts, die sich gegenseitig aufheben. Diesmal wirken die beiden Kräfte aber jeweils in die andere Richtung, von links kommt eine Kraft, die nach rechts wirkt, von rechts kommt eine Kraft, die nach links wirkt.
Die Spannung hat also eine komplizierte Richtungsabhängigkeit. Wie kompliziert die werden kann, sehen wir gleich noch etwas genauer, aber ihr könnt schon an diesem einfachen Beispiel, wo wir nur ziehen oder drücken, sehen, dass die Spannung etwas anderes ist als eine Kraft, denn eine Kraft hat immer eine einzige, klar definierte Richtung. (Mathematisch ist die Kraft damit ein Vektor.) Interessanterweise wird diese Subtilität in keinem Buch zur Mechanik so erklärt, wie ich es hier tue, und zumindest mich hat die Frage “Warum genau ist eigentlich eine Zug- oder Druckspannung in einer Richtung nicht einfach eine Kraft, obwohl sie als Kraft pro Fläche definiert ist?” am Anfang immer etwas verwirrt.
Noch mehr Richtungen
Ich hoffe, ihr seid noch nicht zu verwirrt, denn es wird noch etwas komplizierter. Nehmt wieder das Radiergummi zur Hand, aber statt draufzudrücken, schert ihr es jetzt ab: Haltet es an der Unterseite fest und verschiebt jetzt die Oberseite parallel zur Unterseite nach rechts. Wenn ihr wollt, könnt ihr vorher ein senkrechtes Kreuz auf das Gummiband malen, dann seht ihr, dass die Linien des Kreuzes jetzt nicht länger oder kürzer werden, sie ändern aber ihren Winkel zueinander. So etwas nennt man eine Scherung, die zugehörige Spannung heißt Scher- oder Schubspannung.
Was passiert hier? Denkt euch wieder eine Ebene in der Mitte des Gummis, entlang derer ihr das Gummi zerschneidet. Jetzt würde die untere Seite des Gummis sich nach links bewegen, die obere nach rechts. Wir haben jetzt also eine Kraft, die parallel zu der gedachten Schnittfläche wirkt, nicht senkrecht dazu wie vorher bei der Zug- oder Druckspannung. (Nebenbemerkung: Man kann so eine Schubverformung allerdings auf eine reine Dehnung und Stauchung zurückführen: Denkt euch ein kleines Quadrat, das ihr abschert, so dass daraus eine Raute wird. Ihr könnt dieselbe Verformung dadurch bekommen, dass ihr das Quadrat entlang der einen Diagonalen in die Länge zieht, entlang der anderen staucht. (Mathematisch nennt man das eine Hauptachsentransformation.) Hmm, heute bin ich Klammerkönig…)
Schauen wir noch einmal zurück auf unsere Zug- (oder Druck-) Spannung. Da haben wir die Schnittebene quer zum Gummiband (oder Gummiklotz) gelegt, senkrecht zur Richtung der Kraft. Wir hätten sie allerdings auch parallel zum Gummiband legen können, so dass wir das Band gedanklich der Länge nach in zwei Teile teilen, so wie wir es gemacht haben, als wir uns überlegt haben, dass die Spannung als Kraft pro Fläche definiert werden sollte. Wenn wir das Band tatsächlich so zerschneiden, passiert schlicht gar nichts, denn auf diese Ebene wirkt ja keine Kraft.
Findet ihr das verwirrend? Es wirkt doch immer noch die Kraft längs des Gummibands. Das ist richtig, aber diese Kraft wirkt auf beiden Seiten der Schnittebene genau in gleicher Weise, es gibt also keinen Grund, warum irgendetwas passieren sollte, wenn man das Gummiband in dieser Richtung zerschneidet. Zerschneide ich das Band so, muss ich auf die Schnittfläche eben keine Kraft aufbringen, damit es seine aktuelle Form beibehält.
Dasselbe gilt für den abgescherten Gummiklotz: Wenn ihr ihn in senkrechter Richtung in zwei Teile teilt, passiert ebenfalls nichts, ihr habt jetzt einfach zwei abgescherte Gummiklötze.
[Noch ein Hinweis für die ganz Genauen: Wenn ihr jetzt sagt “Moment, die Schnittebene müsste doch unter einem schrägen Winkel liegen, weil ich das Material ja abschere”, dann habt ihr streng genommen natürlich vollkommen recht. Das müsste man tun, es macht die Sache aber (zumindest für beliebige Spannungszustände) sehr viel komplizierter, plötzlich müsst ihr euch mit so Größen wie Deformationsgradienten herumschlagen, müsst euch fragen, ob ihr lieber die Kirchhoff-, die Cauchy- oder doch die Mandelstahm-Spannung nehmen müsst und amüsiert euch mit Differentialgeometrie in gekrümmten Räumen. Kann man machen (und wenn man Spannungsberechnungen für Bauteile macht, tut man das auch, kann sich aber normalerweise drauf verlassen, dass die Leute, die die jeweilige Software programmiert haben, das richtig gemacht haben), aber das ist dann wirklich etwas jenseits dessen, was hier auf dem Blog geht. (Und so wahnsinnig gut kenne ich mich da auch nicht aus…) Ich nehme hier einfach mal an, dass die Abscherungen und Verformungen alle so klein sind, dass diese Unterschiede keine Rolle spielen.]
Damit sehen wir noch einmal ganz klar, dass die Spannung eine komplizierte Richtungsabhängigkeit hat: Sie hängt ab von der Richtung, in der wir unser Bauteil gedanklich zerschneiden, und von der Richtung der Kraft, die dann auf diese Ebene wirkt. Mathematisch ist so etwas ein Tensor. Um die Spannung vollständig zu beschreiben, reicht deshalb eine Zahl nicht, ihr braucht (in drei Dimensionen) sechs Zahlen. (Es sei denn, ihr habt es mit einem Cosserat-Kontinuum zu tun, dann braucht ihr neun.)
Ihr könnt diese komplizierte Richtungsabhängigkeit auch daran sehen, dass wir unseren Gummiklotz ja gleichzeitig in einer Richtung zusammendrücken und in einer anderen Richtung dran ziehen können. (Das hatte ich oben bei der Abscherung ja schon erwähnt.) Damit haben wir dann an einem Punkt also eine Druchspannung in einer Richtung und eine Zugspannung in einer anderen Richtung.
Spannungsfelder
Falls euch das alles noch nicht kompliziert genug war, hier noch eine weitere wichtige Komplikation: Die Spannung muss nicht überall dieselbe sein. In unserem Gummiband oder -klotz war sie das, weil wir sie in einfacher Weise verformt haben und weil sie auch eine einfache Form hatten. Dass es nicht immer so einfach sein muss, seht ihr, wenn ihr euch vorstellt, dass euer Gummiband an einer Stelle etwas schmaler ist. Dann habt ihr ihr weniger Querschnittsfläche, die Spannung (Kraft pro Fläche) muss hier also zunehmen. Weit weg von der Verengung im Gummiband ist die Spannung überall dieselbe und alle Kräfte wirken parallel zum Band. Aber wenn ihr der Verengung näherkommt, dann muss die Kraft umgeleitet werden. Die Spannung ist dann höher und zusätzlich wird auch der Spannungszustand komplizierter, weil nicht mehr alle Kraftlinien parallel zum Band liegen.
Bild aus Rösler, Harders, Bäker, “Mechanisches Verhalten der Werkstoffe”, Springer Verlag
In der Realität ist es so, dass die Umlenkung der Kraftlinien dazu führt, dass die Spannung direkt am Rand der Verengung überhöht ist – sie ist nicht einfach Kraft pro (verkleinerte) Fläche, sondern tatsächlich noch größer. Diese sogenannte “Kerbwirkung” hat im Laufe der Geschichte zu vielen versagten Bauteilen geführt, damit umzugehen ist etwas, dass Maschinenbau-Studis deshalb lernen müssen. (Der Effekt ist um so schlimmer, je schärfer der Kerb ist, ganz extrem ist die Situation bei Rissen, das habe ich auch schon mal im Detail erklärt.)
In einem realen Bauteil (und die meisten Bauteile sind ja noch wesentlich komplizierter geformt als ein Gummiband, selbst mit Verengung) ist die Spannung also an jedem Ort eine andere. Weil man in der Mathematik Größen, die vom Ort abhängen, Felder nennt, spricht man deshalb auch von einem “Spannungsfeld”.
Zum Abschluss mal ein Beispiel aus meiner eigenen Forschung. Ihr seht die Spannung (genauer gesagt, die senkrechte Spannungskomponente S11) an der Grenzfläche zwischen einem Material und einer darüber liegenden Wärmedämmschicht. Die beiden haben unterschiedliche Wärmeausdehnungen, deshalb entstehen bei Temperaturänderung Spannungen:
In rot sind hier Zugspannungen, in blau Druckspannungen, man sieht also, dass an der (gekrümmten) Grenze rechts oben im Bild Zugspannungen herrschen; hier könnte sich dann die Schicht ablösen.
Und warum ist das alles wichtig?
Die Spannung in einem Bauteil zu kennen, ist natürlich ziemlich wichtig, wenn ihr etwas konstruieren wollt. (Es sei denn, ihr macht es wie Calvins Vater…). Wenn ihr wisst, dass eure Legierung bei einer Spannung von 300 Newton pro Quadratmillimeter anfängt, sich plastisch zu verformen, dann könnt ihr die Spannung im Bauteil berechnen und sehen, ob sie irgendwo diesen Wert erreicht. (Aufmerksame LeserInnen fragen jetzt “Moment mal, die Spannung hat doch ne komplizierte Richtungsabhängigkeit und ich brauche 6 Zahlen, um sie vollständig zu beschreiben. Welche davon muss ich denn nehmen?” Das ist eine gute Frage. Ihr könnt dazu in Metallen folgendes tun: Ihr messt die kritische Spannung in eurem Material in einem Zugversuch, wo also die Spannung eine reine Zugspannung in einer Richtung ist. Wenn ihr einen komplizierten Spannungszustand mit seinen 6 Zahlen habt, dann könnt ihr den in eine spezielle mathematische Formel stopfen, die euch eine Zahl auswirft, die ihr mit dem kritischen Wert vergleichen könnt, den ihr im Zugversuch gemessen habt. In Keramiken ist die Situation anders, die sind vor allem rissempfindlich, da ist immer die maximale Zugspannung interessant.)
Und wie berechnet man die Spannung an jedem Punkt in einem Bauteil, also so ein Spannungsfeld? Das macht man heutzutage mit der sogenannten Finite-Element-Methode. Aufwändige (und teure) Computerprogramme können die Spannung im Bauteil berechnen, wenn ihr die Geometrie, die Lasten und alle weiteren Daten einfüttert, so wie in meinem Beispiel der Schicht. Wie das geht? Das erkläre ich euch gern ganz detailliert, fangt einfach an, bei uns an der TU Braunschweig Maschinenbau zu studieren und besucht meine “Praxisvorlesung Finite Elemente”.
PS: Dank an @bewitchedmind auf twitter für die Idee zu diesem Text (o.k., das hattest du wohl nicht erwartet…)
]]>10 Jahre lässt sich wohl sagen, dass das Experiment ein Erfolg war. Inzwischen habe ich über 600 Beiträge geschrieben. Meistens ging es dabei um Wissenschaft, aber nicht immer.
Schwerpunktthemen waren meist doch die Grundlagen der Physik, vor allem Quantenmechanik und Relativitätstheorie. Obwohl eine der ersten Artikelserien, die ich geschrieben habe, sich mir der Allgemeinen Relativitätstheorie befasst hat, hätte ich mir damals nie träumen lassen, dass ich mal ein Buch zum Thema schreiben würde. Ohne den Blog hätte ich mich nie so tief in die ART hineinvertieft, dass das möglich gewesen wäre.
Ähnlich war es mit der Quantenfeldtheorie – ART und QFT habe ich zwar im Studium gelernt, aber richtiges Verständnis hatte ich nie wirklich, das kam erst durch den Blog. (Und der Moment, wo ich im ICE nach Köln zu einem Projekttreffen unterwegs war und plötzlich begriff, was eigentlich ein Zustand in der QFT ist, wird mir hoffentlich immer im Gedächtnis bleiben.) QFT und Quantenmechanik sind immer das zweite große Physik-Thema hier auf dem Blog gewesen; schaut einfach bei den Artikelserien, da findet ihr ziemlich viel dazu, wenn ihr euch erinnern wollt, was ich alles geschrieben habe (alternativ hilft auch die tag-Wolke). Und bevor jemand fragt, ob ich jetzt ein Buch zur QFT schreibe – nein, tue ich nicht. Ich hatte zwar eine Idee dazu, die hat aber nicht ganz so funktioniert wie ursprünglich gedacht. Ich bastle (schon seit einiger Zeit) an einem Buch zum Thema Quantenmechanik, aber das braucht noch etwas – und ob ich für eine seltsame Chimäre aus Sachbuch und Science-Fiction-Roman einen passenden Verlag finde, muss ich dann auch mal schauen, wenn es soweit ist… (Aber falls ihr euch gewundert habt, warum ich im Moment wenig schreibe – das ist ein Grund.)
Und mein zweites Hauptthema waren Dinosaurier (und andere ausgestorbene Tiere, aber die sind ja nicht soo cool). Ich habe öfter mal neu entdeckte Fossilien oder neue Interpretationen von Fossilien vorgestellt – mache ich in letzter Zeit seltener; nicht nur, weil ich generell weniger Zeit zum Bloggen habe, sondern auch, weil ich inzwischen meist schon zahlreiche Artikel in anderen Medien zu neuen Funden finde, die schneller schreiben können als ich, weil sie dafür bezahlt werden. Mit diesem Thema hing ein anderes oft zusammen – die Biomechanik. Wir haben öfter mal aufs Laufen geguckt (bei Dinos, bei Spinnen, bei Tieren allgemein), die Bisskraft von Dinos und anderen Tieren war öfter mal Thema, und um Knochen ging es auch ab und zu.
Und davon abgesehen habe ich immer mal über alles gebloggt, was mich irgendwie gerade interessiert hat – sei es das Drehen von Eiern, Landwirtschaft bei Schleimpilzen, raschelnde Chipstüten oder eine Tarnkappe.
Ab und zu habe ich auch über die Wissenschaft selbst nachgedacht, habe versucht, zu definieren, was Wissenschaft eigentlich ist, ob man Angst vor der Wissenschaft haben muss und wo solche Ängste herkommen und ob und wie sie sich von anderen Ideen, die Welt zu verstehen, unterscheiden lässt (das ist tatsächlich der mit Abstand älteste Blogartikel, denn den Text habe ich irgendwann Anfang der 90er Jahre für die Erstsemester-Einführung geschrieben).
Und manchmal ging es auch um ganz andere Dinge und ich habe den Papst kritisiert oder – immer das kontroverseste Thema – etwas zu Sexismus im Alltag oder in der Grammatik geschrieben. (Falls jemand sich wundert, dass ich in letzter Zeit nicht mehr ausschließlich feminine Formen verwende; das hat seinen Grund, aber den erkläre ich wann anders, wenn ich genügend Kraft für den daraus garantiert resultierenden Shitstorm habe.) Laut Statistik hat dieser Blog inzwischen knapp 33000 Kommentare eingesammelt (über 10 Jahre a 365 Tage also knapp 10 am Tag), und sicherlich ein Drittel davon entfällt auf Artikel zu diesen Themen. (Die zur speziellen Relativitätstheorie ziehen auch immer viele Kommentare an, weil es ja seltsamerweise immer noch Leute gibt, die damit Probleme haben…)
Spaß hat’s das Bloggen natürlich auch gemacht, und ich habe auch ab und zu Späße gemacht – es gab Aprilscherze (das war vor den Zeiten von Fake news) über die Abstammung des Menschen oder über quietschende Eisenbahnbremsen, ich habe gegen Literaturwissenschaftler polemisiert über typische Dinosaurier-Dokus gelästert oder ein wenig auch mich selbst und meine Art zu bloggen auf die Schippe genommen. Auch einer der meistgelesenen Artikel des Blogs, der einen Monat mit um das dreifache angestiegenen Klickzahlen bescherte, war eher humorvoll (wenn auch mit traurig-wahrem Kern): das kleine Troll-Handbuch.
Ach ja, dieses Frühjahr habe ich auch noch knapp 40 Kapitel eines Kinderbuchs veröffentlicht; zumindest einige hatten anscheinend ja Spaß damit.
Und auch wenn ich inzwischen nicht mehr mit so viel Feuereifer blogge wie am Anfang (in den ersten Wochen gab es jeden Tag einen neuen Artikel!), ist das Bloggen immer noch eine tolle Sache. Und das liegt natürlich auch daran, dass ich ja nicht einfach nur schreibe, sondern dass Ihr hier fleißig kommentiert, diskutiert und manchmal auch kritisiert. Ohne ein solches Feedback wäre das Schreiben nur halb so interessant und ohne viele kluge Kommentare hätte ich manches auch nie gelernt, manchen Irrtum nie korrigiert und mich ohne das oft positive Echo auch vermutlich nie getraut, ein Buch zur Relativitätstheorie zu schreiben (merkt man, dass ich manchmal immer noch nicht so ganz glauben kann, dass es das Buch wirklich gibt?).
Und deshalb – das hat ja schon Tradition bei Artikeln zu diesem Blog – ein ganz herzliches Dankeschön an euch alle als treue Leserinnen und Leser des Blogs, wie üblich vorgetragen von der Drachenbande:
PS: Eigentlich wollte ich zu diesem Anlass ja noch einen etwas längeren und auch mehr reflektierenden Rückblick schreiben, aber mitten in meinem Urlaub machte mir heute morgen der Instituts-Backup-Server einen Strich durch die Rechnung, der plötzlich trotz RAID 6 mit einer defekten Festplatte nicht mehr klar kam. (Hat jemand Tipps, wie man einen QNAP mit vermutlich defekten Superblocks auf den Festplatten wieder dazu bringt, die Platten zu mounten? Nehmen wir gern…) So war ich dann heute morgen etwas anders beschäftigt.
]]>(Anmerkung: Sabine Hossenfelder hat vor ein paar Monaten auch etwas zum Thema gepostet, das ist auf jeden Fall auch lesens- oder ansehenswert.)
Ein Alltagsbeispiel
Nehmen wir an, ihr fahrt mit eurem Auto durch die Gegend. Um euren aktuellen Zustand zu beschreiben, müssen wir auf jeden Fall euren Ort kennen (wo seid ihr gerade?) und eure Geschwindigkeit (wie schnell fahrt ihr gerade?). (Ja, euer persönlicher Zustand hat noch ein paar mehr Variablen, aber die sind für die Physik meist zu kompliziert…). Den Ort zu bestimmen ist ganz einfach, dazu reichen die Koordinaten, z.B. als Längen- und Breitengrade, so wie euer GPS im Auto das tut. Die Geschwindigkeit ist etwas komplizierter, denn hier müssen wir nicht nur wissen, wie schnell ihr seid, sondern auch, in welche Richtung ihr fahrt.
Um die Geschwindigkeit anzugeben, können wir auch wieder das handelsübliche Koordinatensystem auf der Erdoberfläche nehmen, mit den beiden Achsen Nord-Süd (Vom Nord-zum Südpol) und Ost-West (Vom Ost- zum Westpol, auch wenn, wie Christopher Robin einst zu Puh dem Bären bemerkte, die Leute darüber nicht so gern reden). Wir können dann beispielsweise sagen “Das Auto fährt mit 10m/s nach Norden” oder “Das Auto fährt mit 10m/s nach Nordosten.”
So weit, so einfach. Wir geben den Wert der Geschwindigkeit an und die Richtung, in die das Auto fährt. Wir können das aber auch anders betrachten: Wenn ihr mit 10m/s nach Nordosten fahrt, dann bewegt ihr euch jede Sekunde etwa 7m Richtung Nordpol und 7m Richtung Ostpol. (Wer Spaß dran hat, kann das mit dem Satz des Pythagoras leicht ausrechnen.)
Mathematisch sind die beiden Betrachtungsweisen völlig äquivalent. Das bedeutet aber auch, dass ihr eure Bewegung auch so beschreiben könnt: “Die Geschwindigkeit ist die, die sich ergibt, wenn man mit 7m/s nach Norden fährt und gleichzeitig mit 7m/s nach Osten.” Eure Bewegung ist also in diesem Sinne eine Überlagerung aus zwei Geschwindigkeiten, einer nach Norden und einer nach Osten.
Daran ist nichts geheimnisvolles . Und dass eure Geschwindigkeit so eine Überlagerung ist, hat keine besondere physikalische Relevanz – wir könnten als Himmelsrichtungen, die wir zum Kennzeichnen der Geschwindigkeit nehmen, ja genau so gut die Achsen Nordost-Südwest und Nordwest-Südost nehmen. (o.k., das wird dann in der Nähe der Pole etwas knifflig, aber das soll mit jetzt egal sein.) In dem Fall ist dann eure Bewegung nach Nordosten eine entlang einer Achsen und keine Überlagerung, eine Bewegung nach Norden dagegen ist dann eine Überlagerung aus einer nach Nordosten und einer nach Nordwesten.
Dass man durch Überlagerung von zwei Bewegungen jede beliebige Bewegung in der Ebene bekommen kann, kennt ihr (zumindest wenn ihr wie ich kurz nach der Bronzezeit geboren wurdet) auch von solchen x-y-Plottern:
By Florian Schäffer – Own work, CC BY-SA 4.0, Link
Der Stift des Plotters bewegt sich über das Papier, indem der Wagen von links nach rechts fährt und der Stift auf dem Wagen von oben nach unten; durch Überlagerung der beiden Bewegungen können wir jede beliebige Kurve zeichnen.
Fazit: Eine Geschwindigkeit in einer beliebigen Richtung können wir als “Überlagerung” aus zwei Bewegungen entlang zweier (senkrechter) Achsen beschreiben. Das ist nicht besonders geheimnisvoll oder verwirrend, und auch wenn es etwas seltsam klingt zu sagen “Das Auto ist in einer Überlagerung aus einer Bewegung nach Norden und nach Osten” statt einfach “Das Auto bewegt sich nach Nordosten”, ist es ohne Zweifel richtig.
Polarisiertes Licht
Bleiben wir erst mal in der klassischen Physik. Licht ist – laut Maxwellscher Theorie – eine elektromagnetische Welle. So kann man sich so eine Welle vorstellen:
Von And1mu – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, Link
Das elektrische (E) und das magnetische (B) Feld oszillieren an einem Ort (im Idealfall mit einer Sinusfunktion wie hier) und stehen senkrecht aufeinander; die Welle breitet sich senkrecht zum E- und B-Feld aus.
Im Bild zeigt das E-Feld in die y-Richtung; es kann aber in jede beliebige Richtung zeigen. Solange die Richtung des E-Felds eindeutig definiert ist, spricht man von “polarisiertem Licht”. (Licht aus einer handelsüblichen Lampe ist nicht polarisiert, unterschiedliche Wellenzüge haben unterschiedliche Richtungen für das E-Feld – allerdings immer senkrecht zur Bewegungsrichtung und senkrecht zum B-Feld.) Kleiner Hinweis, nur der Vollständigkeit halber: Was ich hier beschreibe ist linear polarisiertes Licht, es gibt auch zirkular polarisiertes Licht, darauf gehe ich hier aber nicht ein…
Polarisiertes Licht kann man mit einem Polfilter erzeugen. Das folgende Bild zeigt, was passiert, wenn man Licht mit beliebiger Orientierung des E-felds durch einen Polfilter schickt:
Oben im Bild seht ihr, dass ein Lichtstrahl, der senkrecht polarisiert ist, vom ersten Filter durchgelassen wird, einer, der horizontal polarisiert ist, dagegen nicht. Hinter dem ersten Polfilter ist das Licht also senkrecht polarisiert. Trifft es jetzt auf einen zweiten Polfilter, der nur horizontal polarisiertes Licht durchlässt (durch die Linien auf dem Filter symbolisiert), dann wird es nicht durchgelassen.
Unten im Bild habe ich einen dritten Polfilter eingebaut, der um 45° gegen die beiden anderen gedreht ist. Interessanterweise wird jetzt Licht durchgelassen, weil ein Teil des senkrecht polarisierten Lichts durch diesen Polfilter durchgelangt.
Warum? Die Logik ist ähnlich wie eben bei unserer Fahrt nach Nordosten: Senkrecht polarisiertes Licht kann man sich vorstellen als eine Überlagerung von Licht, das schräg unter +45° polarisiert ist, und von Licht, das schräg unter -45° polarisiert ist. Und die eine dieser beiden Komponenten wird vom zweiten Polfilter durchgelassen und trifft auf den dritten Polfilter. Dort gilt wieder dieselbe Logik: Licht, das unter +45° polarisiert ist, kann man auffassen als Überlagerung von senkrecht und waagerecht polarisiertem Licht.
Anders als vorhin bei unserem Auto hat die Tatsache, dass wir den Zustand als Überlagerung ansehen können, jetzt also ganz unmittelbare physikalische Konsequenzen.
Mathematisch ist das Ganze leicht einzusehen (wenn ihr es nicht so gern mathematisch habt, überspringt diesen Absatz einfach): Das elektrische Feld ist ein Vektorfeld, hat also an jedem Punkt eine Richtung, Vektoren kann man in ihre Komponenten zerlegen, das ist genau das, was wir hier tun. Und die Maxwell-Gleichungen, die das Verhalten von Licht beschreiben, sind linear, d.h. wenn wir zwei Lösungen haben, dann ist auch deren Summe eine Lösung der Maxwellgleichung. Wenn wir also eine em-Welle haben, dann können wir deren E-Feld beliebig in Komponenten zerlegen und es kommt immer wieder eine Lösung heraus.
Nebenbei bemerkt: Ich finde, diese Anordnung ist eine exzellente Demonstration dafür, warum man in der Physik nur mit logischen Argumenten ohne Experimente nicht beliebig weit kommt. Polfilter absorbieren Licht. Es ist deshalb eigentlich vollkommen logisch, dass ein System, das Licht vollständig absorbiert (wie im oberen Bild), nicht plötzlich Licht durchlassen kann, wenn ich noch eine Komponente hinzufüge, die auch nur Licht absorbiert. Wenn ich mehr absorbierende Komponenten habe, sollte mehr Licht absorbiert werden. Stimmt aber wegen der besonderen Eigenschaften von polarisiertem Licht nicht.
Polarisierte Photonen
Als nächstes machen wir den Sprung zur Quantenmechanik (kurz QM) – denn um die soll es ja eigentlich gehen. In der Quantenmechanik beschreibt man Licht nicht als Welle, sondern als Teilchen. Licht besteht aus vielen einzelnen Photonen. (Das ist durchaus trickreich und wird tatsächlich nicht mal im Physikstudium im Detail anschaulich erklärt, aber ich habe mich mal hier an einer Erklärung versucht.) Für unsere Zwecke hier reicht ein (etwas vereinfachtes) Bild aber aus: Photonen sind Teilchen, die selbst auch polarisiert sein können, genau wie eine elektromagnetische Welle (die ja auch aus Photonen besteht). Wie genau sich eine Welle wie die oben im Bild aus Photonen zusammensetzt, brauchen wir nicht im einzelnen anzugucken. Wir können uns einfach vorstellen, dass wir das Licht immer weiter dimmen bis wir nur noch ein Photon pro Sekunde oder so durch unsere Polfilter schicken.
Photonen kann man nicht teilen – ein Detektor, der für Photonen des sichtbaren Lichts empfindlich ist (wie z.B. der CCD-Chip auf eurer Handykamera) misst entweder ein Photon oder auch nicht. (O.k. wenn ihr nicht ein seeeeehr teures Handy habt, macht das keine Bilder mit einzelnen Photonen, sondern nur, wenn ein Haufen davon gleichzeitig auf den Sensor trifft, aber jedes Photon, das absorbiert wird, ändert die Ladungsverteilung im Chip ein klein wenig.)
Was passiert also, wenn ein Photon auf einen Polfilter trifft? Nehmen wir wieder das untere Bild mit den drei Polfiltern. Nehmen wir an, das Photon hat den ersten Filter passiert und trifft jetzt auf den zweiten Filter unter 45°. Wird es absorbiert oder nicht?
Jetzt kommt der quantenmechanische Überlagerungszustand ins Spiel: Das Photon ist senkrecht polarisiert. Es befindet sich jetzt in einer Überlagerung aus dem Zustand “polarisiert unter +45°” und “polarisiert unter -45°”. (Mit geeigneter Trickserei kann man das auch nachweisen.) In der klassischen Physik wurde jetzt an diesem zweiten Polfilter 50% des Lichts absorbiert. In der QM geht das so nicht – halbe Photonen kann man nicht absorbieren.
Stattdessen kommt jetzt der quantenmechanische Zufall ins Spiel: Das Photon hat eine Wahrscheinlichkeit von 50%, absorbiert zu werden und eine Wahrscheinlichkeit von 50%, durchgelassen zu werden. Das ist der berühmte quantenmechanische Messprozess. Hinter dem Polfilter haben wir jetzt entweder ein Photon (wenn es durchgelassen wurde) oder nicht (wenn es absorbiert wurde).
Hinweis: Man könnte glauben, dass das Photon doch jetzt immer noch in einem Überlagerungszustand aus “absorbiert” und “durchgelassen” ist – aber wenn der Polfilter das Photon absorbiert, ändert sich der Zustand des Filters (er nimmt ja z.B.Energie auf), und das lässt sich im Prinzip messen. Der Zustand ist jetzt kein Überlagerungszustand mehr, denn entweder wurde die eine Möglichkeit realisiert oder die andere. Die Situation ist jetzt analog zu einer, in der wir mit ganz gewöhnlichen Wahrscheinlichkeiten operieren: Wenn ich eine Münze werfe, bekomme ich Kopf oder Zahl, aber es ist in der klassischen Physik eben nicht sinnvoll, von einer Überlagerung aus “Kopf” und “Zahl” zu sprechen, denn nur eine der Möglichkeiten kann tatsächlich auftreten. Mehr zu den daraus resultierenden Problemen bei der Interpretation der QM findet ihr in diesem Artikel.
Ähnlich wie in der klassischen Physik ist die Beschreibung des Zustands als Überlagerung aus +45° und -45° jetzt also hilfreich, weil wir damit herausbekommen können, was passiert – oder genauer, mit welcher Wahrscheinlichkeit was passiert. Würden wir den zweiten Polfilter aber auch senkrecht stellen, dann wäre es nicht so hilfreich, den Zustand “senkrecht polarisiert” als Überlagerungszustand aufzufassen. Ob ein Zustand ein Überlagerungszustand ist oder nicht, ist also nach wie vor eine Frage des Standpunkts und nichts fundamental physikalisches.
Doppelspalt
Als letztes werfen wir noch einen Blick auf das berühmteste Experiment der QM, den Doppelspalt. (Hier nur kurz, mehr dazu findet ihr in diesem Artikel oder auch hier.) Wir schicken unser Photon auf eine Wand, die zwei dicht benachbarte Spalten enthält (deswegen ja “Doppelspalt”) und beobachten auf einem Schirm dahinter ein Interferenzmuster (Achtung: das Bild ist sehr schematisch):
By inductiveload – Own work (Own drawing), Public Domain, Link
Im Rahmen der klassischen Physik, wenn wir Licht als em-Welle ansehen, kann man das, so wie in der Zeichnung, als Interferenz verstehen: Wellenberge und -täler der beiden Lichtwellen, die von den zwei Spalten ausgehen, können sich entweder “konstruktiv” überlagern (Berg trifft auf Berg und Tal auf Tal), so dass sich die Wellen verstärken, oder “destruktiv” (Berg trifft auf Tal oder umgekehrt), so dass sich die Wellen auslöschen.
Es gibt aber auch dann ein Interferenzmuster, wenn wir einzelne Photonen durch den Doppelspalt schicken, obwohl wir ja andererseits wissen, dass Photonen sich wie Teilchen verhalten und Teilchen (in der klassischen Physik) einen eindeutigen Weg haben. Ein klassisches Teilchen kann nur entweder durch den oberen oder durch den unteren Spalt gehen, aber nicht durch beide.
In der QM ist das aber anders: Das Photon hat zwei Möglichkeiten (naja, eigentlich gibt es noch eine dritte, sehr viel wahrscheinlichere Möglichkeit, nämlich dass ein einzelnes Photon irgendwo auf der Wand des Doppelspalts absorbiert wird, aber diese Photonen sind für die Betrachtung im Moment irrelevant): Es kann durch den oberen oder unteren Spalt gehen. Was dann hinten beim Schirm passiert ist, dass diese beiden Möglichkeiten sich überlagern und zur Interferenz führen. (Man kann das auch mit Wellen beschreiben – bei Elektronen nimmt man dazu die sogenannte Wellenfunktion der QM, bei Photonen ist das etwas trickreicher, aber kein prinzipielles Problem.) Jedes einzelne Photon taucht genau an einem Punkt des Schirms auf, aber wenn man sehr viele Photonen durch den Doppelspalt schickt, ergibt sich am Ende dasselbe Interferenzmuster wie in der klassischen Physik.
Um die Interferenz zu beschreiben, können wir den Zustand hinten am Schirm also wieder als Überlagerungszustand auffassen – er ist eine Überlagerung aus den beiden Zuständen “Photon durch oberen Spalt” und “Photon durch unteren Spalt”. Mit den Regeln der QM kann man dann tatsächlich das Interferenzmuster berechnen.
Es sieht also so aus, als hätten wir jetzt tatsächlich einen Fall gefunden, wo wir den Zustand des Photons als Überlagerungszustand beschreiben müssen, um das richtige Ergebnis zu bekommen. Das ist aber ein Irrtum. Genauso wie wir bei unserer Fahrt nach Nordosten das Koordinatensystem wechseln konnten und uns plötzlich entlang einer der Koordinatenachsen bewegten, und genauso wie wir den Zustand senkrecht polarisiert je nach Bedarf einfach als Zustand oder als Überlagerung aus +45° und -45° polarisiert ansehen konnten, genauso können wir auch den Zustand, bei dem das Photon durch beide Spalten geht, als “Achse” verwenden. Der Zustand ist dann in diesem Sinne kein Überlagerungszustand mehr.
Mathematischer Hinweis: Da es vorher zwei Basisvektoren zur Beschreibung gab (oberer Spalt oder unterer Spalt), muss es jetzt natürlich immer noch zwei geben. Die ergeben sich durch unterschiedliche Vorzeichen an den jeweiligen Ausdrücken; die beiden Zustände sind |1>=|oben> + |unten> und |2> = |oben> – |unten> (wobei ich mir die Normierungsfaktoren spare). Umgekehrt kann man dann den Zustand |oben> als Überlagerung aus |1> und |2> darstellen. Wer die Rechenregeln für dieses Spiel verstehen will, kann bei den Artikelserien klicken und meine Serie “Quantenmechanik verstehen” lesen, da erkläre ich das sehr detailliert.
Nach wie vor ist es also so, dass wir uns entscheiden können, ob wir den Zustand als Überlagerungszustand ansehen wollen oder nicht, je nachdem, was gerade mathematisch/physikalisch praktischer ist.
Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied: Vorher (bei den polarisierten Photonen) war jeder Zustand einer, der auch in der klassischen Physik sinnvoll ist. Das ist hier jedoch nicht mehr der Fall. Der quantenmechanische Zustand, bei dem das Photon “durch beide Spalten geht”, kann klassisch eben nicht existieren. Wenn wir also von klassischen Zuständen von Teilchen ausgehen, dann hat dieser Zustand schon einen anderen Charakter, denn er ist eine Überlagerung aus Zuständen, die in der klassischen Physik möglich sind.
Ganz so eindeutig ist es aber immer noch nicht: Denn wir haben ja gesehen, dass es bei Wellen auch in der klassischen Physik zu Interferenzen kommt. Wenn wir also den Wellenzustand aus dem Doppelspaltbild als klassisch möglichen Zustand auffassen, dann ist der Zustand, bei dem das Photon “durch beide Spalten geht”, doch wieder ein klassisch möglicher Zustand, aber eben einer für Wellen, nicht für Teilchen. Letztlich ist genau das der Grund, warum man in der QM so oft vom “Welle-Teilchen-Dualismus” spricht (naja, in der Populärwissenschaft tut man das, in der Physik selbst ist das kein großes Thema, weil man die Sache ja genau versteht, sie widerspricht halt nur ein wenig unserer Anschauung.)
Komplementarität
Tja, manche Dinge fallen einem erst beim Schreiben auf. Deswegen wird dieser – ohnehin schon lange – Artikel gleich noch etwas länger. Denn das, was ich gerade über die unterschiedlichen Möglichkeiten der Darstellung eines Zustands geschrieben habe, hängt tatsächlich eng mit dem quantenmechanischen Begriff der “Komplementarität” zusammen.
In der QM ist es so, dass wir bestimmte Größen eines Objekt nicht gleichzeitig beliebig genau definieren können – bekanntestes Beispiel hier für sind Ort und Geschwindigkeit (oder, wenn ihr es etwas physikalischer ausdrücken wollt, “Impuls”) eines Teilchens, beispielsweise eines Elektrons. Diese beiden Größen sind “komplementär”. Messt ihr beispielsweise den Ort eines Teilchens sehr genau, dann ist die Geschwindigkeit des Teilchens unbestimmt – das ist die berühmte Unschärferelation.
Was das mit den Überlagerungszuständen zu tun hat? Wenn man einen Zustand als Überlagerung von anderen Zuständen darstellen kann, dann sind die entsprechenden Größen genau in dieser Weise komplementär zueinander. Ein Elektron, das sich an einem Ort aufhält, kann ich mathematisch als eine Überlagerung von vielen Zuständen mit unterschiedlichen Werten der Geschwindigkeit darstellen. (Wie das genau geht, habe ich vor langer Zeit mal in meiner Serie zur Schrödingergleichung erklärt.) Umgekehrt beschreibt man ein Elektron, das eine bestimmte Geschwindigkeit hat, als eine Welle, bei der das Elektron sozusagen an jedem Ort zugleich sein kann – also als eine Überlagerung aus lauter Zuständen mit unterschiedlichen Orten. Wenn ich den Ort des Elektrons tatsächlich messe, bekomme ich einen bestimmten Wert heraus; aber welcher Wert es ist, ist zufällig; jeder Wert des Ortes hat dieselbe Wahrscheinlichkeit.
So war es ja letztlich auch bei unserem polarisierten Photon: Senkrecht polarisiert ist eine Überlagerung aus zwei Zuständen, nämlich +45° und -45°. Trifft das Photon auf einen Polfilter unter 45°, dann wird es mit 50% Wahrscheinlichkeit durchgelassen und mit 50% Wahrscheinlichkeit absorbiert – welcher der beiden Fälle eintritt, bestimmt der Zufall, in jedem Fall wird der Zustand des Photons aber verändert. Die Zustände sind also in genau diesem Sinne zueinander komplementär – wenn ich weiß, dass der Zustand “senkrecht polarisiert” ist, dann kann ich keine Aussage über die Polarisation unter 45° machen. (Beim Doppelspalt gerade war es ähnlich – wissen wir, durch welchen Spalt das Photon geht, dann verschwindet das Interferenzmuster; wissen wir es nicht, dann gibt es ein Interferenzmuster.)
In der klassischen Physik war das anders: Wenn ich mit 10m/s nach Nordosten fahre, dann messe ich für die Geschwindigkeit in Richtung Norden eben etwas mehr als 7m/s – es gibt aber hier keinen Zufall und auch keine Veränderung des Zustands meines Autos.
Fazit
Überlagerungszustände selbst sind also keine Eigenheit der QM, es gibt sie auch in der klassischen Physik. Das Besondere an der QM ist zum einen, dass man Zustände überlagern kann, bei denen das in der klassischen Physik nicht möglich ist – dort hat ein Teilchen immer genau einen Ort und kann nicht in einer Überlagerung aus mehreren Orten sein. Zum anderen sind manche Zustände zueinander komplementär – wenn wir den Zustand des Teilchens bezüglich einer Messung (beispielsweise die senkrechte Polarisation) kennen (so dass er bezüglich dieser Messung kein Überlagerungszustand ist), dann ist er eine Überlagerung aus anderen Zuständen (polarisiert unter +45° und -45°) und wir wissen nichts darüber, was wir messen werden, wenn wir diese Messung machen, weil die Messung das System in einen der beiden möglichen Zustände “zwingt”.
Wieder einmal ist das Besondere an der QM also letztlich der Messprozess, die (nach wie vor rätselhafte) Tatsache, dass eine Messung einer Größe den Zustand des Systems sprunghaft und vollkommen zufällig verändert.
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Nachdem wir schon gesehen haben, dass es letztlich Quanteneffekte sind, die verhindern, dass wir durch den Fußboden fallen, und dass wir die Eigenschaften von Metallen nur mit der Quantenmechanik (QM) erklären können, schauen wir heute auf einen anderen Alltagsgegenstand, den ihr alle besitzt (sonst könntet ihr diesen Text nicht lesen): Computer. (Einschließlich Handys, Tablets etc.)
Halbleiter
Computerchips sind deshalb so nützlich, weil sie Bauelemente enthalten, in denen man die elektrische Leitfähigkeit von Bauteilen auf ein Signal hin ändern kann. Man kann damit so genannte “Logische Gatter” basteln, beispielsweise ein UND-Gatter, bei dem die Ausgangsleitung (Y) nur dann ein Signal führt, wenn beide Eingangsleitungen (A und B) es tun:
Bild von Stefan506 CC BY-SA 3.0, Link
Nur wenn auf Leitung A und B ein Signal (eine logische 1) anliegt, gibt es auch bei Y ein Signal, sonst nicht. Genauso kann man ein ODER-Gatter bauen (Y ist eins wenn A oder B [oder beide] 1 sind), ein Nicht-Gatter (Hat nur eine Eingangsleitung, wenn eine 1 ankommt, kommt eine 0 raus und umgekehrt) usw.
All das funktioniert, weil Computerchips Halbleiter enthalten.
Halbleiter sind Materialien wie Silizium und Germanium. Im Periodensystem der Elemente (das man natürlich auch nur dank der QM verstehen kann, die ist wirklich überall, sollte ich vielleicht irgendwann nochmal erklären, auch wenn ich es in diesem Artikel schon ein bisschen getan habe) stehen sie unter dem Kohlenstoff. Sie haben 4 Elektronen auf der äußersten Elektronenschale, da ein Atom am liebsten 8 Elektronen dort hat, können sie Bindungen eingehen und so große Kristalle bilden, in denen jedes Atom mit 4 anderen verbunden ist. (Kohlenstoff kann das auch, aber die Bindung beim Kohlenstoff ist sehr stark, deswegen ist der kein Halbleiter.)
Silizium und Germanium sind deshalb auch keine Metalle (die geben ja Elektronen in ein “Elektronengas” ab), sondern Isolatoren. Im letzten Artikel über Metalle haben wir schon gesehen, dass es bei solchen Isolatoren eine energetische Lücke zwischen den besetzten und den unbesetzten Zuständen gibt:
Bild aus meinem Buch “Funktionswerkstoffe”
Im sogenannten Valenzband sind aller Zustände mit Elektronen voll besetzt (jeder Zustand hat ja nur Platz für zwei Elektronen, das ist das berühmte Pauli-Prinzip der Quantenmechanik), dann gibt es einige Energiewerte, bei denen es keine Zustände gibt, dann folgt das sogenannte “Leitungsband”.
Wenn ein Elektron im Leitungsband ist, dann sind dort viele Zustände frei und unbesetzt, das Elektron kann deshalb seinen Zustand problemlos ändern und beispielsweise einen Zustand annehmen, in dem es sich in eine Richtung bewegt. Ein Elektron im Leitungsband kann also Strom tragen, wenn man ein elektrisches Feld anlegt. Aber in unserem Silizium (oder Germanium) scheint das ja wegen der Energielücke (oder Bandlücke) nicht zu gehen.
Wieso heißen diese Materialien dann Halbleiter, wenn sie doch anscheinend Nichtleiter (Isolatoren) sind?
Hier kommt jetzt – wie beim letzten Mal – die Wärmeenergie ins Spiel. Bei Temperatur Null, also ohne Wärmeenergie, sind alle Elektronen im Valenzband. Aber sobald wir die Temperatur erhöhen, können wir ja Elektronen Energie zuführen, denn Wärme ist ja eigentlich nichts anderes als Gratisenergie für irgendwelche atomaren Prozesse. (Oder physikalisch korrekter ausgedrückt: Wenn ihr ein System im Kontakt mit einem Wärmebad habt, dann gibt es eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein atomarer Prozess, der Energie benötigt, diese Energie aus dem Wärmebad entnimmt. Details dazu findet ihr auch in meiner uralten Artikelserie zur Thermodynamik, klickt auf die Artikelserien-Liste.)
Allerdings ist die Energie, die man braucht, um ein Elektron über die Bandlücke zu heben, vergleichsweise groß gegen typische Energien. Es ist deshalb sehr unwahrscheinlich, ein Elektron in Silizium ins Leitungsband zu bekommen. Auf der anderen Seite hat Silizium aber auch ziemlich viele Elektronen (ein Kubikzentimeter Silizium hat etwa 50 000 000 000 000 000 000 000 oder kurz geschrieben 5e22 Atome). Zwar wird bei Raumtemperatur nur jedes Zehnbillionste Atom (eins von 10 000 000 000 000 oder 1:1e13) thermisch so stark angeregt, dass es sein Elektron ins Leitungsband schafft, aber das reicht, um eine gewisse Leitfähigkeit zu erreichen. Die ist zwar einige Größenordnungen kleiner als in Metallen, aber ein Isolator ist unser Halbleiter damit bei Raumtemperatur nicht mehr.
Löcherleitung
Wenn ein Elektron ins Leitungsband gehoben wird (soll also heißen, wenn ein Elektron so viel Energie bekommen hat, um über die Bandlücke zu kommen), dann ist der entsprechende Zustand, in dem das Elektron vorher war, jetzt ja unbesetzt. Im Valenzband fehlt also jetzt ein Elektron, es bleibt ein unbesetzter Zustand zurück, den man auch “Loch” nennt. Interessanterweise können auch Löcher Strom leiten.
Zu jedem der Zustände eines Elektrons gehört ja nicht nur eine Energie, sondern auch eine Geschwindigkeit. Im voll besetzten Valenzband gehört zu jedem Zustand, in dem ein Elektron nach rechts fliegt, einer, in dem das Elektron nach links fliegt, im Mittel hebt sich also alles auf.
Wenn aber beispielsweise ein Zustand unbesetzt ist, der zu einem Elektron gehört, das Geschwindigkeit Null hat, dann kann dieser Zustand von einem Elektron besetzt werden, das sich beispielsweise nach rechts bewegt hat. Damit haben wir jetzt in der Summe mehr Elektronen, die nach links fliegen (weil eins, das nach rechts geflogen ist, das jetzt nicht mehr tut), und damit haben wir jetzt auch einen Strom. Diese Art der Stromleitung nennt man “Löcherleitung”.
Das (halb-)klassische Modell
“Hey, hey, nicht so schnell”, mag jetzt der eine oder die andere sagen. “In der Schule hatte ich auch Halbleiter, und da haben wir das alles ohne viel Quantenmechanik erklärt.” Richtig. Man kann einige Aspekte von Halbleitern ganz gut mit folgendem einfachen Modell verstehen, das ich am besten mit einem Bild erkläre:
Bild aus meinem Buch “Funktionswerkstoffe”
Hier seht ihr einen schematisch (in zwei Dimensionen) gezeichneten Silizium-Kristall. Bei zwei der Si-Atome hat sich ein Elektron (durch die thermische Energie) aus der Bindung losgerissen, zurück bleibt ein positiv geladenes Si-Atom (also ein Ion), dem ein Elektron fehlt, bei dem also jetzt eine positive Ladung sitzt. Und in einem elektrischen Feld bewegen sich jetzt die Elektronen alle in eine Richtung, also kann die “Fehlstelle” sich in die andere Richtung bewegen:
Bild aus meinem Buch “Funktionswerkstoffe”
Das Bild ist wirklich nicht schlecht und veranschaulicht das Verhalten von Elektronen und Löchern ganz gut. (Sonst würde ich es ja auch nicht in meiner Vorlesung zeigen.) Qualitativ gibt es einen guten Eindruck von dem, was passiert.
Aber die Quantenmechanik brauchen wir trotzdem. Zum einen natürlich schon deshalb, weil man ohne QM gar nicht verstehen könnte, wie die Bindung im Silizium überhaupt funktioniert. Zum anderen aber auch deshalb, weil das Verhalten von Elektronen und Löchern in Halbleitern etwas seltsam ist.
Beweglichkeit
Eine wichtige Größe in Halbleitern ist die sogenannte “Beweglichkeit”. Die gibt an, wie leicht sich die Ladungsträger (also Elektronen oder Löcher) bewegen können. Legt man ein elektrisches Feld an, werden die Elektronen (und Löcher) beschleunigt, bis der elektrische Widerstand eine weitere Beschleunigung verhindert. (Wie das im einzelnen funktioniert, erklärt man übrigens auch über die QM, das mache ich heute aber nicht…) Das Verhältnis aus Geschwindigkeit und Feldstärke ist dann die Beweglichkeit. Im einfachen Bild der Löcher bewegen sich Löcher ja, weil sich Elektronen bewegen. Man könnte also vermuten, dass die Beweglichkeit der Elektronen und Löcher gleich sein sollte, denn wenn sich Löcher bewegen, sind es ja letztlich auch Elektronen, die von einer Bindung zur nächsten hüpfen. Das ist aber nicht der Fall – die Beweglichkeit von Elektronen und Löchern kann stark unterschiedlich sein, in Si sind die Elektronen etwa 3-4mal beweglicher als die Löcher, im Halbleiter Indium-Antimonit aber etwa 60-mal. (Gut, man könnte versuchen zu argumentieren, dass es in einem Fall gebundene Elektronen sind, im anderen nicht. Qualitativ ist das o.k., aber Zahlen kann man so nicht vorhersagen.)
Die QM kann diese Effekte auch quantitativ erklären, weil sie die Wechselwirkung der Elektronen (oder Löcher) mit dem Kristallgitter beschreiben kann. Dazu muss man sich die Zustände der Elektronen etwas genauer angucken. Bisher haben wir ja das Bändermodell einfach nur mit Energien dargestellt, so wie im Bild oben, aber wenn man genau verstehen will, was die Elektronen im Kristall tun, muss man zusätzlich auch ihren Wellencharakter anschauen.
Elektronen lassen sich in der QM ja als Wellen darstellen. Bei freien Elektronen (die also nicht an irgendwelche Atome oder so gebunden sind) ist die Energie um so größer, je kleiner die Wellenlänge dieser Welle ist. Meist verwendet man zum Schreiben dieser Beziehung nicht die Wellenlänge, sondern die sogenannte “Wellenzahl” k, die ist im Wesentlichen der Kehrwert der Wellenlänge. Für freie Elektronen gilt einfach, dass E proportional zum Quadrat der Wellenzahl ist (E~k²). Malt man die Beziehung zwischen E und k auf, ergibt sich also eine Parabel:
Wenn sich die Elektronen aber in einem Kristallgitter tummeln, so wie sie das im Silizium tun, dann sieht das entsprechende Bild (Bänderdiagramm genannt) deutlich komplizierter aus:
Bild aus meinem Buch “Funktionswerkstoffe”
Dieses Bild zeigt das Bänderdiagramm von Silizium; ihr seht schon, dass es etwas komplizierter ist als die einfache Parabel. (Ein Teil der Komplexität kommt dadurch, dass ich den dreidimensionalen Charakter der Wellen im Bild mit eingebaut habe, aber Dinge wie die Bandlücke stammen direkt von der Wechselwirkung mit dem Kristallgitter.) Links seht ihr schematisch das Valenz- und Leitungsband eingezeichnet, die Linien zeigen, zu welchem Wert der Wellenzahl welche Energie gehört. (Auf Kürzel wie L, Gamma und X gehe ich hier nicht ein.)
Aus solchen Diagrammen kann man jetzt direkt Rückschlüsse auf die Beweglichkeit der Elektronen und Löcher ziehen, und ohne die QM (mit dem daraus folgenden Wellencharakter der Elektronen) wäre das nicht möglich.
Warnhinweis: Die Wellenzahl k wird auch gern als Impuls (oder korrekter “Gitterimpuls”) bezeichnet. Das ist auch physikalische korrekt, man darf aber nicht die handelsübliche Beziehung Impuls gleich Masse mal Geschwindigkeit verwenden und annehmen, dass Impuls und Geschwindigkeit proportional sind. Sind sie im Kristallgitter nicht, es kann sein, dass ein Elektron negativen Impuls aber positive Geschwindigkeit hat, weil man die Geschwindigkeit der Elektronen physikalisch sinnvoll über die Gruppengeschwindigkeit eines Wellenpakets ausdrücken sollte. Das erkläre ich jetzt aber nicht; selbst in meinem Buch habe ich das in einen Abschnitt für die Fortgeschrittenen verbannt, ich sage es nur, weil man jede Menge Blödsinn herausbekommen kann, wenn man einfach p=mv annimmt…
Zahl der Ladungsträger
Wichtig für Halbleiter-Bauteile wie die Chips in eurem Computer ist auch die Zahl der Ladungsträger. (Die wird allerdings durch sogenanntes Dotieren, also das gezielte Hinzufügen anderer chemischer Elemente, verändert; die Zahl der Ladungsträger in reinem Si ist aber trotzdem eine extrem wichtige Design-Variable, die sogenannte “intrinsische Ladungsträgerdichte”).
Man könnte naiv annehmen, dass man mit dem einfachen Bänderdiagramm, das ich oben gezeichnet habe, leicht herausbekommen kann, wie viele Elektronen im Leitungsband (und entsprechend Löcher im Valenzband) sind: Wir kennen die Größe der Bandlücke, wir wissen aus der Thermodynamik, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Elektron durch thermische Anregung die entsprechende Energie bekommt, wir wissen, wie viele Elektronen wir haben, also sollten wir leicht ausrechnen können, wie groß die Zahl der Elektronen im Leitungsband ist.
Ganz so einfach ist es aber nicht, denn es sind ja nicht alle Elektronen in einem Zustand direkt an der Bandlücke, und die Elektronen haben ja auch unterschiedliche Zustände, in die sie im Leitungsband gehen können. Nach den Regeln der statistischen Physik müssen wir berücksichtigen, wie viele Elektronen wie dicht an der Bandlücke sind und wie viele Zustände oberhalb der Bandlücke es gibt. Genau diese Information kann man aus dem Diagramm oben ablesen: Da, wo eins der Bänder flach verläuft, gibt es viele Zustände mit nahezu derselben Energie; da wo eins der Bänder steil ist, ändert sich die Energie stark , wenn man die Wellenzahl auch nur ein wenig ändert. Mit dieser Logik (und ein bisschen Mathematik) kann man aus dem Bänderdiagramm die benötigte Information herauskitzeln, wie viele Zustände mit welcher Energie es gibt (die sogenannte Zustandsdichte), und mit der lässt sich dann tatsächlich ausrechnen (und aus dem Bänderdiagramm vorhersagen), wie viele Elektronen ich bei welcher Temperatur im Leitungsband finde.
Fazit
Mit einfachen Mitteln, beispielsweise dem Bild, das ich oben gezeigt habe und das ihr vielleicht aus dem Physikunterricht kennt, kann man qualitativ ganz gut verstehen, was in Halbleitern passiert. Aber um Bauteile aus Halbleitern zu bauen, reicht das nicht, dazu muss man die Eigenschaften wie beispielsweise die Beziehung zwischen Energie und Wellenlänge, auch quantitativ verstehen. Und das ist ohne Quantenmechanik nicht möglich. Jedes Mal, wenn ihr euer Handy einschaltet und es wie erwartet funktioniert, habt ihr damit letztlich ein Experiment zur Bestätigung der Quantenmechanik gemacht.
PS: Ich habe jetzt nicht erklärt, wie man mit Halbleitern so ein logisches Gatter bauen kann, das wäre ein eigener Blog-Artikel. Interessiert das irgendwen?
]]>Miranda und Wyveria flogen über das eisbedeckte Meer hinweg nach Hause. Miranda gähnte, denn sie war furchtbar müde. Wyveria hatte sich hinter ihr im Korb verkrochen und steckte ab und zu ihren Kopf hinaus, um sich umzuschauen.
„Merkst du etwas?“, sagte sie, nachdem sie schon eine ganze Weile geflogen waren.
„Nein, was denn?“
„Ich glaube, der Wind ist wärmer geworden.“
Jetzt, wo Wyveria es sagte, bemerkte Miranda es auch. Der Wind war immer noch kalt, aber er schien längst nicht mehr so eisig wie auf dem Flug zur Drachenhöhle. Miranda seufzte erleichtert – der Frostdrache war wirklich besiegt und der schreckliche Winter würde wieder enden.
Als Miranda zum Himmel schaute, erschrak sie. Dichte Wolken zogen sich zusammen. Während sie dahinflogen, wurden die Wolken dunkler und dunkler und Miranda befürchtete, dass sie bald durch einen Schneesturm fliegen musste. Da traf sie etwas an der Nase, etwas Nasses, das sofort wegspritzte. Es war keine Schneeflocke, sondern ein Regentropfen.
„Regen!“, jubelte Miranda. „Wyveria, es regnet!“ Miranda mochte es normalerweise nicht besonders, durch den Regen zu fliegen, aber jetzt freute sie sich. Dies war das endgültige Zeichen dafür, dass die Macht des Frostdrachen gebrochen war.
So flogen sie durch den Regen dahin, der auf das Eis herunterprasselte und dann, als sie wieder über dem Land waren, auch auf den Schnee, und Miranda sah, wie der Schnee zu schmelzen begann.
Schließlich erreichten sie Mirandas Haus. Auch hier regnete es, und der schmelzende Schnee vermischte sich mit dem Regen und tropfte vom Dach herunter. Sie landeten, gingen ins Haus und trockneten sich ab. Miranda war so müde, dass sie kaum noch genügend Kraft hatte, für sie beide etwas zu Essen zuzubereiten, aber sie war auch hungrig. Nachdem sie ihr Brot gegessen und Wyveria ihr Fleisch verschlungen hatte, kletterten sie in ihr Hochbett. Das Prasseln des Regens auf das Hausdach klang beruhigend und einschläfernd und Miranda schlief tief.
Als sie endlich erwachten, war es schon wieder abends. Eigentlich hätten sie sich zur Schule fertigmachen müssen, aber Miranda fühlte sich immer noch viel zu erschöpft.
„Hast Du auch von Drachen geträumt?“, fragte Wyveria.
„Ja, vom Frostdrachen, aber da waren auch andere Drachen. Grimbold war auch dabei.“ Miranda reckte sich und gähnte. Langsam zog sie sich an.
„Ob der Schnee schon getaut hat?“ Sie ging zum Fenster, zog die Gardine zur Seite und bekam einen gewaltigen Schreck: Zum Fenster starrte ein riesiges Auge hinein. Miranda schrie auf, machte einen Schritt zurück, aber dann erkannte sie, dass es ein Drachenauge war.
„Draußen ist ein Drache!“ Sie lief zur Tür, öffnete sie und dann erstarrte sie vor Staunen: Draußen vor ihrem Haus am Fuß des kleinen Hügels stand nicht nur ein Drache, sondern eine ganze Gruppe, insgesamt vielleicht dreißig große Drachen, die alle zu ihrem Haus herüberschauten. Angeführt wurden sie von Grimbold, der in ihr Fenster geschaut hatte.
Grimbolds großer Kopf wandte sich Miranda und Wyveria zu, die nun auch vor die Tür kam, um die Drachen zu sehen. Grimbold senkte den Kopf in einer Verbeugung. „Miranda, ich grüße dich und ich bringe dir auch Grüße von Krallenschwinge, die nicht mit zu dir fliegen konnte, weil ihre Flügel zu schwach sind. Du hast den Frostdrachen besiegt und großes Unheil von uns allen abgewandt, und dafür werden wir dir für alle Zeit danken.“
Alle Drachen verbeugten sich, so wie es Grimbold getan hatte.
„Ich habe den Frostdrachen nicht besiegt“, sagte Miranda, „das war Wyveria.“
„Natürlich“, antwortete Grimbold. „Aber ohne deine Hilfe hätte Wyveria den Frostdrachen niemals erreichen können. Wollt Ihr uns nicht erzählen, wie es euch gelungen ist?“
Der Regen hatte aufgehört, und so setzte Miranda sich auf den Boden vor ihrer Tür, denn sie konnte die Drachen ja schlecht in ihr Haus hineinbitten. Sie begann gerade zu erzählen, als sie eine Bewegung am Himmel sah: Hexen flogen auf ihr Haus zu. Es war nicht nur eine Hexe, sondern es waren viele, der ganze Hexenrat kam auf seinen Besen herangeflogen und landete vor Mirandas Haus.
Die Hexenlehrerin trat vor und sagte: „Miranda, du hast eine große Heldentat vollbracht, und alle Hexen und alle Menschen sind dir dankbar, dass du den schrecklichen Winter vertrieben und den Frostdrachen besiegt hast.“ Dann lachte die Hexenlehrerin und fügte hinzu: „aber die Schule solltest du trotzdem nicht einfach schwänzen“, doch an ihrer Stimme war zu hören, dass sie Miranda nicht böse war.
Nun kamen Miranda und Wyveria endlich dazu, ihr Abenteuer zu erzählen. Alle lauschten gebannt. Als Wyveria schließlich berichtete, wie sie Feuer gespuckt hatte, stießen die Drachen einen erstaunten Ruf aus. „Noch nie hat ein so junger Drache einen solchen Feuerstoß gespien. Deine Kräfte sind wirklich beeindruckend, Wyveria“, sagte Grimbold.
Während Wyveria zu Ende erzählte, dachte Miranda über alles nach. Sie merkte, dass sie allen Grund hatte, auf die Drachen und die Hexen wütend zu sein, und als Wyveria geendet hatte, stand sie auf und rief: „Warum habt ihr uns das alles verheimlicht? Warum habt ihr nicht gesagt, dass der Frostdrache Wyverias Bruder ist? Und warum habt ihr uns einfach mit einem Zauber vor der Kälte geschützt, ohne uns etwas zu sagen? Und dass der Frostdrache es in Wahrheit auf Wyveria abgesehen hatte, habt ihr uns auch nicht erzählt!“
„Das alles ist richtig“, sagte Grimbold, „und es ist gut, dass ihr eure Tat vollbracht habt, obwohl wir versucht haben, euch daran zu hindern, etwas zu erfahren. Doch Drachen und Hexen wollten euch nicht erschrecken, und wir haben versucht, euch zu schützen. Wir glaubten, dass euch die Wahrheit über den Frostdrachen nur Angst machen würde. Niemand von uns hätte gedacht, dass es euch gelingen könnte, zum Frostdrachen vorzudringen und ihn zu besiegen. Dafür entschuldigen wir uns.“
„Ja“, sagte Miranda nach einer Weile, und dachte daran, dass sie selbst Draconia angelogen hatte, um sie nicht in Gefahr zu bringen, „ich glaube, das kann ich verstehen.“
„Gut“, sagte die Hexenlehrerin, „dann magst du jetzt vielleicht mit uns kommen.“
„Zur Schule?“, fragte Miranda.
„Nein, wir fliegen alle zum Hexenrat.“
„Ich glaube nicht, dass ich schon wieder soweit fliegen kann, ich bin viel zu erschöpft“, sagte Miranda.
„Du kannst mit mir fliegen, Wyveria auch“, sagte Grimbold. Er legte sich auf den Boden und Miranda und Wyveria kletterten über sein riesiges Vorderbein auf seinen Rücken, wo Miranda sich zwischen zwei Zacken setzte und sich gut festhielt.
„Seid ihr bereit?“, fragte Grimbold, stieß sich vom Boden ab und breitete seine Schwingen aus. Mit kräftigen Flügelschlägen gewann er schnell an Höhe.
Miranda war natürlich schon oft geflogen, aber der Flug auf dem Rücken eines Drachen war etwas ganz anderes. Unter sich konnte sie die gewaltigen Muskeln spüren, mit denen Grimbold seine Flügel bewegte, und neben sich sah sie die riesigen Flügel, die gemächlich, aber kräftig auf und ab schlugen.
‘Ob ich eines Tages so auf Wyveria fliegen werde?’ fragte Miranda sich. Wyveria hatte ihren Gedanken anscheinend gehört. „Natürlich wirst du das“, antwortete sie, und Miranda freute sich schon jetzt auf diesen Tag.
Es dauerte nicht lange, und sie waren beim Hexenrat angekommen. Viele Feuer brannten auf dem Berg, denn die anderen Hexenkinder hatten bereits alles für ein Fest vorbereitet. Hexen und Drachen landeten, und das Fest begann. Es war das erste Mal, dass Drachen und Hexen gemeinsam feierten. Die Hexen sangen und tanzten, die Drachen erzählten viele Geschichten aus längst vergangenen Zeiten, denen alle gespannt zuhörten, dann nahmen einige von ihnen die Hexenkinder auf ihren Rücken mit zu kurzen Rundflügen. Alle waren sich einig, dass es das schönste Hexenfest war, das sie jemals erlebt hatten.
Miranda saß mit Wyveria neben ihren beiden Freundinnen Netti und Draconia. Sie erzählte ihnen von ihren Abenteuern. „Deshalb sollte ich also sagen, dass du krank warst“, sagte Draconia. „Du hast mich angeschwindelt.“
„Ja, das musste ich. Es durfte doch niemand erfahren, was wir vorhatten. Tut mir Leid.“
„Schon gut“, sagte Draconia.
„Aber das nächste Mal, wenn du ein Abenteuer erlebst, möchte ich wieder dabei sein“, sagte Netti.
„Ja, das wäre schön“, antwortete Miranda. „Aber ich bin froh, dass dieses Abenteuer vorbei ist.“ Und dann lehnte sie sich zurück und lauschte dem fröhlichen Festlärm und freute sich, dass Wyveria und sie alle Gefahren überstanden hatten.
Nachbemerkung: Leider ist dies das Ende der Miranda-Bücher. Ich habe zwar noch viele weitere Geschichten erzählt (voller Einhörner, Meermenschen, Nachtrochen, Katzenprinzen, Gorgonen, Laviathane, Fanfasen, Nunnurrus, Schattenpiraten, Räuber, Zauberer und und und), aber leider gibt es dazu nur Notizen, keine fertigen Geschichten. Ursprünglich hieß Miranda übrigens Lisbeth (und die Geschichten sind mal als Fanfiction zu Lieve Baetens Bilderbüchern entstanden), aber da es schon diverse Kinderbuchhexen mit diesem Namen gibt, habe ich sie dann umgetauft.
Miranda landete ihren Besen ein Stück von der Drachenhöhle entfernt und versteckte ihn hinter einer großen Schneeverwehung. Sie nahm ihren Rucksack, gab Wyveria noch einen großen Schluck des Warmzaubertranks, und dann machten sie sich auf den Weg.
Vorsichtig gingen sie über den Schnee, kletterten über vereiste Steine und Felsen, immer weiter den Berghang entlang zur Drachenhöhle. Der Wind war eisig, und Miranda war froh, dass sie sich selbst mit einem Zauberspruch warmgezaubert hatte, bevor sie gelandet waren.
„Da oben ist etwas“, sagte Wyveria plötzlich. Miranda schaute zum Himmel, wo ein kleiner dunkler Punkt zu sehen war, der schnell größer wurde.
„Das muss der Drache sein, schnell, wir müssen uns verstecken!“, rief sie. Um sie herum war nichts als Schnee und Eis und kein gutes Versteck war zu sehen. Miranda traute sich nicht zu zaubern, denn sie wusste nicht, ob der Drache ihren Zauber spüren würde. Zum Glück aber hatte sie vorgesorgt. Schnell nahm sie ihren Rucksack ab und holte das große weißes Laken heraus. Sie schlang es um sich wie einen Umhang, hockte sich auf den Schnee und ließ Wyveria mit hinunterkrabbeln. Die Enden des Lakens mussten sie gut festhalten, denn der Wind zerrte heftig daran. Obwohl es ihr ein wenig unheimlich war, nichts sehen zu können, zog Miranda das Laken bis über ihre Köpfe, so dass nichts mehr von ihnen herausguckte. Von oben mussten sie jetzt aussehen wie ein kleiner Schneehügel. „Schlaue Idee“, lobte Wyveria sie.
Mirandas Herz klopfte wie wild. Würde der Drache sie entdecken?
Inzwischen war er näher herangekommen. Miranda konnte seine kräftigen Flügelschläge durch das Heulen des Windes hindurch hören. Schnee knirschte, als der Frostdrache landete. Sie hörten ihn über den Schnee gehen, dann war alles still. Eine Weile warteten sie noch, doch nichts war mehr zu hören. War der Frostdrache in seine Höhle gegangen?
Schließlich konnte Miranda es nicht mehr aushalten. Sie hob das Laken ein wenig an und spähte zur Drachenhöhle hinüber. Dort aber war nichts zu sehen, der Drache musste also in seiner Höhle sein.
Miranda stand leise auf. Das Laken hielt sie immer noch um sich geschlungen, damit sie sofort darunter verschwinden konnten, falls der Drache aus seiner Höhle herauskam. So vorsichtig sie konnten, schlichen sie weiter, bis sie den Eingang der Drachenhöhle groß und deutlich vor sich sahen.
Ein Stück seitlich der Höhle lag etwas Großes, Dunkles im Schnee. Zuerst dachte Miranda, es wäre nur ein Felsbrocken, doch dann sah sie, dass es ein großes Tier war – ein Rentier, das der Frostdrache anscheinend gejagt und von dem er bisher, wie es aussah, nur wenig gefressen hatte.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Wyveria. „Gehen wir einfach in die Höhle hinein?“
„Viel zu gefährlich. Was ist, wenn der Drache direkt hinter dem Eingang sitzt? Wir müssten irgendwie rauskriegen, wie es drinnen aussieht“, dachte Miranda zur Antwort.
„Vielleicht kannst du dich in ein Tier verwandeln und dich reinschleichen“, schlug Wyveria vor.
„Hmm, ja, vielleicht. Aber ich weiß nicht, ob der Drache meinen Verwandlungszauber nicht sofort durchschaut, wenn er mich ansieht. Am besten wäre es, wir würden warten, bis der Drache schläft.“
Für einen Moment überlegten beide. Dann hatte Miranda eine Idee. „Ich weiß was wir machen. Komm’, wir müssen zurück zum Besen.“
Genauso vorsichtig, wie sie hingegangen waren, schlichen sie wieder zum Besen zurück. Dort angekommen, kramte sie ihren Kessel, ihre Zauberzutaten und das Feuerholz heraus.
„Ich hoffe nur, der Drache bemerkt mein kleines Feuer nicht“, sagte Miranda, während sie es anzündete. Sie kippte fast den gesamten Zentaurenwein in ihren Kessel und dann gab sie der Reihe nach die Zutaten hinzu, so wie sie es in der Hexenschule gelernt hatte: Eichenblätter, Königskrautblätter, im Mondlicht geschöpftes Quellwasser, Bergkristallpulver, Pfefferminzblätter. Wyveria passte auf, dass sie alles richtig machte, denn sie hatten nur genug Zentaurenwein für einen Versuch. Sie ließ den Trank kochen, dann musste sie ihn umrühren. „Fünfmal im Uhrzeigersinn und siebenmal gegen den Uhrzeigersinn“, erinnerte Wyveria sie. „Gut, dass ich dich dabei habe“, sagte Miranda. Schließlich war der Trank fertig. Sie schob mit dem Fuß Schnee auf ihr Feuer, so dass es zischte, doch dann war das Feuer ausgelöscht.
Miranda nahm den Kessel hoch, der ziemlich schwer war. Dann gingen sie beide zurück zur Drachenhöhle. Miranda schleppte den Kessel, während Wyveria das Laken im Maul trug, unter dem sie sich im Notfall verstecken konnten. Sie schlichen sich bis zu dem toten Rentier, über das Miranda dann den Zaubertrank kippte. Es war so kalt, dass der Trank fast sofort gefror.
„Ich hoffe, der Drache frisst überhaupt noch hiervon, wenn alles Fleisch eingefroren ist“, sagte Miranda. „Aber jetzt können wir nur noch abwarten.“ Beide versteckten sich hinter einem eisüberzogenen Felsblock und zogen wieder das Laken über sich. Dann begann das Warten.
Miranda wusste nicht, wie lange sie schon gewartet hatten, als Wyveria sie anstupste. Sie war ein wenig eingedöst, aber jetzt wurde sie sofort hellwach, denn sie hörte schwere knirschende Schritte im Schnee. Miranda hätte zu gern unter dem Laken hervorgeschaut, um zu sehen, was der Frostdrache tat, aber sie traute sich nicht aus Angst, er würde sie vielleicht bemerken. Also blieb ihr nichts übrig als zu horchen.
Der Frostdrache ging durch den Schnee und blieb dann stehen. Für einen Moment war es still, dann hörten sie ein Krachen und Reißen. Das musste der Frostdrache sein, der das gefrorene Rentierfleisch fraß. Vor Spannung hielt Miranda den Atem an. Der Schlaftrank, den sie über das Rentier gekippt hatten, war zwar für Menschen nahezu geschmacklos, aber womöglich würde der Frostdrache ihn bemerken. Doch der Frostdrache fraß weiter und weiter. Es dauerte lange, bis er satt war. Sie hörten seine schweren Schritte, die jetzt langsam und träge waren und dann immer leiser wurden. Anscheinend war er zurück in seine Höhle gegangen.
„Ich hoffe, der Trank wirkt“, sagte Miranda. „Wir dürfen nicht zu lange warten, denn der Drache ist sehr groß. Ich glaube nicht, dass der Trank ihn lange einschläfert.“
„Wenn wir Glück haben, ist er sowieso müde vom Fressen und schläft einfach weiter.“
„Das hoffe ich auch“, antwortete Miranda. Dann erhoben die beiden sich und gingen geduckt, das Laken über sich haltend, zur Drachenhöhle.
Als sie am Eingang der Höhle angekommen waren, hörten sie den Atem des Drachen. Er ging ruhig und gleichmäßig. „Ich glaube, er schläft“, sagte Miranda.
So leise es ging schlichen die beiden in die Höhle. Der Höhleneingang war ziemlich eng, gerade noch groß genug für den Frostdrachen, aber als sie ein Stück weiter gegangen waren, sahen sie, dass sich der Gang zu einer großen Höhle erweiterte, die eine hohe Decke hatte, wie eine Halle aus Stein. In der Mitte der Halle lag der Frostdrache auf dem Boden. Er hatte die Augen geschlossen und schlief. Miranda betrachtete ihn und sah, dass er noch größer war als Grimbold, der große braune Drache, der damals Wyveria zur Drachenprüfung befohlen hatte. Der Frostdrache aber war schlanker und hatte einen längeren Hals. Wäre er nicht vollkommen schwarz gewesen, so hätte er fast genau so ausgesehen wie Wyveria, nur eben sehr viel größer.
Erst jetzt wunderte sich Miranda, warum sie in der Halle etwas sehen konnte, aber dann bemerkte sie, dass das Licht von einem Stein kam, den der Frostdrache um seinen Hals trug. Der Stein war an einer Kette befestigt und leuchtete in einem eisigen, blau-weißen Licht. Die Kette lag eng am Hals des Drachen, und im Schlaf kratzte der Frostdrache mit einer seiner Klauen daran, als versuche er, sie abzureißen.
Miranda schaute Wyveria an. „Und was tun wir jetzt?“ Sie hatten sich bisher gar keine Gedanken darüber gemacht, wie sie den Frostdrachen eigentlich besiegen sollten, und nun bemerkten sie beide entsetzt, dass sie keine Idee hatten. Der Frostdrache war riesig und sah gefährlich aus, seine Schuppen waren dick und sicherlich sehr hart. Miranda hatte keine Ahnung, was sie gegen einen solchen Gegner tun konnte.
„Schnell, wir brauchen einen Plan“, sagte sie. Immerhin war Wyveria ein Drache, vielleicht hatte sie ja eine Idee. Doch bevor Wyveria antworten konnte, passierte etwas Schreckliches: Der Frostdrache öffnete seine Augen.
Die Augen waren rot und schienen von innen zu leuchten. Sie schauten auf Wyveria, während der Frostdrache langsam aufstand. Wyveria rührte sich nicht. Sein Kopf war größer als Miranda und sie wusste, dass er sie, wenn er wollte, mit einem Bissen verschlingen konnte. Der Frostdrache sah Wyveria an und sagte mit tiefer, aber erstaunlich sanft klingender Stimme: „Ich grüße dich, kleine Schwester. Ich habe dich erwartet.“
Miranda rannte zur Höhlenwand, um sich hinter einem Felsen zu verstecken. Vielleicht konnte sie ja noch etwas zaubern, bevor der Drache sie oder Wyveria angriff? Sie überlegte, mit welchem Zauberspruch sie dem Frostdrachen beikommen konnte, griff nach ihrem Zauberstab, doch bevor ihr etwas einfiel, richteten sich die Augen des Drachen auf sie.
„Still, Menschenkind!“, ertönte die Stimme des Frostdrachen, jetzt nicht mehr sanft, sondern befehlend. Miranda erstarrte. Sie konnte sich nicht mehr rühren, der Frostdrache hatte sie mit diesem einen Satz vollkommen gelähmt. Seine Zauberkraft war fürchterlich stark, und Miranda wusste, dass weder sie noch Wyveria in der Lage waren, gegen diese Zauberkraft zu bestehen.
„Ich grüße dich, kleine Schwester“, sagte der Frostdrache noch einmal und wandte sich wieder Wyveria zu. Sein Kopf bewegte sich auf seinem langen Hals hin und her, um sie von allen Seiten zu betrachten.
Wyveria wusste nicht, was sie tun sollte. Der Frostdrache machte ihr schreckliche Angst. ‘Solange er mit mir redet, wird er mir wenigstens nichts tun,’ dachte sie und fragte „Warum nennst du mich kleine Schwester?“
„Du bist meine Schwester“, sagte der Frostdrache, „denn wir haben dieselbe Mutter. Das Ei, aus dem ich geschlüpft bin, wurde den Drachen gestohlen, und so wurde ich der, der ich heute bin. Unsere Mutter wollte nie wieder ein Ei legen, aus Angst, es könne auch gestohlen werden, aber dann beschloss sie, ihr letztes Ei in die Obhut einer Menschenhexe zu geben.“ ‘Deshalb kam Wyverias Ei also zu Medea,’ dachte Miranda. „Lange habe ich danach gesucht und gewartet, ob du schlüpfen würdest, und in diesem Sommer habe ich es endlich gespürt.“
„Was willst du von mir?“, fragte Wyveria. Ihre Stimme in Mirandas Kopf klang fest, aber Miranda hörte doch die Angst, die Wyveria hatte.
„Ich bin der einzige Frostdrache. Ich bin allein. Du wirst bei mir bleiben und mit meiner Magie wirst auch du zu einem Frostdrachen werden.“ Mit diesen Worten beugte er seinen Kopf noch weiter zu Wyveria hinunter.
Wyveria hatte Angst. Sie wollte nicht werden wie der fürchterliche Frostdrache, sie wollte ein normaler Drache sein. Doch die Augen des Frostdrachen schauten sie an, und sie spürte, wie ihr langsam immer kälter wurde. Die Kälte aber schien nicht aus den Augen des Frostdrachen zu kommen, sondern einen anderen Ursprung zu haben. Sie sah am Frostdrachen herunter und ihr Blick fiel auf den leuchtenden, eisig blauen Stein um seinen Hals. Er schien der Punkt zu sein, von dem alle Kälte ausging. Wyveria nahm alle ihre Kraft zusammen, all ihren Mut, ihre Angst und ihre Wut auf den Frostdrachen, der so viel Unheil gebracht hatte, sie holte tief Luft, machte einen Satz nach vorn und konzentrierte alles in einen Feuerstoß, einen mächtigen, glühend heißen Drachenfeuerstoß, der genau den Stein des Drachen traf.
„Nein!“, schrie der Frostdrache auf, doch der Feuerstrahl hatte bereits den Stein getroffen, und er zerbarst in tausend eisig funkelnde Scherben, die durch die Höhle flogen. Die schwere Kette fiel zu Boden. Der Frostdrache öffnete sein Maul und ein Strahl aus Eis schoss heraus, doch Wyveria wich ihm aus. Der Frostdrache taumelte, dann stürzte er zu Boden und lag still da. Das letzte Funkeln der Steinsplitter erlosch und die Höhle war in tiefe Finsternis getaucht.
Miranda bemerkte, dass sie sich wieder bewegen konnte. Sie hob den Zauberstab und zauberte ein Hexenlicht. Der Frostdrache lag in der Mitte der großen Halle. Wyveria war ein Stück zurückgelaufen, doch als sie sah, wie kraftlos der Frostdrache am Boden lag, kam sie vorsichtig näher.
„Was hast du getan?“, fragte der Frostdrache mit schwacher Stimme.
„Was wird mit dir passieren, jetzt wo der Stein zerstört ist?“, fragte Wyveria.
„Der Stein wurde mir von dem Zauberer angelegt, der mich gestohlen hat. Mit diesem Stein versuchte er mich zu beherrschen, doch schließlich wurde ich zu stark für ihn. Der Stein bannte mein Drachenfeuer, ohne ihn bin ich kein Frostdrache mehr. Es ist kalt hier, die Kälte lähmt mich und friert mich ein.“ Während er sprach, wurde die Stimme des Frostdrachens immer langsamer und leiser.
„Wirst du sterben?“, fragte Wyveria.
„Nein, aber erst, wenn der Frühling kommt, und die Sonne die Luft vor der Höhle wieder erwärmen kann, erst dann werde ich wieder erwachen.“
„Wird es denn wieder Frühling werden?“
„Ja, mein Zauber ist vergangen, aber der Winter kommt trotzdem, wie jedes Jahr. Wenn er vergangen ist, dann…“ Doch der Frostdrache, der jetzt kein Frostdrache mehr war, konnte nicht weitersprechen. Seine Augen schlossen sich und er war eingeschlafen.
Wyveria sah den Frostdrachen an und sagte nichts. Miranda trat neben sie und legte eine Hand auf Wyverias Hals.
„Ich habe einen Bruder“, sagte Wyveria. „Dabei hieß es immer, ich sei der letzte der Bronzedrachen.“
„Das bist du ja auch – der Frostdrache ist ja kein Bronzedrache mehr. Was wohl mit ihm passieren wird, wenn der Frühling kommt?“
„Ich frage mich nur“, sagte Wyveria, „ob er dann immer noch böse sein wird.“
„Ich weiß es nicht. Aber du hast den Frostdrachen besiegt, und wenn er jetzt kein Frostdrache mehr ist, dann können die anderen Drachen ihn bekämpfen, wenn er dann immer noch böse ist.“
Miranda holte tief Luft. „Du hast es wirklich geschafft, ist dir das klar? Du hast den Frostdrachen besiegt, und der schreckliche Winter wird enden, und die Welt wird nicht vereist werden.“ Miranda kniete sich hin, um Wyveria zu umarmen. „Und ich dachte immer, du kannst noch gar kein richtiges Drachenfeuer spucken.“
„Das dachte ich auch. Aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.“
Miranda und Wyveria schauten noch einen Moment auf den Frostdrachen, dann sagte Miranda: „Wir sollten zurückfliegen. Es ist kalt und ich bin schrecklich müde.“
„Ja, lass uns gehen“, sagte Wyveria. Sie drehten sich um und gingen aus der Höhle. Als sie am Eingang waren schaute Wyveria noch einmal zurück in die Dunkelheit. „Leb wohl, Frostdrache“, sagte sie, und trotz allem klang ihre Stimme ein wenig traurig.
Die beiden gingen zum Besen und machten sich auf den langen Heimweg.
Als Miranda aufwachte, war es noch nicht einmal Mittag. Sie versuchte, wieder einzuschlafen, aber sie merkte, wie sie immer unruhiger wurde. Vorsichtig drehte sie sich zu Wyveria um, die neben ihr lag und sie anschaute. „Kannst du auch nicht mehr schlafen?“
„Nein.“
„Gut, dann lass uns aufbrechen.“
Die beiden kletterten aus dem Bett und aßen noch etwas. Miranda füllte zwei große Wärmflaschen mit heißem Wasser, die sie in Wyverias Korb legte, damit sie es so warm wie möglich hatte. Dann gab sie Wyveria einen Schluck des Warmtranks und die beiden flogen los.
Es dauerte nicht lange, und sie erreichten die Stelle, an der der Zauber der Drachen endete. Vor ihnen erstreckte sich eine Landschaft, die völlig unter Schnee begraben war. Nur einige der größten Straßen waren vom Schnee freigeräumt worden, aber trotzdem war nahezu niemand unterwegs, denn es war einfach zu kalt.
Der Schnee lag so hoch, dass nur die Kronen der Bäume aus ihm herausragten, und sie sahen ein Haus, das zur Hälfte unter dem Schnee begraben war. Die Hausbewohner hatten ihre Türen freigeschaufelt, so dass man eine Schneetreppe hinuntergehen musste, um ins Haus zu kommen. Aus dem Schornstein kam dicker Qualm.
„Der Winter ist noch schlimmer, als ich ihn mir vorgestellt habe“, sagte Miranda.
„Ja, es ist gut, dass wir zum Frostdrachen fliegen.“
„Ich hoffe nur, wir schaffen es“, sagte Miranda
„Selbst wenn wir es nicht schaffen, dann bin ich ja bei ihm, und er braucht nicht mehr die Welt einzufrieren.“
Miranda spürte, wie die Angst ihr die Kehle zuschnürte. Was würde der Frostdrache mit Wyveria machen? Und was würde aus ihr selbst werden, wenn sie den Frostdrachen nicht besiegen konnten? Sie drehte sich noch einmal um. Inzwischen flog sie so hoch, dass sie ganz weit hinter sich ihren kleinen Wohnhügel erkennen konnte. ‘Ob ich es jemals wiedersehe?’, fragte sie sich besorgt. Dann aber fiel ihr Blick auf Wyveria, die sich fast völlig unter ihren Decken verkrochen hatte, so dass nur ihre Nasenspitze herausschaute, und plötzlich fasste sie wieder neuen Mut. ‘Immerhin ist sie ein Drache,’ dachte Miranda, ‘und vielleicht gelingt es uns ja gemeinsam, den Frostdrachen zu besiegen.’
So wandte sie sich wieder nach vorn und flog weiter über die verschneite Welt.
Miranda hatte auf der Karte nachgesehen, wo der Fenris-Gletscher lag, in dessen Nähe der Frostdrache hausen sollte. Sie wusste, dass sie über das Meer fliegen musste, immer weiter nach Norden zu einer gewaltigen Insel. Doch sie sah unter sich kein Meer, sondern nur eine große, glatte Eisfläche. Miranda wunderte sich, dann erschrak sie: „Wyveria, das ganze Meer ist zugefroren!“
Wyveria steckte ihren Kopf aus dem Besen heraus und schaute lange nach unten. Sie sagte nichts, und nach einer Weile verschwand ihr Kopf wieder unter der Decke.
So flogen sie schweigend immer weiter und weiter, während es um sie herum immer dunkler wurde, bis sie durch tiefe Nacht flogen. Schließlich sah Miranda vor sich Berge, die aus dem Eismeer herausragten. Dort musste die Insel Grönland sein, auf der der Fenris-Gletscher lag. Als sie den Rand der Insel erreichten, die sich weiß und eisbedeckt aus dem vereisten Meer erhob, wusste Miranda sofort, dass es unmöglich sein würde, ohne Hilfe die Höhle des Frostdrachen zu finden, denn alles sah völlig gleich aus.
Sie flog eine Weile herum, auf der Suche nach jemandem, den sie fragen konnte. Dann sah sie unter sich eine Herde großer Tiere. „Ich glaube, das sind Rentiere“, sagte Miranda und flog mit dem Besen tiefer. Sie nahm ihren Zauberstab und zauberte, dass sie die Tiersprache der Rentiere sprechen konnte. Dann landete sie bei der Herde.
„Hallo, ich bin Miranda. Könnt Ihr mir helfen? Ich suche den Fenrisgletscher.“
„Dort ist es noch kälter als hier“, sagte eines der Rentiere. „Wenn es nicht bald wärmer wird, dann müssen wir alle verhungern. Hier liegt soviel Schnee, dass wir kein Fressen mehr finden können.“
„Ich hoffe, dass es bald besser wird. Wisst ihr denn, wo der Gletscher liegt?“
„Du musst ein Stück die Küste entlang fliegen, bis Du zu einem großen Berg kommst, der steil ins Wasser abfällt. Dann musst du ins Innere des Landes weiter fliegen.“
„Gut, vielen Dank. Ich hoffe, ihr findet bald etwas zu fressen“, sagte Miranda und startete.
„Wieso hast du dich denn so tief im Besen verkrochen?“, fragte sie Wyveria, als sie wieder in der Luft waren. „Wegen der Kälte?“
„Nein. Aber glaubst du, die Rentiere hätten dir geholfen, wenn sie mich gesehen hätten?“
„Wieso denn nicht?“ Miranda war verwundert.
„Hast du eigentlich mal überlegt, was große Drachen fressen?“
„Oh“, sagte Miranda nur. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Natürlich, eines Tages würde Wyveria ein großer Drache sein, vielleicht so groß wie Krallenschwinge, und natürlich würde sie dann auch jagen müssen.
Schweigend flogen sie weiter durch die Dunkelheit, bis Miranda die Klippe vor sich sah, die die Rentiere beschrieben hatten. Dann lenkte sie den Besen ins Innere der Insel.
Vor ihr erstreckten sich große Gletscherfelder, hinter denen die Berge noch höher aufragten. „Hier irgendwo muss es sein, aber ich glaube, wir können die Höhle unmöglich finden, es ist alles so riesig hier.“
„Vielleicht findest Du noch jemanden, der dir helfen kann?“, schlug Wyveria vor.
Miranda schaute sich um, aber es war nirgends ein Tier zu sehen. „Ich glaube, alle Tiere sind weggezogen.“
„Vielleicht findest du irgendwo ein kleines Tier, das zu klein zum Wegziehen ist.“
Miranda flog eine Weile über den Gletscher, aber dort lebte nichts. ‘Vielleicht eher bei einem der Berge?’, überlegte sie und lenkte den Besen dorthin. Sie flog einen Berghang entlang, der aus dem Gletscher herausragte, und sah ein paar vertrocknete kleine Büsche. Neben einem der Büsche lag ein kleines Erdloch.
Sie landete wieder und schaute in das Loch, in das sie in der Tiersprache hineinrief. Es dauerte eine ganze Weile, dann kam ein kleines Tier heraus, das etwa so aussah wie ein Hamster.
„Was soll denn das? Wer stört mich denn hier mitten in der Nacht?“, grummelte das Tier.
Miranda erklärte ihm, dass sie den Fenrisgletscher suchten und eine Höhle, in der ein großer Drache hausen sollte.
„Warum fliegst du hier herum, wenn du dich nicht auskennst? So was“, schimpfte das Tier weiter. „Und dann musst du natürlich rechtschaffene Lemminge aus ihrem wohlverdienten Schlaf schrecken und in meinen Bau brüllen, als wärst du selbst ein Drache.“
„Entschuldigung“, sagte Miranda, „aber es ist wirklich wichtig.“
„Jaja, das kann jeder sagen. Aber damit du mich endlich in Ruhe lässt: Du musst ein Stück weiter den Gletscher hinauffliegen. Dann siehst Du einen besonders hohen Gipfel mit einer Spitze, die nach Norden geneigt ist, und unter dem Gipfel soll eine Höhle sein. Ich habe gehört, dort soll ein Drache leben, schon seit langer Zeit. Aber der soll mich bloß in Ruhe lassen. “
„Danke“, sagte Miranda erfreut.
„Darf ich jetzt endlich wieder schlafen?“
„Natürlich. Und nochmal vielen Dank.“
„Hmmm“, grummelte das Tier. „Ach ja, wenn du dich noch einmal hier in der Gegend verirrst und nicht weißt, wo du hin sollst – dann weck jemand anderen.“ Und damit verschwand es in seinem Bau.
Miranda kletterte wieder auf den Besen und flog so, wie es der Lemming ihr geraten hatte. Es dauerte nicht mehr lange, und sie sahen vor sich den hohen Berg. Ein Stück unter seiner Spitze lag ein dunkler Schatten, inmitten eines schneebedeckten Hangs. Dort musste die Drachenhöhle sein.
Als Miranda am nächsten Abend aufwachte, galt ihr erster Blick dem Wetter. Sie zog die Vorhänge zur Seite und sah, dass es draußen schneite. „Es schneit. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen, denn die letzten Tage war es viel zu kalt für Schnee.“
„Es ist aber immer noch ziemlich kalt“, sagte Wyveria, als sie in der Schule ankamen und Wyveria aus dem Besen herauskletterte und schnell ins Schulhaus huschte.
„Es tut mir Leid, dass die Schule gestern ausfallen musste“, sagte die Hexenlehrerin. Die Hexenkinder lachten, denn natürlich hatte allen die freie Nacht gut gefallen. „Übermorgen muss die Schule leider noch einmal ausfallen, ihr dürft alle zu Hause bleiben.“
„Warum fällt denn dauernd die Schule aus?“, wollte Draconia wissen.
„Wir haben etwas wichtiges im Hexenrat zu besprechen, aber darüber braucht ihr euch keine Gedanken zu machen.“
Während des Unterrichts schaute Miranda immer wieder zum Fenster. Draußen schneite es noch immer und es schien tatsächlich etwas wärmer geworden zu sein. Miranda und Wyveria waren erleichtert und froh, dass der Zauber der Hexen anscheinend so gut geklappt hatte.
Für Wyveria war es draußen ohne Warmzaubertrank allerdings immer noch zu kalt. Als sie wieder zuhause waren, braute Miranda neuen Zaubertrank, doch sie beschlossen, ihn für einen wichtigen Anlass aufzusparen, denn der Zentaurenwein würde ja nicht ewig reichen. Immer wieder schaute Miranda aus dem Fenster hinaus. Der Schneefall hatte aufgehört und sie hoffte, dass es bald anfangen würde zu tauen. Sie wandte sich wieder ihrem Zaubertrank zu, doch nach einer Weile hörte sie, wie draußen ein Wind zu heulen begann. Er rüttelte an ihren Fensterläden und ließ ihre Haustür klappern. Miranda ging zur Tür und spürte, wie ein eisiger Wind durch den Türspalt hindurchwehte. Vorsichtig öffnete sie die Tür, nur für einen Moment. Der Windstoß, der hereinfuhr, war so kalt, dass Miranda die Luft wegblieb. Schnell knallte sie die Tür wieder zu.
„Es hat nicht funktioniert“, sagte sie traurig. „Der Wetterzauber der Hexen war nicht stark genug.“
„Weißt du, was das bedeutet?“, fragte Wyveria.
„Ja, die Hexen müssen sich etwas neues einfallen lassen.“
„Nein, es bedeutet, dass wir zum Frostdrachen fliegen müssen.“
„Wir? Ein Hexenkind und ein junger Drache? Was sollen wir denn gegen den Frostdrachen ausrichten können?“
„Überleg doch mal“, sagte Wyveria. „Mit dem Zentaurenwein kannst du mich vor der Kälte schützen. Du kannst ihn nicht an einen anderen Drachen geben, denn für einen der großen Drachen würde der Trank nicht lange reichen. Also bin ich der einzige Drache, der zum Frostdrachen fliegen kann.“
„Aber wie sollst du gegen den Frostdrachen kämpfen können?“
„Ich weiß es nicht. Aber die Drachen haben gesagt, nur ein Drache kann gegen den Frostdrachen siegen, und ein Drache bin ich, wenn auch ein kleiner.“
„Trotzdem“, sagte Miranda. „Außerdem ist das genau das, was der Frostdrache will. Aus irgendeinem Grund hat er es auf dich abgesehen, es wäre doch unsinnig, dich direkt zu ihm zu bringen.“
„Aber wenn wir es nicht versuchen, dann wird er die ganze Welt eineisen. Es wird nie wieder Frühling werden, und alles nur meinetwegen. Ich kann doch nicht schuld daran sein, dass alles für immer im Eis verschwindet“, sagte Wyveria nachdrücklich.
Miranda seufzte. „Ich fürchte, du hast recht“, sagte sie dann. „Aber wir müssen unsere Reise sorgfältig planen.“
„Natürlich“, sagte Wyveria.
„Gut. Dann lass uns überlegen, was wir alles mitnehmen müssen.“
Miranda begann mit Wyverias Hilfe zu packen. Als erstes holte sie ihren Kessel zum Zaubertrank-Kochen, das Fass mit dem Zentaurenwein, die Zutaten für ihre Zaubertränke und auch etwas Feuerholz, ohne das sie im Schnee ja keinen Trank brauen konnte. Außerdem packte sie ihr Zauberbuch und ihre Kristallkugel ein, die sie vorsichtig in ein dickes Tuch hüllte, damit sie nicht zerkratzte. „So, meine Zaubersachen haben wir. Jetzt brauchen wir noch Proviant.“
Miranda ging in die Küche, wo sie für sich ein paar Brote schmierte, einige Äpfel und ein Stück Käse einpackte und für Wyveria ein großes Stück Fleisch. Dann kramte sie ihre warmen Wintersachen heraus. „Wenn wir ganz im Norden sind, muss ich mich sicherlich warmzaubern, aber es ist besser, ich ziehe mich trotzdem so warm an, wie es geht. Für Dich packen wir ein paar Decken ein, und wenn es zu kalt wird, trinkst du vom Warmzaubertrank.“
„Ist gut“, sagte Wyveria, „ich hoffe, der Zaubertrank reicht für die weite Reise.“
„Wir müssen so schnell fliegen, wie es nur geht“, sagte Miranda.
Als Miranda an den vielen Schnee dachte, den es am Gletscher geben würde, hatte sie noch eine Idee. Sie suchte ein großes, weißes Bettlaken heraus, faltete es sorgfältig zusammen und packte es ebenfalls ein.
Schließlich hatte Miranda alles gepackt und verstaute es draußen im Besen. Es war immer noch schrecklich kalt draußen. Miranda gähnte. „Vielleicht sollten wir uns noch eine Weile ausruhen, bevor wir losfliegen. Es wird sicher anstrengend.“
„Ist gut“, sagte Wyveria. „Vielleicht sollten wir am Tag losfliegen, da ist es doch hoffentlich etwas wärmer.“
„Ja, das machen wir“, antwortete Miranda und dann fiel ihr etwas anderes ein. „Hmm, wenn ich heute Abend nicht zur Schule komme, dann wird die Hexenlehrerin sich bestimmt wundern. Am besten sage ich, dass ich krank bin.“
Miranda holte ihre Kristallkugel und rief Draconia an. Sie erzählte ihr, dass sie sich fürchterlich erkältet hätte und am nächsten Abend nicht zur Schule kommen würde.
„Bist du wirklich erkältet?“, fragte Draconia. „Sieht man gar nicht.“
„Doch, doch“, sagte Miranda schnell und schniefte in ein Taschentuch. „Ich muss mich jetzt hinlegen, ich habe Kopfschmerzen.“
„Gute Besserung“, sagte Draconia zum Abschied.
„Warum hast du Draconia nicht gesagt, was wir vorhaben? Sie ist doch deine Freundin“, wollte Wyveria wissen.
„Wenn sie wüsste, was wir vorhaben, würde sie bestimmt mitkommen wollen. Aber ich glaube, es ist schrecklich gefährlich, und ich will nicht Schuld sein, wenn ihr etwas passiert. Du musst gehen, weil du der einzige Drache bist, der gehen kann, und ich muss gehen, weil du alleine nicht soweit reisen kannst. Aber jemand anderen möchte ich nicht in Gefahr bringen.“ Miranda seufzte. Dann krabbelte sie in ihr Bett, um sich vor der großen Reise etwas auszuruhen, aber sie war sehr aufgeregt und schlief nur unruhig.
]]>Miranda und Wyveria lagen hinter einem Felsen und beobachteten den Hexenrat. Natürlich war Miranda noch nie bei einem Hexenrat gewesen, und sie hatte sich vorgestellt, er würde ähnlich sein wie der Drachenrat. Die Drachen hatten alle in einer großen Arena gesessen und einander und ihre Anführerin, Krallenschwinge, angeschaut. Bei den Hexen dagegen war alles ganz anders.
Die Hexen hatten viele kleine Lagerfeuer entzündet, und an jedem der Feuer saßen einige der Hexen und redeten leise miteinander. Miranda hoffte, dass bald eine der Hexen zu allen sprechen würde, damit sie etwas verstehen konnte. Zwischen den Lagerfeuern ging eine Hexe herum und machte Haken auf einer Liste.
„Es sind bestimmt über hundert Hexen“, sagte Miranda. Wyveria schwieg für einen Moment. „Hundertdreiundsiebzig“, sagte sie dann.
Die Hexe, die herumging, war anscheinend mit ihrer Liste fertig, denn sie setzte sich an eines der Lagerfeuer. Eine andere Hexe stand auf und Miranda erkannte zu ihrer Überraschung die Hexenlehrerin. War sie die Anführerin der Hexen?
„Liebe Freundinnen“, begann sie, „ich habe euch zum Rat gebeten, denn wir sind in großer Gefahr. Viele von euch haben in den letzten Nächten geträumt, von einem schwarzen Drachen, der in einer Eishöhle liegt.“ Einige der Hexen nickten, andere aber schüttelten den Kopf. „In meinem Traum“, fuhr die Hexenlehrerin fort, „sah ich den Drachen in seiner Eishöhle liegen. Er schien mich genau anzusehen, und seine kalten Augen schienen immer größer zu werden. Dann hörte ich seine Stimme. ‘Gebt mir das Drachenkind,’ sagte er zu mir, ‘gebt mir das Drachenkind Wyveria, oder ich werde eure Welt mit Eis überziehen und ihr werdet ewigen Winter haben.’“
Miranda schaute Wyveria entsetzt an und umarmte sie ängstlich. Wyverias Atem ging schnell und sie sagte „Miranda, ich habe Angst.“
Die Hexenlehrerin sprach weiter. „Ihr alle wisst, dass das Drachenkind Wyveria bei einer Hexe großgezogen wird.“ Sie erzählte den Hexen kurz von Miranda und dem Schatz der Medea und dann von der Drachenprüfung.
„Ich war vor einiger Zeit, als der Winter begann, im Drachenland, um mit den großen Drachen zu sprechen. Einer von ihnen sagte, er habe befürchtet, dass es ein Unheil geben könnte, wenn ein Drachenkind bei Menschen aufwächst. Doch die Drachen haben beschlossen, dass es nun zu spät ist, das Drachenkind ins Drachenland zurückzuholen, denn der Frostdrache wird seine Drohung trotzdem wahrmachen. Die Drachen haben beschlossen, Wyveria und Miranda zu schützen, und haben einen magischen Bannkreis gelegt, der die schlimmste Kälte und die Träume, die der Frostdrache sendet, abhalten kann.“
‘Das hat es also mit dem seltsamen Fünfeck auf sich,’ dachte Miranda. ‘Kein Wunder, dass es darin wärmer war als außerhalb.’
Die Hexenlehrerin fuhr ihre Erzählung fort. „Die Drachen sind in großer Sorge, denn sie können den Frostdrachen nicht bekämpfen. Er lebt auf der Insel Grönland in einer Höhle in den Bergen nordwestlich des Fenrisgletschers, und kein Drache kann dorthinfliegen, ohne zu erfrieren. Ihre Magie ist mächtig, aber Eis ist eines der Dinge, gegen die Drachen nur wenig Macht besitzen.“
Die Hexenlehrerin schwieg für einen Moment. Eine der Hexen sagte: „Dann müssen wir gegen den Frostdrachen kämpfen.“
„Die Drachen sagen, dass das nicht möglich ist“, antwortete die Hexenlehrerin. „Nur ein Drache kann einen Drachen im Kampf besiegen, und der Frostdrache ist sehr sehr mächtig.“
„Aber woher kommt der Frostdrache?“, fragte eine anderer Hexe.
„Vor einhundertfünfzig Jahren stahl ein Zauberer ein Drachenei aus dem Drachenland. Er brütete es aus und belegte den jungen Drachen mit einem Zauber. Wir wissen nicht, wie es ihm gelingen konnte, einen Drachen auf so schreckliche Art zu verzaubern.“ – ‘Ich weiß es aber’, dachte Miranda, ‘er hatte den Zentaurenwein.’ – „Die anderen Drachen versuchten, den jungen Drachen zu befreien, doch er war in einer Höhle gefangen, die vom Zauberer bewacht wurde. Erst nach vielen Jahren entkam der Drache, doch er wandte sich gegen die anderen und bekämpfte sie mit seinem eisigen Atem. Lange Zeit war er verschwunden und man hat nichts von ihm gehört, aber nun ist er wieder da, wir wissen nicht, warum.
Dies ist unsere Gefahr, und es ist nun die Aufgabe des Hexenrates, einen Weg zu suchen, den Drachen zu bekämpfen.“
Mit diesen Worten setzte sich die Hexenlehrerin auf ihren Platz. An den einzelnen Feuern begannen leise Gespräche, aber Miranda konnte nicht hören, was die Hexen sagten. Es war seltsam, dass keine von ihnen so laut sprach, dass alle es hören konnten. Wie sollte auf diese Weise eine Entscheidung getroffen werden?
Die Hexen sprachen miteinander, und von Zeit zu Zeit stand eine von ihnen auf und setzte sich an eines der anderen Feuer. Einige Zeit verging, und Miranda schaute nur noch mit halber Aufmerksamkeit zum Hexenrat. Sie überlegte, ob sie selbst etwas tun konnte, um Wyveria zu beschützen, aber ihr fiel nichts ein.
„Mir wird kalt“, sagte Wyveria plötzlich. Das war nicht überraschend, denn inzwischen saßen sie schon eine ganze Weile hier am Berg und belauschten den Hexenrat. So leise sie konnte, suchte Miranda in ihrer Tasche, holte die Flasche mit dem Warmtrank hervor und gab Wyveria davon zu trinken. „Danke“, sagte Wyveria, als ihr langsam wieder wärmer wurde.
Miranda schaute wieder zu den Hexen hinüber, die immer noch um die Feuer saßen, aber sie bemerkte, dass in den meisten Gruppen nicht mehr gesprochen wurde. Schließlich verstummte auch das letzte Gespräch. Für einen Moment war es ganz still, bis auf das leise Pfeifen des kalten Windes. Dann stand eine alte Hexe auf und sagte „Es ist beschlossen. Wir werden die Macht des Frostdrachen mit einem Wetterzauber zu brechen versuchen. In drei Tagen treffen wir uns wieder und besprechen uns weiter.“
Die alte Wetterhexe nahm ihren Zauberstab heraus und hielt ihn in die Luft. Auch die anderen Hexen holten ihre Zauberstäbe heraus und dann begannen sie alle, einen komplizierten Zauberspruch zu sprechen. Die magischen Worte klangen fast wie ein Gesang, der von einer Hexengruppe zur anderen weitergetragen wurde, bis alle Hexen gleichzeitig murmelten, dann wurde der Zauber wieder leise, bis nur noch die alte Wetterhexe sprach, dann begann es wieder von neuem.
„Komm“, sagte Miranda zu Wyveria, „Ich glaube, wir haben alles gesehen. Wenn der Zauber zu Ende ist, dann brechen sie bestimmt alle auf, und ich möchte nicht erwischt werden.“
Die beiden schlichen vorsichtig den Berghang hinunter bis zum Versteck des Besens. Sie kletterten hinein und machten sich auf den Heimweg. Beide waren sehr nachdenklich und ängstlich. Was wollte der schreckliche Frostdrache von Wyveria? Warum bedrohte er die ganze Welt? Und würde der Wetterzauber der Hexen Erfolg haben?
Es war Abend. Miranda saß neben Wyveria vor ihrem Ofen und erzählte von ihren Abenteuern im Zentaurenland. Als sie in der letzten Nacht zurückgekommen war, war die Sonne schon fast aufgegangen und sie war zum Erzählen zu müde gewesen.
„Dann müssen wir also noch einige Monate abwarten, bis wir ins Drachenland fliegen können?“, sagte Wyveria enttäuscht. „Bis dahin brauchen wir den Trank gar nicht mehr, dann ist ja längst Frühling.“
„Ja, ich weiß“, sagte Miranda seufzend. „Aber ich konnte doch nicht Polymedes aus seinem Dorf verbannen lassen.“
„Nein, natürlich konntest du das nicht.“ Wyveria legte ihren Kopf auf Mirandas Schoß und Miranda kraulte sie hinter den Hörnern, da, wo sie es gern mochte. Wyveria schloss wohlig die Augen. Plötzlich ruckte ihr Kopf in die Höhe.
„Was ist denn?“, fragte Miranda.
„Ich habe eine Idee. Du benutzt doch immer den Schnellzaubertrank, damit dein Besen schneller fliegt. Was meinst du, was passiert, wenn man einen Tropfen davon in den Zentaurenmost hineintropft. Wird der dann auch schneller zu Wein?“
„Wyveria! Das ist ja eine geniale Idee“, sagte Miranda. Sie sprang sofort auf. „Das probieren wir gleich aus.“
Miranda ging in ihre Hexenküche und holte die Flasche mit dem Zaubertrank. Vorsichtig zog sie den Korken aus dem Mostfass und füllte eine Tasse etwa halbvoll mit Most. Sie tropfte ein Paar Tropfen des Schnellzaubertranks in die Tasse. Der Most in der Tasse begann zu brodeln, als würde er kochen. Als Miranda die Tasse anfasste, spürte sie, dass sie etwas warm wurde. Im Inneren der Tasse brodelte es weiter und weiter, und Miranda und Wyveria rochen einen fruchtigen, schweren Duft. Nach einer ganzen Weile wurde das Brodeln weniger und schließlich wurde der Most wieder ruhig. Die Flüssigkeit in der Tasse war nun nicht mehr trübe, sondern ganz klar geworden. Miranda schnupperte vorsichtig. „Riecht wirklich wie Wein“, sagte sie, steckte einen Finger in die Tasse und schleckte daran. „Schmeckt auch wie Wein. Ich glaube, es hat wirklich geklappt.“
Wyveria schaute Miranda aufmerksam zu, als diese begann, den Warmtrank zu brauen, der Wyveria vor Kälte schützen sollte. Miranda schüttete den Zentaurenwein in ihren Kessel und gab dann die Zutaten hinzu, wobei sie immer wieder in ihr Hexenkochbuch schaute, um nichts zu vergessen. „Mal sehen. Pfeffer, kleingeschnittene Kaktusstacheln, Blütenblätter, eine halbe Tasse Fruchtsaft, ein Bärenhaar – das war alles. Jetzt muss der Trank nur noch einkochen.“ Miranda nahm ihre Sanduhr und drehte sie um. Jedesmal, wenn der Sand durchgelaufen war, rührte sie den Trank zweimal um. Es dauerte eine ganze Weile, aber schließlich war der Trank dickflüssig geworden und hatte eine dunkelrote Farbe.
„So, nun musst du den Trank trinken. Vorsichtig, er ist noch heiß“, sagte Miranda, als Wyveria gleich aus dem Kessel losschlürfte. Aber Wyveria lachte nur, denn sie war ein Drache und die Hitze machte ihr nichts aus. Als der Trank ausgetrunken war, sagte Wyveria „Dauert es lange, bis der Trank wirkt?“
„Nein, eigentlich nicht. Spürst du schon etwas?“
Wyveria saß ganz still und schien in sich hinein zu horchen. Als sie nichts sagte, befürchtete Miranda schon, dass es nicht geklappt hatte, aber dann rief Wyveria „Mir wird warm, ganz warm. Ich glaube, es hat geklappt!“, jubelte sie und rannte zur Tür.
Miranda griff nach ihrem Mantel und ihrem Schal und folgte Wyveria. Die stand inzwischen vor Mirandas Tür, breitete ihre Flügel aus und segelte nach unten.
„Vorsicht!“, rief Miranda, denn Wyverias Flugkünste waren ja noch nicht sehr gut. Immerhin segelte sie zu Boden, kam dabei allerdings etwas heftig auf und überschlug sich zweimal.
„Alles in Ordnung?“, fragte Miranda ängstlich.
„Natürlich“, rief Wyveria und dann rutschte sie auf ihrem gepanzerten Drachenschwanz den kleinen Hügel hinunter. „Spaß!“, rief sie, rannte den Hügel wieder hinauf und rutschte von neuem. Miranda holte ihren Schlitten heraus, und dann sausten sie beide durch den Schnee, bis sie müde wurden.
„Miranda, mir wird wieder etwas kalt.“
„Gut, lass uns reingehen. Die Sonne geht sowieso bald auf.“ Als sie drinnen waren, schaute Miranda auf die Uhr. Der Warmtrank hatte Wyveria fast zwei Stunden lang warmgehalten. „Ich glaube, mit dem Fass können wir dich eine ganze Weile lang warmhalten. Dann können wir also doch ins Drachenland fliegen.“
„Gut“, antwortete Wyveria. „Aber jetzt wollen wir schlafen.“
Am nächsten Abend, noch vor der Schule, braute Miranda noch einen Kessel voll Warmtrank, den sie ja bestimmt bald wieder brauchen würden. Dann flogen die beiden zur Schule. Für diesen kurzen Weg hatte Miranda Wyveria keinen Warmtrank gegeben, und so verkroch sie sich unter ihren Decken in ihrem Korb.
Als sie bei der Schule ankamen, sahen sie, dass die Schultür verschlossen war. „Die Schule fällt aus!“, rief Esmeralda den beiden zu und flog wieder nach Hause.
„Wieso fällt denn die Schule schon wieder aus?“, wunderte Miranda sich. Sie landete und schaute auf die Schultür. Tatsächlich hing dort ein Zettel auf dem stand: „Liebe Hexenkinder. Leider muss ich noch einmal dringend verreisen. Deshalb fällt die Schule heute aus.“
„Ich habe noch nie erlebt, dass so oft die Schule ausfällt“, sagte Miranda zu Wyveria. „Ich will jetzt wirklich wissen, was dahintersteckt.“
„Sollen wir ins Drachenland fliegen? Jetzt hätten wir doch Zeit.“
„Hmm. Ich will erstmal ins Hexendorf und sehen, ob ich dort etwas herausfinde.“
Also machte Miranda sich auf den Weg. „Beeil’ dich, mir wird kalt“, beklagte sich Wyveria. Aber da war Miranda schon im Dorf angekommen. Zu ihrer Überraschung war auch das Hexendorf wie ausgestorben, keine der Hexen war zu Hause.
„Wo können die nur alle sein?“, überlegte Miranda, und dann wurde es ihr klar. „Die halten bestimmt einen Hexenrat ab“, sagte sie zu Wyveria. „Da wäre ich zu gern dabei.“
„Bist du nicht zu klein für den Hexenrat?“, fragte Wyveria.
„Ja, schon. Aber wir könnten uns doch vorsichtig hinschleichen und lauschen.“
„Dann bekommst du aber eine Menge Ärger, wenn sie dich erwischen.“
„Dann dürfen wir uns eben nicht erwischen lassen“, sagte Miranda und steuerte ihren Besen nach Hause. Dort bekam Wyveria ihrem Warmtrank und die beiden machten sich auf den Weg.
Der Hexenrat fand auf dem großen Versammlungsplatz der Hexen am Blocksberg statt. Miranda flog dicht über dem Boden, um nicht gesehen zu werden, landete ihren Besen ein gutes Stück vom Versammlungsplatz entfernt und schob ihn in ein Gebüsch. Dann zauberte sie sich unsichtbar. „Schade, dass ich dich nicht auch unsichtbar zaubern kann“, sagte sie zu Wyveria. Sie schlichen leise den Berghang hinauf. Der Versammlungsplatz war flach und ungefähr rund, an seinem Rand lagen große Steine und Felsbrocken herum. Die beiden huschten hinter einen der Felsbrocken, so dass Wyveria vorsichtig um ihn herumspähen konnte, und dann lauschten sie.
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Kurze Zeit später waren die Zentauren mit Miranda in ihrem Dorf angekommen und begannen mit den Vorbereitungen für ein Fest. In der Mitte des Dorfplatzes war eine Feuerstelle, in der jetzt ein großes Feuer prasselte, denn es war hier zwar nicht winterkalt, aber die Nacht war kühl. Die Zentauren trugen Tische hinaus und stellten große Schalen darauf, in denen verschiedene Früchte und Gemüse lagen. Sie holten auch große Amphoren – Krüge, in denen sie Getränke aufbewahrten. Miranda schaute aufmerksam zu einem der Krüge und fragte sich, ob darin Zentaurenwein war.
Es dauerte nicht lange, und alle Vorbereitungen waren fertig. Die Zentauren versammelten sich um das Feuer. Natürlich hatten sie keine Stühle, denn sitzen konnten sie mit ihren Pferdekörpern ja nicht, aber einer von ihnen trug einen niedrigen Tisch heran, auf den Miranda sich setzen konnte. Hyppolytas Vater kam zu ihr und sagte „Ich bin Polymedes, und ich danke dir noch einmal für die Rettung meiner Tochter.“
„Ich bin Miranda“, stellte sie sich vor, „und ich habe euch gern geholfen.“
„Wir alle danken dir, Miranda“, sagte der ältere Zentaur mit dem grauen Bart. „Ich bin Cheiron, der Anführer dieses Dorfes. Du hast einen Zentauren gerettet, und dafür wollen wir dich nun ehren.“
Polymedes ging zu einem der großen Tische und brachte Miranda eine Schale, in die er die schönsten Früchte gelegt hatte, die er finden konnte. Dann nahm er einen silbernen Becher und schenkte ihr aus einer der Amphoren ein. Auch die anderen Zentauren nahmen ihre Becher und alle riefen gleichzeitig: „Wir ehren dich, Miranda“, und tranken.
Das Getränk schmeckte köstlich, zumal Miranda inzwischen auch großen Durst hatte, aber es war kein Wein, sondern ein Fruchtsaft. Doch Miranda hatte es ja nicht eilig und deshalb aß und trank sie mit den Zentauren. Hyppolyta stand neben ihr und auch sie bedankte sich immer wieder bei ihr. Sie erzählte, wie sie in Not geraten war:
„Ich wollte eigentlich nur ein bisschen spazieren gehen, und bin den Weg entlang gegangen. Natürlich weiß ich, dass man auf dem Weg vorsichtig sein muss und aufpassen muss, wohin man tritt. Ich ging also dort entlang, aber dann sah ich etwas ganz Schönes: Einen Schmetterling. Er hatte ganz leuchtende Farben, blau mit hellen goldenen Punkten, und in der Mitte waren die Punkte schwarz. Er flatterte direkt vor mir her, und ich streckte die Hand aus. Der Schmetterling setzte sich darauf – hast du schon einmal einen Schmetterling auf der Hand gehabt? Er war ganz leicht, ich konnte ihn kaum spüren. Und dann flog er wieder auf und ich wollte ihm hinterhergehen, und plötzlich passierte es: Mein rechter Hinterhuf rutschte ab und ich schlitterte den Hang hinunter. Ich fiel auf die Seite, genau hier“, sie zeigte auf ihre Flanke und Miranda konnte sehen, dass das dunkelbraune Fell dort aufgescheuert war. „Als ich endlich nicht mehr rutschte, war ich ganz unten am Hang. Ich rief um Hilfe, aber zuerst hörte mich keiner, und deshalb versuchte ich aufzustehen. Es war ziemlich schwierig, aber als ich endlich stand, war es noch schwieriger, vorwärts zu kommen. Und dann machte ich einen falschen Schritt und mein Vorderhuf war eingeklemmt, und ich konnte ihn nicht hinausziehen, weil ich nicht genug Kraft hatte. Und ich hatte solche Angst, dass ich dort für immer stehen bleiben müsste.“ Hyppolyta drehte sich zu Miranda und umarmte sie.
„Ich habe dir wirklich gern geholfen“, sagte Miranda.
Cheiron, der Dorfälteste, schaute sie ernst an. „Aber du bist sicher aus einem bestimmten Grund in unsere Berge gekommen, nicht wahr? Wolltest du etwas von den Zentauren?“
„Ja, eigentlich schon. Wisst Ihr, ich brauche Zentaurenwein.“
Als Miranda das Wort ‘Zentaurenwein’ ausgesprochen hatte, wurde es auf einen Schlag ganz still. Keiner der Zentauren sagte etwas und Miranda fragte sich, ob sie etwas falsch gemacht hatte. Dann sprach wieder Cheiron: „Das ist leider unmöglich. Zentaurenwein darf nicht an Menschen gegeben werden. Das ist ein altes Gesetz der Zentauren.“
„Ich will den Wein ja nicht für mich, ich will meiner Freundin Wyveria helfen. Sie ist ein Drache.“
„Ein Drache! Dann kennst du das Geheimnis des Zentaurenweins?“ Cheirons Stimme klang jetzt ein wenig grimmig.
„Ja, ich weiß, dass man damit Drachen verzaubern kann. Wyveria ist ein Drache, der bei mir wohnt, und ich will ihr helfen, weil es bei uns so kalt ist.“
„Vor langer Zeit, vor mehr als hundert Jahren, war schon einmal ein Mensch hier, der Zentaurenwein haben wollte. Damals gab es das Gesetz noch nicht, und wir gaben ihm den Wein, den er verlangte. Wir erhielten kostbare Geschenke dafür. Doch dann erfuhren wir, dass er den Wein verwendet hatte, um einen Drachen zu verzaubern und ihn böse zu machen. Seitdem gibt es das Gesetz und es ist unumstößlich.“
Miranda hatte gespannt zugehört. Sollte dieser Drache der Frostdrache gewesen sein, von dem ihr Grimbold erzählt hatte? Der Frostdrache war ja vor langer Zeit von einem bösen Zauberer verwandelt worden.
„Aber ich will doch einem Drachen helfen“, sagte Miranda.
„Es tut mir Leid. Ich würde dir gern helfen, aber wir dürfen unsere Gesetze nicht umstoßen, das wäre einfach nicht richtig“, sagte Cheiron. Er klang traurig dabei, aber auch sehr bestimmt.
„Ich werde dir den Wein geben“, sagte Polymedes. Alle Zentauren schauten ihn entsetzt an. „Ich muss es tun. Als sie Hyppolyta gerettet hat, habe ich ihr versprochen, ihr jeden Wunsch zu erfüllen.“
„Aber darfst du mir denn den Wein geben?“, fragte Miranda verwirrt.
„Nein, das darf er nicht“, sagte Cheiron ernst. „Wenn er dir den Wein gibt, dann werden wir ihn aus dem Dorf verstoßen müssen. So will es das Gesetz.“
„Nein, das will ich nicht. Dann muss ich eben ohne den Wein auskommen“, sagte Miranda. „Obwohl ich nicht weiß, was ich mit Wyveria tun soll, wenn es noch kälter wird. Und sie sollte mich doch ins Drachenland begleiten.“ Miranda wurde immer trauriger. Sie hatte so sehr auf den Zentaurenwein gehofft, aber nun konnte sie ihn nicht bekommen.
„Ich gebe dir den Wein“, sagte Polymedes bestimmt. „Ich habe es versprochen, und Versprechen muss man halten, egal was die Folgen sind.“
„Nein, das geht nicht. Ich würde immer ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich dich aus deinem Dorf vertrieben hätte“, antwortete Miranda.
Cheiron hatte den beiden zugehört, dann wandte er sich an einen der anderen Zentauren und flüsterte ihm etwas zu. Kurze Zeit später kam der Zentaur wieder zurück. Er hatte ein kleines Fass in den Händen.
Cheiron nahm das Fass und trat zu Miranda. „Du bist wirklich ein guter und selbstloser Mensch“, sagte er. „Ich kann unser Gesetz nicht brechen, aber wir können es vielleicht umgehen. In diesem Fass ist kein Zentaurenwein, aber Most. Wenn du ein paar Monate wartest, wird sich daraus Wein gebildet haben, und dann kannst du deinen Drachen verzaubern.“
„Ein paar Monate?“, fragte Miranda. Sie wusste nicht, ob sie so lange Zeit hatte, aber trotzdem war es besser als nichts. „Das ist sehr großzügig von dir“, sagte sie. „Ich werde gut auf das Fass aufpassen, damit niemand es stehlen kann.“
Miranda lud das Fass in den Korb in ihrem Besen. Für Neferti wurde es etwas eng, aber der Platz reichte gerade noch. Dann verabschiedete Miranda sich von den Zentauren. Hyppolyta umarmte sie noch einmal zum Abschied, Polymedes und Cheiron gaben ihr die Hand. Sie kletterte sie in ihren Besen, winkte den Zentauren und flog zurück nach Hause.
Am Wochenende stand Miranda gleich nach Sonnenuntergang auf, um sich reisefertig zu machen. Wyveria lag vor dem Ofen und wärmte sich, denn es war immer noch kalt. Während Miranda überlegte, was sie alles mitnehmen wollte, und ihren Rucksack einpackte, strich ihre Katze Neferti um ihre Beine herum.
„Arme Neferti“, sagte Miranda und nahm sie auf den Arm. „Ich habe gar nicht mehr so viel Zeit für dich wie früher, nicht wahr?“ Neferti schnurrte, während Miranda sie streichelte. Doch als Miranda sie wieder absetzte, wuselte Neferti immer noch um sie herum.
„Weißt du was, Neferti“, sagte Miranda schließlich, „diesmal nehme ich dich mit. Wyveria muss ja schließlich hierbleiben, aber dir macht die Kälte nicht so viel aus.“
Kurze Zeit später klopfte es an der Tür. Miranda hatte Netti gebeten, sich um Wyveria zu kümmern, während Miranda nicht da war.
„Hallo Miranda. Reisefertig?“, begrüßte Netti sie.
„Ich glaube schon“, sagte Miranda, „ich brauche nur noch etwas Katzenfutter, denn diesmal nehme ich Neferti mit.“ Nachdem sie auch das Futter eingepackt hatte, verabschiedete Miranda sich und machte sich auf den Weg.
Neferti saß hinter ihr im Korb und schaute neugierig in die Welt hinaus. Miranda hatte sie beide warm gezaubert, Neferti in eine Decke gehüllt und sich selbst ihre wärmsten Sachen angezogen, so dass sie beide nicht froren. So sausten sie über die nächtliche Schneelandschaft dahin, in Richtung Südosten.
Sie flogen über Wälder, Felder, Wiesen und Flüsse, eine ganze Weile lang. Schließlich sahen sie vor sich das große Gebirge, an dem sie entlangfliegen mussten. Als Miranda sich umdrehte, sah sie, dass Neferti ihre Decke zur Seite gestrampelt hatte. „Du hast Recht. Es ist wirklich wärmer geworden“, bemerkte Miranda und knöpfte ihren dicken Wintermantel auf.
Nachdem sie noch eine Weile weitergeflogen waren, wurde es schließlich so warm, dass Miranda landen musste, um ihre warmen Sachen auszuziehen. „Ich glaube, bald sind wir in Griechenland“, sagte Miranda und schaute auf die Karte, die sie mitgenommen hatte.
Sie vertrat sich einen Moment die Beine, trank einen Schluck, und flog dann weiter in die Nacht hinaus.
Schließlich erreichten sie Griechenland. Unter ihnen lagen Wälder, aber auch viele karge Felsen und Hügel, die nur mit einigen Büschen und Gestrüpp bewachsen waren. Dann, endlich, näherten sie sich dem Gebirge, in dem die Zentauren wohnen sollten.
Steile und schroffe Klippen und Berghänge wechselten sich ab mit Wiesen und dunklen Wäldern. Miranda schaute aufmerksam zu Boden, doch zunächst konnte sie keine Spur der Zentauren entdecken. Dann sah sie, noch ziemlich weit entfernt, eine Bewegung in der Luft. Etwas Dunkles waberte dort herum – Rauch! ‘Wo Rauch ist, ist Feuer, und wo Feuer ist, da wohnt vermutlich jemand,’ dachte Miranda und flog auf den Rauch zu. Es dauerte nicht lange, und sie sah unter sich eine flache Ebene mit einem Dorf aus großen, länglichen Hütten aus Holz. Das erste, das ihr auffiel, war, dass die Häuser sehr große und vor allem breite Eingangstüren hatten. Dann bemerkte sie etwas anderes: Viele der Türen standen offen, doch trotzdem war im ganzen Dorf niemand zu sehen, so als wären alle Dorfbewohner fortgegangen. ‘Lange können sie aber noch nicht weg sein,’ überlegte Miranda, ‘denn dann hätten sie kein Feuer im Kamin angelassen.’ Miranda drehte noch eine Runde über dem Dorf, aber nachdem sie auch dabei niemanden sehen konnte, flog sie weiter in die Höhe und hielt Ausschau.
Die Ebene, auf der das Dorf stand, war nicht sehr groß und ein kleines Stückchen weiter sah Miranda einen schmalen Pfad, der sich am Berg entlangschlängelte. Vielleicht waren alle Dorfbewohner in diese Richtung gegangen? Sie flog den Pfad entlang, und tatsächlich musste sie nur ein kleines Stück weiter fliegen, als sie Stimmen hörte. Sie riefen aufgeregt und hektisch, und zwischen den tiefen Stimmen der Erwachsenen konnte sie das ängstliche Rufen eines Kindes hören.
Die Zentauren standen auf dem schmalen Weg und schauten nach unten, so dass sie Miranda nicht bemerkten. Sie sahen genau so aus, wie das Buch sie beschrieben hatte: Ihre Körper waren die von großen Pferden, aber anstelle von Hals und Kopf hatten sie menschliche Oberkörper. Die Zentaurenmänner trugen dunkle Lederwesten, die Zentaurenfrauen dagegen Umhänge aus leuchtend buntem Stoff. Doch Miranda nahm sich nicht viel Zeit, um sie anzusehen, denn sie hörte nun ganz deutlich eine Kinderstimme, die laut um Hilfe rief.
Unter dem Weg lag ein großes Geröllfeld aus lauter großen Steinen und Kieseln, und ein ganzes Stück unterhalb des Weges inmitten des Gerölls stand ein junges Zentaurenfohlen. Es war anscheinend den Hang hinabgerutscht und gestürzt und hatte sich dann beim Aufstehen seinen rechten Vorderhuf zwischen einigen großen Steinen eingeklemmt, so dass es sich nicht mehr bewegen konnte.
Die Zentauren oben am Weg riefen im Mut zu und überlegten, wie sie ihm helfen konnten, aber mit ihren schmalen Hufen konnten sie nicht über das Geröll laufen, denn sie hätten sich die Beine gebrochen. Ein Zentaur schlug vor, das Kind mit einem Seil hochzuziehen, aber dazu hätten sie erst einmal das Bein des Kindes zwischen den Steinen herausziehen müssen.
Miranda zögerte nicht lange. Sie rief den Zentauren zu „Ich helfe Euch“, und flog den Abhang hinunter, bis sie direkt über dem Kind war. „Bleib ganz ruhig, ich helfe dir“, sagte sie und überlegte, was sie tun sollte. Vorsichtig flog sie tiefer und versuchte zu landen, doch als sie ein Bein auf den Boden setzte, kamen die Steine unter ihr ins Rollen. Also blieb sie auf dem Besen sitzen und flog ein Stück in die Höhe. Das Zentaurenkind war so groß wie ein Pony – Miranda war sicherlich nicht stark genug, um es auf den Besen zu heben und mit ihm nach oben zu fliegen. Dann aber hatte sie eine Idee.
Sie flog nach oben zu den anderen Zentauren und rief „Gebt mir ein Seil.“ Einer der Zentauren, die ihr gespannt zugesehen hatten, wie sie über den Hang geflogen war, reichte ihr ein Seil. „Ich weiß nicht, wer du bist“, sagte er, „aber wenn du mir hilfst, mein Kind zu retten, werde ich dir jeden Wunsch erfüllen.“
„Klar helfe ich Euch“, sagte Miranda und versuchte, zuversichtlich zu klingen, um dem Zentaurenvater Mut zu machen. Sie nahm ein Ende des Seils, drehte sich in ihrem Besen nach hinten und knotete es um Neferti’ Bauch. Dann flog sie den Abhang hinunter, bis sie wieder neben dem Zentaurenkind in der Luft schwebte. „Halte ganz still“, sagte sie, „gleich versuche ich dich herauszuziehen.“ Sie hob Neferti aus dem Besen und setzte sie auf dem Boden ab, direkt neben dem Zentaurenkind.
„Still, Neferti“, sagte sie und ihre Katze blieb ganz ruhig auf dem Boden sitzen. Da sie leicht war, blieben die Steine unter ihren Tatzen ruhig liegen. Miranda hielt das andere Ende des Seils fest und flog über den Rücken des Zentaurenkindes auf seine andere Seite. „Komm Neferti“, rief sie dann. Neferti lief um das Zentaurenkind herum und wollte zum Besen hochspringen. „Nein, nicht so“, sagte Miranda. „Du musst unter seinem Bauch durchlaufen.“ Miranda flog wieder auf die andere Seite und rief ihre Katze noch einmal. Diesmal rannte Neferti vor dem Zentaurenkind herum.
Beim dritten Mal klappte es schließlich. Neferti lief unter dem Bauch des Zentaurenkindes hindurch und durfte dann zurück in den Korb springen. Auf diese Weise hatte Miranda das Seil um den Bauch des Zentaurenkindes geschlungen und konnte es nun verknoten.
„Vorsichtig, ich ziehe dich jetzt ein wenig nach oben“, rief sie dem Zentaurenkind zu und flog dann in die Höhe. Das Seil straffte sich, bis es ganz gespannt war. „Autsch!“, schrie das Zentaurenkind, denn der Ruck hatte natürlich an seinem eingeklemmten Fuß weh getan.
„Du musst ganz tapfer sein“, sagte Miranda, „es tut gleich noch einmal weh, aber dann bist du frei.“ Sie flog wieder in die Höhe, es ruckte einmal heftig, das Zentaurenkind schrie auf, aber Miranda sah, dass sie Erfolg gehabt hatte: Der Vorderhuf war nun wieder frei.
Miranda zog das Zentaurenkind immer noch ein wenig nach oben, damit nicht sein ganzes Gewicht auf dem Geröllboden lag. „Du bist zu schwer, ich kann dich nicht ganz hochheben“, sagte sie. „Versuch vorsichtig nach oben zu laufen, ich helfe dir.“
Behutsam setzte das Zentaurenkind einen Huf vor den anderen, während Miranda über seinem Rücken flog und es ein wenig in die Höhe hob. Schritt für Schritt ging es den Berghang hinauf. Einmal geriet der Boden unter ihm noch in Bewegung, doch bevor es ausrutschen konnte, ruckte Miranda das Seil noch etwas nach oben, so dass es wieder Fuß fassen konnte. So gelangten sie schließlich zum Bergpfad.
Der Vater des Zentaurenkindes schloss es überglücklich in seine Arme. „Hyppolyta, ist dir auch nichts passiert?“ „Nein, mir geht es gut. Nur mein Huf tut weh“, antwortete Hyppolyta, und tatsächlich war ihr Huf aufgekratzt und blutete. „Das wird bald wieder“, tröstete Hyppolytas Vater sie. Dann drehte er sich zu Miranda um, die inzwischen gelandet war: „Ich danke dir. Ich danke dir von ganzem Herzen und werde immer in deiner Schuld stehen. Wenn du einen Wunsch hast, brauchst du ihn nur auszusprechen.“
„Ich habe euch gern geholfen“, sagte Miranda. Natürlich hätte sie den Zentauren auch geholfen, wenn sie nichts von ihnen gewollt hätte. Doch nun würde es sicherlich ein Leichtes sein, die Zentauren um etwas von ihrem Wein zu bitten, dachte sie, während die Zentauren sich auf den Weg in ihr Dorf machten.
„Wir feiern ein Fest, und du bist unser Ehrengast“, sagte ein älterer Zentaur mit einem kurzen grauen Bart.
„Weißt du, Wyveria“, sagte Miranda, als die beiden morgens, kurz bevor sie schlafengehen wollten, in Mirandas Zimmer am Ofen saßen. „Ich finde das alles ziemlich seltsam. Der Winter kommt so früh wie überhaupt noch nie, und dann dieses seltsame Fünfeck, in dem viel weniger Schnee ist. Die Hexenlehrerin macht geheimnisvolle Ausflüge, die Dorfladenhexe ist plötzlich so unfreundlich – ich frage mich, was das alles soll.“
„Und auch noch der Drachenfußabdruck“, sagte Wyveria.
„Stimmt, den hatte ich schon ganz vergessen. Also – wir haben diesen Drachenfußabdruck, und die Hexenlehrerin war im Drachenland, und dann finden wir hier diese seltsamen Stäbe, die aussehen wie Drachentatzen und die anscheinend irgendwie die Kälte abhalten. Geheimnisvoller geht’s ja wohl kaum.“
„Erinnerst du dich noch an meinen Traum?“, fragte Wyveria.
„Den mit dem schwarzen Drachen, der eisiges Feuer spuckt, um dich einzufrieren?“
„Ja, genau. Vielleicht hat dieser schwarze Drache etwas mit all dem zu tun“, überlegte Wyveria. „Wir müssten die Drachen fragen. Die wissen sicher, was hier vorgeht.“
„Ja, das tun sie bestimmt. Ich frage mich nur, ob sie es mir sagen würden, wenn ich ins Drachenland fliege. Anscheinend ist das alles ja ein großes Geheimnis, sonst hätte der Drache, der hier war, uns bestimmt besucht.“
„Aber wenn wir zusammen ins Drachenland fliegen, dann könnte ich Perlauge fragen. Sie ist meine Freundin und hat bestimmt keine Geheimnisse vor mir.“
„Gute Idee. Ich fürchte nur, du kannst nicht ins Drachenland fliegen – wir müssten eine ganze Weile hier durch die Kälte, da würdest Du bestimmt wieder einfrieren.“
„Kannst Du mich nicht doch irgendwie verzaubern?“
„Ich weiß nicht. Grimbold hat damals gesagt, dass das nicht geht. Und Draconia konnte dich auch nicht verzaubern, als uns beim Schwimmen kalt war.“
„Vielleicht hat Grimbold damals ja auch nicht die ganze Wahrheit gesagt – immerhin wollte er dir ja Angst machen, damit ich mit ihm komme und du mich gehen lässt.“
„Gut. Vielleicht finde ich ja in der Schulbibliothek etwas, das uns weiterhilft.“
Nach der Schule in der nächsten Nacht stöberten Miranda, Draconia, Netti und Wyveria wieder einmal in der Schulbibliothek herum. Netti und Wyveria arbeiteten zusammen: Netti konnte zwar nicht lesen, aber sie konnte Wyveria beim Lesen helfen, indem sie Bücher holte und Buchseiten umblätterte. Wie schon einmal suchten sie zunächst alle Bücher heraus, in denen es um Drachen ging, doch dort wurden sie nicht fündig.
„Hier steht: ‘Mit normaler Magie sind Drachen nicht zu verzaubern, denn ihre Widerstandskraft gegen fremde Zauber ist zu groß’“, las Draconia vor.
„Das klingt aber nicht gut“, meinte Miranda.
„Immerhin steht hier ‘mit normaler Magie’. Vielleicht gibt es ja doch eine besondere Magie, mit der es geht.“
So suchten die Vier also weiter nach einem Zauber, mit dem man auch Drachen verzaubern konnte. Sie suchten lange Zeit herum und schauten auch in die unwahrscheinlichsten Bücher. Sie hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben, als Miranda etwas fand. Sie blätterte gerade in dem Buch „Seltene magische Substanzen“, als sie sah, dass an einer Stelle etwas mit der Hand an den Rand geschrieben stand.
„Hier ist etwas“, rief sie. „Hier geht es um ein magisches Getränk namens ‘Zentaurenwein’. Der soll Heilkräfte besitzen. Und am Rand steht eine Notiz, die irgendwer mit der Hand hingeschrieben hat. Da steht: ‘Die Zauberer sagen, dass ein Zaubertrank, der mit Zentaurenwein zubereitet wird, sogar Drachen verzaubern kann.’ Wir brauchen Zentaurenwein.“
„Zentauren“, sagte Netti. „Wo leben die denn?“
„Ich glaube, irgendwo in Griechenland“, antwortete Draconia.
„Wartet mal“, sagte Wyveria. Sie schaute den Bücherstapel an, in dem sie und Netti gelesen hatten. Nach einem Moment stupste sie eins der Bücher an. „Hier Netti, nimm mal dieses Buch, bitte.“ Netti zog das Buch aus dem Stapel heraus und Miranda konnte den Buchtitel lesen: „Magische Kreaturen der Welt“. „Blättere mal auf Seite 124“, bat Wyveria. Netti blätterte das Buch um, bis sie bei der richtigen Seite angekommen war.
„Das Buch haben wir vorhin durchgeblättert, als wir nach dem Drachenzauber gesucht haben. Da drin steht was über Zentauren“, erklärte Wyveria, während Netti umblätterte.
„Ich hätte auch gern ein photographisches Gedächtnis“, seufzte Draconia. Dann aber schaute sie mit den anderen in das Buch hinein.
Unter der Überschrift „Zentauren“ war ein Bild von einem seltsamen Wesen mit einem Pferdekörper, aus dem da, wo bei einem Pferd der Hals anfing, der Oberkörper eines Menschen herauswuchs. Sie erfuhren, dass Zentauren schon seit Tausenden von Jahren in Griechenland lebten, in kleinen Dörfern versteckt im Parnass-Gebirge.
„Gut, dann muss ich dahin fliegen“, sagte Miranda. „Am besten gleich am nächsten Wochenende, denn nach der Schule schaffe ich es nicht in einer Nacht.“
Als Miranda zwei Nächte später wieder in der Schule war, war sie immer noch neugierig, wo die Hexenlehrerin gewesen war.
„Hatten Sie eine schöne Reise?“, fragte sie vorsichtig, als sie am Anfang der großen Pause an der Lehrerin vorbei aus dem Klassenzimmer ging.
Aber die Hexenlehrerin antwortete nur: „Ja“, und sagte nichts weiter. Miranda fand das sehr seltsam. Normalerweise war die Hexenlehrerin gesprächiger und nicht so geheimnisvoll.
‘Ich möchte zu gern wissen, wo sie war,’ dachte Miranda. ‘Ob das mit der großen Kälte zusammenhängt?’ Die anderen Hexenkinder waren bereits draußen vor der Schule und tobten im Schnee herum. Da hatte Miranda eine Idee.
„Komm, Wyveria, für dich ist es sowieso zu kalt draußen“, sagte sie und ging wieder zurück. „Darf ich mit Wyveria drinnen bleiben?“, fragte sie die Lehrerin. „Es ist zu kalt für sie draußen, und allein langweilt sie sich.“
„Langweilt sich?“, wunderte sich die Lehrerin. „Das ist ja etwas ganz Neues. Aber wenn Du willst, kannst du auch drinnen Pause machen.“
„Danke!“, sagte Miranda und verschwand mit Wyveria im Klassenzimmer. Sie stellte sich neben die Tür und spähte vorsichtig auf den Gang hinaus. Die Lehrerin ging zur Schultür, um zu sehen, was die Kinder draußen taten. Das war die Gelegenheit für Miranda. „Warte hier“, sagte sie zu Wyveria.
„Wohin willst du denn?“
„Ich will nur sehen, ob ich rauskriege, wo die Lehrerin gestern Nacht war“, sagte Miranda und huschte zur Tür hinaus.
Die Zimmer, in denen die Lehrerin wohnte, lagen zwei Stockwerke über dem Klassenraum. Miranda schlich sich vorsichtig die Treppe hinauf, um kein Geräusch zu machen. Im zweiten Stock der Schule angekommen, schaute sie sich um. Auf einer Kommode lagen ein paar Zettel, aber es waren nur eine Einkaufsliste und ein Brief, der schon einige Tage alt war.
Neben der Kommode stand eine Garderobe, an der ein langer Hexenumhang hing. Unten am Saum des Umhangs sah Miranda etwas Rötliches: es war feiner, rötlicher Sand. ‘Roter Sand,‘ dachte Miranda. ‘Irgendwo habe ich schonmal solchen roten Sand gesehen. Aber wo?’ Doch sie konnte sich nicht erinnern. Schnell bückte sie sich, kratzte vorsichtig etwas von dem Sand in ihre Hand und schlich dann die Treppe wieder hinunter.
„Wo warst du denn?“, fragte Wyveria neugierig, als Miranda wieder in der Klasse war.
„Ich habe spioniert. Guck mal diesen Sand an, der hing am Umhang der Hexenlehrerin. Weißt du, wo es solchen Sand gibt?“
Wyveria schaute sich den Sand genau an, dann schnüffelte sie vorsichtig daran. „Das ist Sand aus dem Drachenland“, sagte sie dann.
„Dann war die Lehrerin im Drachenland! Aber warum? Und warum hat sie uns nichts davon erzählt?“ Miranda fand das alles sehr geheimnisvoll und auch ein wenig unheimlich. Warum durfte sie nicht wissen, dass die Lehrerin bei den Drachen gewesen war?
Den Rest des Unterrichts war Miranda unaufmerksam und abgelenkt, weil sie die ganze Zeit grübelte, was die Lehrerin vor ihr verbarg. Auch auf dem Nachhauseweg war sie sehr schweigsam.
Wyveria hatte sich wieder ganz tief in ihrem Korb verkrochen. Miranda dachte an die Drachen, und Wyverias Traum, in dem sie eingefroren gewesen war, fiel ihr wieder ein. Darin war schließlich auch ein Drache vorgekommen. Ob das etwas mit dem Geheimnis der Lehrerin zu tun hatte?
Miranda war so abgelenkt, dass sie zuerst gar nicht bemerkte, dass sie viel höher flog, als sie es normalerweise tat. Sie schaute auf die Schneelandschaft hinunter und plötzlich bemerkte sie etwas Seltsames: Unter ihr lag der Schnee etwa so hoch, dass er ihr bis zu den Knien reichen würde, aber weiter weg war der Schnee viel höher. Dort, wo der hohe Schnee begann, lag eine steile Schneewand, die mindestens so groß war wie sie selbst. Miranda flog noch höher, so dass sie die ganze Gegend von Ihrem Haus bis zum Hexendorf auf der einen und zur Hexenschule auf der anderen Seite überblicken konnte. Und da sah sie es: Das Gebiet, in dem nur wenig Schnee lag, war wie ein gewaltiges freies Feld mit fünf Ecken. Genau in der Mitte dieses Feldes lag ihr Hexenhaus.
„Wyveria, schau dir das mal an“, sagte sie und zeigte Wyveria, was sie entdeckt hatte. Wyveria streckte ihren Kopf unter der Decke heraus und sagte „Das ist wirklich seltsam. Hat jemand den Schnee weggezaubert? Aber warum? Und wer?“
„Vielleicht finden wir es heraus, wenn wir den Rand des Fünfecks untersuchen“, schlug Miranda vor. Aber Wyveria war nicht einverstanden. „Zu kalt“, sagte sie nur und verkroch sich wieder unter der Decke.
„Gut, dann fliegen wir nach Hause. Am besten frage ich Draconia, ob sie mitkommt, dann kannst Du zuhause im Warmen bleiben.“
Wenig später saß Miranda wieder auf ihrem Besen, neben ihr ihre Freundin Draconia. Miranda hatte ihr von dem seltsamen Schneefünfeck erzählt und die beiden wollten es nun genauer erkunden. Wyveria blieb in Mirandas Haus und saß auf ihrem Schatz, den Miranda neben den Kamin platziert hatte.
„Wenn wir ganz hoch fliegen, sehen wir es am besten“, erklärte Miranda. Die beiden flogen noch höher, als Miranda es vorhin getan hatte, und konnten es deutlich erkennen: Mirandas Haus lag tatsächlich genau in der Mitte eines großen Gebietes, in dem viel weniger Schnee lag als außerhalb.
Die beiden flogen zum Rand des Gebietes und gingen tiefer. Außerhalb des Fünfecks lag der Schnee sehr hoch, so hoch, dass Miranda vollständig darin hätte versinken können. Als sie die Grenzlinie überflogen, bemerkten sie, dass es außerhalb viel kälter war. Es wehte ein eisiger, schneidender Wind, der die beiden auch unter ihren warmen Wintersachen frösteln ließ. Sobald sie die Grenze wieder überquerten, wurde der Wind wieder schwächer.
„Mein Haus liegt auch innerhalb des Fünfecks, sonst hätte ich es bestimmt schon früher bemerkt. Das muss Zauberei sein“, sagte Draconia, „so etwas gibt es doch sonst nicht.“
„Stimmt. Vielleicht kriegen wir ja heraus, was für eine Art von Zauber dahintersteckt, wenn wir die ganze Grenze abfliegen. Irgendwo muss es doch einen Hinweis geben.“
So flogen die beiden dicht über dem Schnee hinweg und spähten aufmerksam zu Boden. Sie waren so darin vertieft, nach Spuren irgendeines Zaubers zu suchen, dass sie gar nicht bemerkten, wie sich ihnen jemand näherte.
„Was macht ihr denn da?“, schrie plötzlich eine wütende Stimme.
Erschrocken schauten die beiden nach oben. Über ihnen flog eine Hexe auf ihrem Besen und schaute sie grimmig an. Es war die Hexe, der der Laden im Hexendorf gehörte, in dem Miranda immer einkaufte.
„Wir schauen uns nur um“, sagte Miranda schnell.
„Macht, dass ihr verschwindet! Bei dieser Kälte solltet ihr euch gar nicht draußen herumtreiben.“
„Aber was ist denn das hier für eine seltsame Schneewand? Und warum ist es draußen so viel kälter als drinnen?“, wollte Draconia wissen.
„Das geht euch überhaupt nichts an. Und jetzt nach Hause mit euch, ehe ich euch verzaubere!“
Obwohl die beiden nicht wirklich glaubten, dass die Hexe sie verzaubern würde, machten sie sich davon.
„Das wird ja immer seltsamer“, meinte Draconia. „Seit wann dürfen wir denn nicht mehr herumfliegen, wo wir wollen?“
„Was mindestens genauso seltsam ist: Bisher dachte ich, nur die Hexenlehrerin würde sich komisch benehmen, aber wenn die Dorfladenhexe auch damit zu tun hat, dann finde ich das alles noch viel seltsamer.“
„Ja, hier geht irgendetwas ganz ganz Merkwürdiges vor, und die Hexen wollen nicht, dass wir davon erfahren“, sagte Draconia. „Und, fliegen wir nun nach Hause?“
„Natürlich nicht“, antwortete Miranda. „Ich weiß was wir machen.“
Sie flogen ein Stück in Richtung von Mirandas Haus und dann stellten sie ihre Besen ab und nahmen ihre Zauberstäbe heraus. Es dauerte nur einen Moment, und die beiden hatten sich in Eulen verwandelt. In dieser Gestalt würden die anderen Hexen sie hoffentlich nicht erkennen können.
Vorsichtig flogen sie wieder auf die Schneewand zu und dann an ihr entlang. Diesmal hielten sie immer wieder Ausschau, ob eine Hexe in der Nähe war.
„Da ist sie wieder“, sagte Draconia. Tatsächlich flog die Dorfladenhexe wieder den Rand des Fünfecks ab und hielt Ausschau. Schnell flogen die beiden Eulen ein Stück davon und setzten sich in einen Baum. Die Hexe hatte sie anscheinend nicht bemerkt. Sie warteten eine Weile, bis die Dorfladenhexe verschwunden war, dann machten sie sich wieder auf den Weg.
Sie flogen noch eine ganze Weile an der Grenze entlang, bis sie schließlich zu einer der Ecken des Fünfecks kamen.
„Dort unten leuchtet etwas“, sagte Draconia. Die beiden landeten und schauten sich um. In der Erde steckte ein langer Stab aus Eisen, der an seiner Spitze geformt war wie eine Tatze. Die Tatze war gebogen und hielt mit ihren Klauen einen rot leuchtenden Edelstein fest.
„Das sieht aus wie der Vorderfuß von einem Drachen“, wunderte sich Miranda.
„Ob das ein Drachenzauber ist?“, fragte Draconia.
„Keine Ahnung“, sagte Miranda. „Aber neulich war ein Drache hier in der Gegend, ich habe seinen Fußabdruck gesehen.“
„Vielleicht wollen die Drachen uns vor der Kälte schützen, so gut es geht“, überlegte Draconia.
„Ja, vielleicht.“ Miranda dachte einen Moment nach. „Vielleicht wollen sie auch nicht uns beschützen, sondern Wyveria. Vielleicht ist deshalb mein Haus genau in der Mitte.“
„Aber warum sagen sie uns das nicht einfach?“, grübelte Draconia weiter. „Da muss doch noch mehr dahinter stecken als bloß Kälte und Schnee.“
„Ja, das glaube ich auch. Aber ich habe keine Ahnung, was es ist.“
Am nächsten Tag war es noch kälter geworden. Als Miranda nach dem Aufwachen aus dem Fenster schaute, sah sie, dass es geschneit hatte. „Das ist aber wirklich ein früher Winter dieses Jahr“, sagte sie zu Wyveria. Wie schon am Tag zuvor packte sie sich und Wyveria warm ein, bevor sie nach draußen gingen. Wyveria verkroch sich im Besen unter ihre Decke, und Miranda flog los.
Sie war noch dicht an ihrem Haus, als sie am Boden etwas Merkwürdiges sah: „Schau mal, Wyveria, da unten ist der Schnee ganz plattgedrückt.“ Wyveria steckte kurz ihren Kopf unter der Decke hervor und schielte nach unten. „Das muss aber etwas Großes gewesen sein.“
„Das will ich mir ansehen“, sagte Miranda und landete. Der Schnee war tatsächlich plattgetreten und voller verwischter Abdrücke. „Hier muss irgendetwas Großes gewesen sein“, sagte Miranda, „aber es ist seltsam, es führen gar keine Spuren weg von hier.“
„Vielleicht war es ein Flugzeug?“, fragte Wyveria.
„Nein, die brauchen viel mehr Platz zum Landen. Höchstens ein Hubschrauber, aber das wäre schon ein ziemlich großer Hubschrauber, wenn er soviel Schnee plattdrücken würde. Außerdem hätten wir ihn gehört, wenn er hier herumknattert.“
„Mir ist kalt“, sagte Wyveria.
„Ja, wir fliegen gleich los. Ich schaue mich nur noch einen Moment um.“ Miranda ging im Schnee umher und suchte nach deutlicheren Spuren. „Was ist denn das?“, fragte sie plötzlich. Vor ihr im Schnee war ein großer, deutlicher Fußabdruck zu sehen. Er war so lang, dass Miranda sich hätte hineinsetzen können, und er hatte vorn vier Spitzen wie von Krallen. „Das muss ein Drachenfussabdruck sein“, sagte sie nach kurzem Überlegen. „Aber wieso war ein Drache bei uns?“
„Ein Drache?“, fragte Wyveria verwundert. „Warum hat er mich dann nicht besucht?“
„Verstehe ich auch nicht.“
„Lass uns weiterfliegen“, bat Wyveria. „Mir ist kalt. Ich mag keinen Winter.“
Zum Glück waren sie bald in der Schule, wo die Hexenlehrerin gut geheizt hatte. Warum der Winter dieses Jahr so früh kam, konnte die Lehrerin aber auch nicht sagen: „So ist das Wetter eben“, meinte sie nur, als Miranda sie fragte.
Als schließlich der Unterricht zu Ende war, sagte die Hexenlehrerin: „So, Kinder, das war’s für heute. Morgen braucht ihr nicht zu kommen, morgen ist schulfrei.“
„Schulfrei? Toll, dann können wir die ganze Nacht im Schnee spielen“, sagte Draconia. Miranda aber war neugierig: „Wieso fällt denn die Schule aus? Es ist doch kein Feiertag, oder?“
„Nein, ist es nicht. Die Schule muss aber trotzdem ausfallen, denn ich muss dringend für eine Nacht verreisen.“
„Wohin denn?“, fragte Miranda weiter.
„Darum brauchst du dich nicht zu kümmern“, sagte die Hexenlehrerin nur und ging hinaus, als wollte sie verhindern, dass sie noch weiter ausgefragt würde.
„Das ist aber seltsam“, sagte Miranda. „Hast du eine Idee, wohin die Lehrerin verreisen will?“, fragte sie Draconia, aber die zuckte nur mit den Schultern. „Wir gehen jetzt in den Schnee. Kommst du mit?“
„Nein, das geht nicht. Wyveria ist es im Schnee viel zu kalt.“
„Na gut, dann bis übermorgen.“ Die Hexenkinder stiegen auf ihre Besen und flogen los. Als Miranda und Wyveria schon halb zu Hause waren, schrie Wyveria plötzlich entsetzt auf: „Miranda!“, dröhnte es in Mirandas Kopf.
„Was ist denn los?“
„Mein Schatz. Er ist immer noch hinter der Schule. Wir müssen ihn vor der Kälte retten.“
„Du hast recht. Dem Schatz passiert zwar in der Kälte nichts, aber drauf sitzen kannst du jedenfalls nicht, solange das Wetter so schlecht ist.“
Also drehte Miranda um und machte sich auf den Rückweg zur Schule. Zusammen mit Wyveria krabbelte sie hinter das Schulgebäude. „Kalt!“, beschwerte sich Wyveria, als ihre Füße den Schnee berührten.
Auch zwischen dem Schuppen und der der Hexenschule lag viel Schnee, den der scharfe Wind dorthin geweht hatte. „Wo genau ist denn dein Schatz?“, fragte Miranda. Wyveria schaute umher und überlegte. „Es sieht alles ganz anders aus mit soviel Schnee. Außerdem ist mir kalt. Hier etwa, glaube ich.“
Miranda leuchtete mit ihrem Zauberlicht, das sie sich wieder an die Spitze ihres Zauberstabs gesetzt hatte, während Wyveria umherspähte und ab und zu schnüffelte. „Hier“, sagte Wyveria dann und zeigte auf eine kleine Kuhle im Boden, die ganz mit Schnee angefüllt war. Sie begann, mit ihren Vordertatzen zu graben. „Kalt!“, sagte sie erneut.
„Warte, ich helfe dir.“ Miranda half Wyveria, vorsichtig den Schnee zur Seite zu schaufeln, um die Schätze zu bergen. „Hier ist schon mal etwas“, sagte sie und hob eine Goldmünze auf. Dann fand sie auch die anderen Sachen, nur die Kette fehlte. Wyveria nahm die Schätze, die sie bereits gefunden hatten, und setzte sich darauf, während Miranda weiter den Schnee zur Seite schob. Es dauerte noch eine Weile, dann hatte sie die Kette gefunden. „Hier ist sie!“, rief sie. Doch als sie sie aufheben wollte, merkte sie, dass die Kette am Boden festgefroren war. Vorsichtig zog Miranda an der Kette, aber sie konnte sie nicht lösen. „Kannst du es vielleicht mit Feuer versuchen?“, fragte sie Wyveria. Diese antwortete nicht. „Das heißt dann wohl nein“, sagte Miranda und versuchte es weiter. Schließlich fiel ihr etwas ein: Sie holte ihr Taschenmesser heraus und hackte damit vorsichtig ins Eis. Ihre Finger
wurden dabei ganz steif vor Kälte, so dass es gar nicht so leicht war, das Eis aufzuhacken. Außerdem musste sie aufpassen, nicht mit dem Taschenmesser die Kette zu zerkratzen. So dauerte es eine ganze Weile, bis sie die Kette endlich befreit hatte.
„So, das hätten wir. Jetzt aber nichts wie nach Hause“, sagte sie zu Wyveria. Wyveria antwortete nicht. Sie saß immer noch ganz still auf ihren Schätzen ohne sich zu rühren. „Wyveria? Alles in Ordnung?“
Wyveria gab keine Antwort. Miranda bekam es mit der Angst zu tun. War Wyveria eingeschlafen? Schnell krabbelte sie zu ihr hin und schüttelte sie, um sie zu wecken. Wyverias Schuppen fühlten sich eisig an. „Wyveria!“, rief Miranda ängstlich. Dann nahm sie sie vorsichtig auf den Arm und trug sie, so schnell sie konnte, zu ihrem Besen. Sie setzte sie hinein, hüllte sie in ihre Decke und flog mit höchster Geschwindigkeit nach Hause.
Dort angekommen nahm sie Wyveria behutsam aus dem Besen heraus und trug sie in ihre Wohnstube. Wyveria hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht, aber Miranda konnte fühlen, dass sie noch atmete.
„Du bist total unterkühlt“, sagte Miranda, obwohl sie wusste, das Wyveria sie nicht hören konnte. Sie trug sie ins Badezimmer und setzte sie in die Badewanne. Dann machte sie ein Feuer und machte Wasser heiß, so schnell es ging. Damit Wyveria sich nicht verbrannte, füllte sie zuerst nur lauwarmes Wasser in die Badewanne, dann tat sie immer mehr heißes Wasser hinzu. Wyveria rührte sich zunächst nicht, dann aber begann sie am ganzen Körper zu zittern. Miranda hoffte, dass das ein gutes Zeichen war.
Ängstlich wartete sie neben der Wanne und füllte ab und zu heißes Wasser nach. Jetzt war das Wasser schon so heiß, dass Miranda es nicht mehr anfassen konnte, aber sie wusste ja, dass Drachen große Hitze gern mochten. Miranda machte sich Vorwürfe, dass sie nicht gut genug auf Wyveria aufgepasst hatte. „Hoffentlich wacht sie bald auf“, dachte sie. „Warum habe ich sie auch auf dem Boden sitzen lassen? Ich hätte doch den Schatz auch allein suchen können. Und warum habe ich nicht gleich geguckt, ob alles in Ordnung ist, als sie mir nicht geantwortet hat?“ Je mehr Zeit verging, desto elender fühlte Miranda sich. Das einzige, was ihr Hoffnung machte, war, dass Wyveria immer stärker zitterte. Und da – hatte sie nicht gerade einen Flügel bewegt? „Wyveria?“, sagte Miranda.
Da, endlich, schlug Wyveria ihre Augen auf. „Wyveria!“, rief Miranda und wollte ihren Drachen umarmen, doch Wyveria saß bis zum Hals im heißen Wasser. „Geht es dir wieder besser?“
„Kalt! Mir war so kalt!“, beklagte sich Wyveria.
„Aber jetzt bist du wieder ganz warm, nicht wahr?“
„Hmmm“, sagte Wyveria und streckte sich im heißen Wasser aus. Sie schloss noch einen Moment die Augen, dann sagte sie „Jetzt bin ich wieder warm. Aber die Kälte draußen ist doof. Kannst du nicht etwas zaubern, damit ich nicht so friere?“
„Du weißt doch, dass Hexen keine Drachen verzaubern können. Erinnerst du dich noch ans Schwimmen? Da konnten wir dich auch nicht warmzaubern. Wir müssen dich einfach ganz warm einpacken, wenn der Winter so kalt ist. Beim nächsten mal bekommst du eine Wärmflasche in den Besen.“
„Das ist gut“, sagte Wyveria. Nachdem sie sich noch eine Weile aufgewärmt hatte, kletterte sie aus der Wanne und ließ sich von Miranda abtrocknen. Dann setzten sich die beiden an den Ofen, kuschelten sich dort aneinander und schliefen dabei ein.
Dass die Vorlesungen an der TU Braunschweig erst am 20.4. losgehen und dann online stattfinden sollen, hat man uns zum Glück schon vor etwa vier Wochen mitgeteilt (die TU Braunschweig ist anscheinend besser organisiert als ein typisches Kultusministerium…). Es gab sogar einige Tipps, wie man das machen soll, und dank unseres Online-Lehrsystems (wir verwenden StudIP) gibt es auch einen Rahmen, wie die Studis einfach an die Online-Vorlesung herankommen.
Naiv könnte man jetzt denken (heißt übersetzt: Naiv habe ich gedacht), dass man einfach seine üblichen 90 Minuten Vorlesung in den Rechner spricht, dazu die Folien aufnimmt, und fertig. Statt 90 Minuten Hörsaal 90 Minuten am Rechner, sollte eher weniger Arbeit sein zumal ich ja nicht mal ans Institut fahren muss, also alles ganz stressfrei.
Naja, so ähnlich ist es dann auch. Nur dass man natürlich die Videos dann auch nochmal anguckt, und wenn man das schon macht, kann man sie vielleicht auch noch schneiden und editieren, dann lädt man das ganze hoch, und plötzlich merkt man, dass man für 1 Stunde Vorlesung etwa 3-4 Stunden Arbeit investiert.
Für alle, die selbst vor ähnlichen Problemen stehen, folgt jetzt hier meine kurze Sammlung an Tipps und Tricks, wie das Ganze bei mir (hoffentlich, ob die Studis dann auch was lernen, weiß ich ja noch nicht) funktioniert.
Vorneweg: Ich mache Screencasts meiner Vorlesung, das heißt, ich nehme die Folien, die ich sonst an die Wand werfe, auf dem Rechner auf, spreche dazu, mache aber kein Video von mir und meinem Gesicht, so hübsch bin ich nicht anzusehen, außerdem ginge das auch nicht so gut, weil ich den Rechner in den Tablet-Modus klappe und dann quasi über dem Bildschirm schweben müsste, damit man nicht bloß meine (dünnen) Haare sieht.
Voraussetzungen
Was braucht ihr, wenn ihr das genauso machen wollt?
– Euren Vorlesungsrechner. Bei mir mein (uralter) Instituts-Laptop mit Tablet-Funktion, bei dem ich in die Folien reinschreiben kann. (Meine Handschrift ist zwar nicht so schön, aber gerade bei Herleitungen etc. mögen Studis es ganz gern, wenn die Sachen langsam mit der Hand geschrieben werden. Wenn ich echte Vorlesungen halte, kann ich so auch Rückmeldungen der Studis aufschreiben, wenn ich Frage ins Publikum stelle.)
– Die Software zur Vorlesung. Bei mir ist das PDF Annotator, das einzige kommerzielle Produkt in meiner Vorlesungsproduktion. (Folien mache ich mit LaTeX Beamer und dem zugehörigen TU-Layout [das ich vor langer Zeit mal für mich gebaut habe, als die TU ihr neues Design bekam und das dann die Grundlage für die TU-BS-LaTeX-Klasse wurde]). Man soll hier auf den Scienceblogs ja keine Werbung machen, aber PDF Annotator ist schon ziemlich gut, wenn ihr stressfrei in euren pdfs rummalen wollt. (Nein, ich bekomme keine Tantiemen für das Programm, wir nutzen es am Institut mit drei ganz normalen Lizenzen.)
– Ein Headset. Empfehle ich sehr, der Ton vom Mikro auf dem Laptop ist nicht so gut und wenn ihr mit dem Stift auf dem Tablet schreibt, gibt es auch ein komisches kratziges Nebengeräusch.
– Ein Programm zu Screencasten. Unter Windows 10 geht das wohl mit der Gamebar-App auch, aber ich nutze OBS Studio, ein frei verfügbares Programm, das es für alle gängigen Betriebssysteme gibt. (Läuft auch, entgegen der Info auf der Seite, stressfrei unter Windows 7 – mein Laptop ist noch nicht auf Win 10 upgegradet, aber da er hier zuhause auch nicht am Netz ist, ist das egal.)
– Ein Programm zu Videobearbeiten. Ich nutze kdenlive unter Linux (Aufnehmen tue ich auf dem Win-7-Laptop, aber bearbeiten und alles weitere dann auf meinem stationären Rechner zuhause.)
– Die Software, mit der ihr das ganze den Studis zur Verfügung stellt, bei mir StudIP mit der Courseware-Erweiterung.
Und hier ein paar Tipps und Kniffe, die ich in den letzten Wochen gelernt habe.
Screencasts aufnehmen
In OBS Studio müsst ihr die richtigen Audio- und Video-Quellen aufnehmen. Für Audio das Headset-Mikrofon (bei den Einstellungen unter Audio könnt ihr das auswählen). Ich empfehle, vor jeder Aufnahme einmal kurz eine 10-Sekunden-Testaufnahme zu machen, um zu sehen, dass ihr auch das richtige Mikro aausgewählt habt; bei einer meiner ersten Aufnahmen hatte ich falsch mit der Maus geklickt und hatte plötzlich das olle Laptop-Mikro. Wichtig auch: Wenn ihr mehrere USB-Eingänge habt, dann immer denselben für das Headset nehmen – steckt ihr es woanders rein, müsst ihr die Quelle neu auswählen.
Bei den Audio-Einstellungen (das Zahnrad unter der Lautstärke-Anzeige unten in der Mitte) könnt ihr zusätzliche Filter auswählen. Ich habe ganz gute Erfahrungen mit dem Noise-Filter auf der Standard-Einstellung -30dB gemacht, das nimmt ein paar Geräusche heraus.
Bei den Video-Einstellungen wähle ich den ganzen Bildschirm als Quelle aus (man kann auch nur einzelne Fenster nehmen, habe ich aber nicht probiert, ich arbeite eh im Vollbild-Modus). Wichtig, dass ihr bei den Video-Einstellungen (Zahnrad rechts unten bei den globalen Einstellungen) die selbe Video-Größe einstellt wie bei der Quelle selbst – manchmal passen die anscheinend nicht zusammen, und dann fehlt etwas.
Wichtig auch: OBS Studio zeigt euch im Hauptfenster an, was ihr gerade aufnehmt. Wenn ihr da reinklickt und dann die Maus bewegt, dann verschiebt ihr das Aufnahme-Fenster. Das kann dann dazu führen, dass ihr plötzlich Dinge außerhalb eures Bildschirms aufzunehmen versucht, dafür fehlt dann irgendwo was. (Ihr seht das am roten Rahmen im Fenster.) Ist mir auch schon passiert – ein weiterer Grund, warum es sinnvoll ist, vor der eigentlichen Aufnahme 10 Sekunden Testlauf zu machen und den dann einmal anzugucken.
Der Screencasts selbst
So, Aufnahmeknopf gedrückt, los geht’s.
Lasst euch ruhig Zeit beim Umschalten auf euren Präsentationsbildschirm und Starten des Vollbild-Modus, das ganze Gedöns schneiden wir nachher eh weg, damit die Studis ein total schickes Endprodukt bekommen.
Denkt ans Atmen – gerade wenn ihr im Sitzen redet, ist eure Atmung stärker behindert als im Stehen. Dank meiner Logopädin, die mich vor 14 Jahren von chronischer Halsentzündung kuriert hat (Logopädinnen sind in ihren Fähigkeiten quasi magisch), habe ich zur Not immer ein paar Sprechübungen auf Lager, wenn der Hals mal kratzt, aber es schadet auf keinen Fall, vor der eigentlichen Aufnahme ein bisschen was laut zu sagen und zu gucken, ob es irgendwo klemmt. Trotz aller Übungen kratzt es bei mir im Moment doch manchmal, weil Reden im Sitzen einfach anders ist. (ich werde nächste Woche mal versuchen, ob ich mir mit Hausmitteln eine Art Stehpult basteln oder den Rechner auf ein Regal stellen kann, dann kann ich im Stehen reden.)
Wenn ihr dann loslegt, dann am besten einmal relativ laut “START” oder so sagen, den Punkt findet ihr dann beim Schneiden leicht wieder.
Jetzt redet ihr los, wie in der Vorlesung auch. Achtet darauf, öfter mal kurze Pausen zu machen, nicht nur wegen der Atmung, sondern auch, weil das das spätere Schneiden erleichtert.
Wenn ihr euch mal verhaspelt – kein Problem. Setzt einfach da wieder an, wo es noch gestimmt hat, den Fehler schneiden wir nachher einfach raus, das merkt keiner. (Ein großer Vorteil, wenn ihr nur die Folien aufnehmt und nicht euch selbst, weil dann das Schneiden wirklich nicht zu bemerken ist.)
Falls ihr – wie ich – in eure Folien reinschreibt und etwas ergänzt oder zusätzlich zeichnet, werdet ihr natürlich etwas langsamer. In einer Real-Vorlesung redet man dann eben langsam, während man schreibt – aber beim Video könnt ihr es schicker machen. Nehmt an, ihr wollt “Strukturtasterkompensatorpeilerabsorber” schreiben (ein wichtiges Gerät, das Perry Rhodan früher verwendet hat), dann sagt ihr in ganz normalem Tempo das Wort während ihr anfangt zu schreiben. Klar, mit dem Reden seid ihr durch, wenn ihr gerade erst “Struktur” geschrieben habt, macht aber nichts. Schreibt einfach schweigend weiter, das bearbeiten wir nachher.
In der Real-Vorlesung ist es oft nett, wenn man zwischen den Folien überleitet und schon am Ende einer Folie etwas sagt, was dann zur nächsten gehört, dann wirkt alles wie aus einem Guss. Könnt ihr auch jetzt so machen, ich empfehle aber, zumindest bei einigen Folien und insbesondere dann, wenn mit der nächsten Folie etwas neues beginnt, lieber eine Pause zu machen, bevor ihr umschaltet – das ist dann nämlich ein guter Punkt, um das Video in Abschnitte zu schneiden.
In realen Vorlesungen stelle ich ab und zu auch Aufgaben (die klassische Trennung Vorlesung – Übung habe ich in den meisten Vorlesungen abgeschafft, ich stelle die Übungsaufgaben da, wo es passt, dann lasse ich die Leute ein wenig selbst arbeiten, dann geht die Vorlesung weiter. Macht das Ganze lockerer und die Aufgaben sind in der Vorlesung auch genau da, wo sie hingehören.) Das könnt ihr jetzt auch machen – wenn ihr die StudIP-Courseware oder ein ähnliches System habt, in dem ihr nachträglich noch am Video drehen könnt, könnt ihr dann später hier Haltepunkte einfügen, sonst sagt den Leuten einfach, dass sie jetzt das Video anhalten und selbst denken sollen.
Denkt auch dran, beim Reden ein bisschen dynamisch zu bleiben – in den Vorlesungen ist es ja immer wie bei Indiana Jones
und das Publikum animiert einen, lebendig zu reden, das fällt am heimischen Rechner natürlich weg.
Wenn ihr mit dem jeweiligen Abschnitt am Ende seid (ich mache maximal Blöcke von 45 Minuten, dann gibt’s erstmal nen Schluck Tee usw, ist auch sicherer, falls bei der Aufnahme doch was schiefgeht), sagt ihr laut “ENDE”, dann beendet ihr in aller Ruhe euer Programm, stoppt die Aufnahme bei OBS Studio und habt nach wenigen Sekunden ein Roh-Video. (Wenn ihr während der Vorlesung was Trinken wollt, mal husten müsst oder sonst was – kein Problem, macht eine bewusste Pause dafür, dann schneidet ihr das hinterher raus.)
Zuschneiden mit kdenlive
Den fertigen Clip übertrage ich auf meinen eigenen Linux-Rechner (ich arbeite nie länger unter Windows als ich muss), dann starte ich kdenlive. Wenn ihr mehrere Videos bearbeiten wollt, lohnt es sich, in den Einstellungen die Arbeitsverzeichnisse zu ändern, bei mir sind das direkt die gemounteten Verzeichnisse auf meinen Rechner an der Uni (sshfs sei Dank), dann habe ich später direkt alles dort und außerdem kann ich mich dann auf unser Backup-System am Institut verlassen. Ansonsten funktionieren die Default-Einstellungen bei kdenlive eigentlich ganz gut. (Zum Starten mit kdenlive empfehle ich euch eins der vielen tutorials im Internet anzuschauen, ich erkläre hier nur das, was für meine Arbeit wichtig ist.)
Öffnet ein neues Projekt, dann öffnet ihr den Clip (links oben im Fenster auf das kleine Video-Clip-Symbol klicken oder oben über das Menü gehen) und zieht, wenn der Clip geöffnet ist, den Clip unten in die erste Video-Leiste.
Klickt ihr in dieser Leiste oberhalb des farbigen Bereichs, dann springt der Zeitpunkt zum Klick-Bereich, damit könnt ihr im Video hin- und herklicken. Rechts oben seht ihr das Video selbst.
Lasst es einfach laufen, wartet den Moment ab, wo ihr START gesagt habt, und klickt auf Pause. (Manchmal hat kdenlive einen seltsamen Hänger und das Video lässt sich nicht pausieren. Dafür habe ich bisher keine Lösung gefunden, ich beende dann und starte neu.) Um den Schnittzeitpunkt genau zu sehen, könnt ihr ganz unten im Fenster mit dem kleinen Schieberegler einstellen, wie die Zeitskala in eurer Videoleiste skaliert. Schiebt ihr den regler nach rechts, wird die Leiste sehr stark gedehnt, anhand der Audio-Kurve könnt ihr dann sehen, wo ihr redet.
Jetzt brauchen wir das Schneidwerkzeug. Klickt entweder auf die Schere unten oder tippt “x”. Wenn ihr jetzt in die Leiste klickt, wird euer Video geteilt. Teilt also hinter dem “START”, wählt das Auswahl-Werkzeug (neben der Schere, oder tippt “s”), rechtsklickt auf den Anfang eures Videos, den ihr schneiden wollt, und löscht ihn. (Alternativ könnt ihr auf draufklicken und mit der Entf-Taste den Abschnitt löschen). Dann schiebt ihr den Rest des Videos ganz nach links, damit das Video auch bei Null losgeht.
So lasst ihr jetzt das Video laufen. Da, wo ihr euch verhaspelt habt, schneidet ihr (Schnittpunkt vor der kritischen Stelle, zweiten Schnittpunkt danach, Fehlerbereich auswählen, löschen, rechten Teil des Videos an den linken heranschieben, dann noch einmal überprüfen, dass der Übergang passt). Wenn ihr immer schön Pausen gemacht habt, dann sollte das einfach sein, aber wenn es mal sein muss, kann man mit etwas Übung auch mitten im Satz ein Wort rausschneiden. (Falls ihr zuviel geschnitten habt, hilft die Rückgängig-Funktion wie bei allen Computerprogrammen.) Speichert das Projekt zwischendurch ab und zu ab (dabei werden nur eure Bearbeitungsschritte gespeichert, nicht das ganze Video, das kommt später.)
Falls ihr in euer Video reingeschreiben habt und da jetzt diese laaaaaaaange Schreibpause ist, das klären wir jetzt. Setzt einen Schnittpunkt hinter den Moment, wo ihr gerade mit “absorber” fertig wart und die stille Schreiberei beginnt, setzt einen zweiten Schnittpunkt kurz vor den Moment, wo ihr wieder losredet. Dann wählt ihr den Schreib-Abschnitt aus, fügt (mit rechter Maustaste oder oben unter Effekte) als Effekt Motion-Speed hinzu und setzt den Speedwert auf zum Beispiel 500 Prozent. Dieser Teil des Clips wird jetzt mir fünffacher Geschwindigkeit abgespielt. Dabei entsteht natürlich eine Lücke – schiebt wieder den rechten teil des Videos ran, damit alles lückenlos ist. Im Ergebnis sehr ihr wie die Schrift jetzt blitzartig geschrieben wird. (Theoretisch könnt ihr natürlich auch einfach den Block komplett rausschneiden, dann erscheint die Schrift einfach, das ist aber nicht so hübsch.)
Falls ihr ganz böse Fehler entdeckt (ich habe neulich z.B. F statt sigma geschrieben), merkt euch den Zeitstempel. Wenn ihr die StudIP-Courseware nutzt, dann könnt ihr da noch was tun.
Wenn alles fertig ist, dann klickt ihr oben auf Rendern, gebt einen Namen für das neue Video an (Achtung: Der muss sich von dem alten unterscheiden, sonst stürzt das Programm ab), und startet das Ganze, Je nach Länge des Videos dauert das jetzt einige Minuten.
Falls ihr euer Video lieber in Stücke teilen wollt, könnt ihr das mit dem Auswahlbereich machen – den findet ihr ganz vorn in der Video-Leiste, da sind zwei winzige rechtecke, wenn ihr an denen zieht, bekommt ihr einen blauen Auswahlbereich.Ihr müsst dann beim Rendern entsprechend “Render Selection” auswählen.
Ich schneide meine Videos typischerweise in Häppchen von 15-20 Minuten, die lassen sich im System besser hochladen und es ist für die Studis vermutlich später auch einfacher, die Struktur der Vorlesung zu verstehen.
Hochladen in der Courseware
Ich lade die Videos einfach als Datei im Dateibereich der Vorlesung hoch.
Dann geht es in den Courseware-Abschnitt (den man im StudIP bei uns erst aktivieren muss, das ist aber nur ein Klick im System). Die StudIP-Courseware hat eine relativ starre Organisation – es gibt Kapitel, Unterkapitel und Abschnitte. Ist mir manchmal etwas zu kleinteilig, dann hat das Unterkapitel halt nur einen Abschnitt.
Ansonsten bin ich mit der Software aber recht zufrieden – man kann sehr viele unterschiedliche Objekte auf einer Seite zusammenfassen – Freitextabschnitte, Videos, Internetlinks, sogar pdf-Dokumente, alles in einem Rahmen, das ist schon ziemlich nett.
Meine Videos führe ich meist mit einem kurzen Freitextfeld ein, in dem ich sage, was jetzt kommt, dann folgt das Video. Ich nutze das “Interactive-Video”-Tool im StudIP, da kann ich direkt Dateien als Video einbinden. (Es gibt auch das Tool “Vorlesungsaufzeichnung, das finde ich aber irgendwie unübersichtlicher).
Falls ich mich im Screencast irgendwo verhaspelt oder Mist erzählt habe, kann ich jetzt ein Feature nutzen, das Einblendung heißt – damit kann ich einen Text im Video anzeigen lassen, in dem dann steht “Hier habe ich mich vertan, richtig müsste es … heißen”. Das finde ich ziemlich praktisch, denn sonst müsste ich ja den jeweiligen Abschnitt des Videos neu aufnehmen und dann die Teile zusammenschneiden. (Ginge sicher auch, wäre aber mehr Aufwand).
Und falls ich irgendwo Fragen oder Aufgaben stelle, nutze ich das Haltepunkt-Feature, dann hält das Video zum gewünschten Zeitpunkt an und man muss explizit auf “weiter” klicken. So sieht das dann in der Studi-Ansicht aus (Man kann das Video auch auf Vollbild schalten):
Feedback und anderes.
So weit die Aufzeichnung. Noch nicht so ganz klar ist mir, wie es mit dem Feedback der Studis laufen soll. Meine Vorlesungen sind ja meist mittelgroß (20-40 Leute), ein Video-Chat endet vermutlich damit, dass niemand eine Frage hat. Ich werde es erstmal mit dem Chat-System versuchen, bei dem man Texte austauschen kann und einfach während der regulären Vorlesungszeit dort präsent sein und mal gucken, ob es da Fragen oder so gibt.
Noch etwas kniffliger werden die Rechnerübungen (besonders bei meiner sogenannten “Praxisvorlesung”, bei der die Studis eigentlich den ganzen Tag im rechnerraum sitzen und ich rumgehe und gucke, ob sie mit den Arbeitsblättern klarkomme). Da wird es wohl drauf hinauslaufen, die Studis zuhause an den Rechner zu setzen, ihnen Videos zu machen, wie man alles klickt, und dann irgendwie online zur Verfügung zu stehen, wenn etwas gar nicht klappt.
Falls jemand von euch da Ideen oder Erfahrungen hat, wie man so etwas am besten löst, hinterlasst gern einen Kommentar.
Fazit
Tja, so weit meine aktuellen Erfahrungen. Ob das dann alles so klappt, wird sich erst im Semester zeigen, ich bin mal sehr gespannt. Das Vorbereiten macht schon Spaß, aber es ist auch wirklich ziemlich zeitaufwändig, ich habe diese Woche nahezu gar nicht an meiner Forschung gearbeitet, und bin momentan wie schon gesagt bei einem Zeitverhältnis von 4h Vorbereitung für 1h Vorlesung (und das bei Themen, die eigentlich fertig ausgearbeitet sind).
Falls ihr noch Erfahrungen, Tipps und Kniffe habt, hinterlasst gern einen Kommentar.
]]>Es war dunkel und kalt. Miranda wusste nicht, wo sie war, und sie hatte Angst. Dann plötzlich hörte sie Wyverias Stimme in ihrem Kopf, laut und schrill: „Hilfe, Hilfe!“ Aber wo war Wyveria? Miranda tastete umher, denn es war zu dunkel, um etwas zu sehen. Sie wurde immer verzweifelter und dann, mit einem Schlag, wachte sie auf.
‘Nur ein böser Traum!’, dachte sie für einen Moment. doch da hörte sie wieder Wyverias telepathische Rufe: „Hilfe! Es ist so kalt!“ Wyveria lag neben Miranda im Bett, hatte die Augen geschlossen und zitterte am ganzen Körper.
Miranda rüttelte sie vorsichtig an ihrer Schulter. „Wyveria, wach auf, es ist alles in Ordnung!“ Wyveria öffnete die Augen und ihr Kopf ruckte in die Höhe. „Miranda?“
„Ja, ich bin hier. Es ist alles in Ordnung“, sagte Miranda wieder beruhigend.
„Ich habe geträumt“, sagte Wyveria. „Ich war in einem Käfig aus Eis, in einer großen Höhle, und vor mir war ein schwarzer Drache. Er sah mich an, mit bösen Augen, und dann öffnete er seinen Rachen und spuckte kaltes Feuer auf mich, um mich einzufrieren.“
„Aber jetzt ist alles wieder gut“, sagte Miranda. „Grimbold hat uns von so einem Drachen erzählt, als wir im Drachenland waren, weißt Du noch? Vielleicht hast du dich im Traum an diese Geschichte erinnert.“
„Vielleicht.“ Wyveria machte eine Pause. „Mir ist immer noch kalt“, sagte sie dann kläglich. Jetzt erst merkte auch Miranda, wie eisig es im Zimmer war.
„Es ist wirklich kalt hier“, sagte sie und schob den Vorhang am Fenster zur Seite. Draußen waren alle Bäume und das Gras mit Reif überzogen. „So viel Eis da draußen. Dabei haben wir erst November. Der Winter kommt aber früh dieses Jahr.“
„Kalt!“, beschwerte Wyveria sich wieder.
„Warte, ich mach dir eine Wärmflasche.“ Miranda kletterte aus dem Bett, zog sich schnell einen warmen Pullover über, denn es war wirklich kalt in ihrer Hexenstube, und ging zum Herd, um Wasser heißzumachen. Als der Kessel endlich pfiff, füllte sie die Wärmflasche voll. Sie war so heiß, dass Miranda sie kaum anfassen konnte, aber sie wusste ja, dass Wyveria die Hitze liebte. Miranda kletterte wieder in ihr Bett. Wyveria hatte sich unter die Bettdecke verkrochen und ihren Schwanz um sich herumgewickelt.
„Danke“, sagte Wyveria, als Miranda ihr die Wärmflasche unter den Bauch schob. Dann kuschelten sich die beiden aneinander und schliefen wieder ein.
Als sie am Abend aufwachten, dachten sie kaum noch an Wyverias Traum. Kalt aber war es draußen immer noch. Miranda kramte ihre warmen Wintersachen heraus. „Für dich habe ich keine warmen Sachen“, überlegte sie. Sie holte eine Wolldecke aus dem Schrank und legte sie in den Korb an ihrem Besen, damit Wyveria nicht fror. Als sie in der Schule ankamen, war die Kälte aber schnell wieder vergessen, denn Miranda fiel etwas anderes ein: „Heute ist Klassenarbeit“, sagte sie.
„Was ist das denn?“, fragte Wyveria neugierig.
„Die Lehrerin prüft uns, ob wir alles richtig können und gut gelernt haben.“
„So ähnlich wie eine Drachenprüfung?“
„Ja, ein bisschen.“
Da es draußen viel zu kalt für Wyveria war, blieb sie auf ihrem Platz, als die Lehrerin die Klassenarbeit austeilte. Miranda nahm einen Stift, schaute sich die Fragen an und begann zu schreiben.
Wyveria schaute über Mirandas Schulter und las auch.
„ ‘Welche fünf Zutaten braucht man für einen Schlaftrank?’ “, las sie.
„Miranda, ich verstehe nicht, wozu die Klassenarbeit gut ist“, fragte sie telepathisch, so, dass nur Miranda sie hören konnte.
„Die Lehrerin will wissen, ob wir alles gelernt haben.“
„Aha.“ Wyveria machte eine Pause und dachte nach. „Aber wieso? Sie hat es euch doch erklärt.“
„Ja, aber sie will wissen, ob wir es auch behalten haben.“
„Aha.“ Wieder machte Wyveria eine Pause. „Was heißt denn behalten?“
„Na, ob wir es immer noch wissen“, antwortete Miranda etwas ungeduldig, denn sie wollte mit der Arbeit weitermachen
„Aha.“ Wieder gab es eine kleine Pause. „Aber sie hat es euch doch erklärt.“
„Ja.“ Mirandas Stimme war noch ungeduldiger, als sie antwortete. „ Aber wir könnten es ja wieder vergessen haben.“
„Aha.“ Miranda hoffte, dass Wyveria nun Ruhe geben würde, aber nach einem Moment begann sie von neuem. „Miranda, was heißt denn vergessen?“
„Was vergessen heißt? Das ist aber eine blöde Frage. Wenn man etwas nicht mehr weiß, was man mal gewusst hat. Und nun lass mich bitte schreiben.“
„Aha.“ antwortete Wyveria wieder. Dann sagte sie nichts mehr, und Miranda begann, die Zutaten für den Schlaftrank aufzuschreiben. Sie überlegte. Pfefferminzblätter gehörten dazu. Da wurde sie wieder unterbrochen. „Miranda, Drachen vergessen nie etwas.“
„Was soll das heißen, du vergisst nie etwas?“
„Ich kann mich an alles erinnern, was ich erlebt habe.“
„Das gibt es nicht“, sagte Miranda. „Dann sag mir doch die Zutaten für den Schlaftrank.“
„Eichenblätter, Königskrautblätter, im Mondlicht geschöpftes Quellwasser, Bergkristallpulver, Pfefferminzblätter. Soll ich dir auch sagen, wie man ihn zubereitet?“
„Hast du dir das wirklich gemerkt?“ Miranda staunte. „Und was habe ich als erstes zu dir gesagt, als du aus dem Ei geschlüpft bist?“
„Du hast gesagt ‘Hallo Drachenbaby. Ich bin Miranda.’ “
Miranda konnte sich noch gut an den Moment erinnern, als sie Wyveria aufgefangen hatte, damit sie nicht in die Lava fiel, auf der sie das Ei ausgebrütet hatten. „Stimmt, das habe ich gesagt. Kannst du dich wirklich immer an alles erinnern?“
„Natürlich“, antwortete Wyveria.
„Dann hast du deshalb so schnell Lesen gelernt. Du könntest mir ja die ganze Klassenarbeit vorsagen.“
„Soll ich?“, fragte Wyveria.
„Nein, das wäre geschummelt“, sagte Miranda. „Ich versuche es lieber allein.“ Miranda wandte ihren Blick wieder zu ihrer Arbeit, aber da sah sie, dass die Hexenlehrerin vor ihr stand.
„Miranda, was macht ihr zwei da?“ Der Hexenlehrerin war es nicht entgangen, dass Miranda und Wyveria miteinander geredet hatten. Obwohl sie es natürlich nicht hatte hören können, hatte sie gesehen, wie die beiden sich ansahen.
„Äh, ich habe Wyveria erklärt, was eine Klassenarbeit ist, aber sie hat es nicht verstanden, weil Drachen nie etwas vergessen.“
„Ist das so?“, fragte die Lehrerin. „Das nennt man ein photographisches Gedächtnis. Ich wusste nicht, dass Drachen so etwas besitzen. Aber du darfst Miranda nicht die Arbeit vorsagen, denn sie muss die Dinge auch selbst lernen.“
„Ist gut“, sagte Wyveria, diesmal so, dass auch die Lehrerin es hörte.
Miranda wandte sich wieder ihrer Klassenarbeit zu. Als sie überlegte, wie der Zauberspruch lautete, mit dem man die Farbe eines Gegenstandes verändern konnte, fiel ihr etwas ein. „Wyveria“, dachte sie, „wenn ich dir die Zaubersprüche aus meinen Zauberbüchern vorlese, vergisst du die dann auch nie?“
„Natürlich nicht.“
„Das ist toll. Solange du bei mir bist, brauche ich keine Zauberbücher mehr.“
Einige Tage waren vergangen, als Miranda eines abends in ihrer Küche stand, um sich einen Hexentee zu kochen. „Nanu?“, wunderte sie sich. „Wo sind denn die silbernen Löffel geblieben?“ Sie suchte in der Schublade herum, in der die Silberlöffel liegen sollten, mit denen sie den Hexentee umrühren musste, damit er richtig gut schmeckte, aber sie waren verschwunden. „Seltsam. Habe ich sie irgendwohin weggeräumt?“ Miranda konnte sich nicht erinnern, die Löffel weggelegt zu haben, aber sie blieben verschwunden. Miranda suchte noch eine Weile, dann gab sie es auf. Der Hexentee war inzwischen kalt geworden. „Komm, Wyveria, wir müssen zur Schule“, sagte sie und die beiden machten sich auf den Weg.
In der ersten Stunde sollten die Kinder wieder Zaubertränke brauen. Als die Lehrerin das sagte, stand Wyveria von ihrem Stuhl auf und ging zur Tür.
„Nanu, wo willst Du denn hin?“, fragte Miranda.
„Zaubertränke brauen ist doof, weil ich keine Hände habe“, antwortete Wyveria und stolzierte zur Tür hinaus. Miranda schüttelte etwas verwirrt den Kopf und begann dann, die Zutaten für ihren Trank zusammenzusuchen.
Als Miranda in der großen Pause nach draußen ging, saß Wyveria vor der Hexenschule. „Na, was hast Du gemacht?“, fragte Miranda.
„Nichts“, antwortete Wyveria kurz angebunden.
„Ist alles in Ordnung mit Dir?“, wollte Miranda wissen.
„Ja. Lass uns etwas essen.“ Also holte Miranda ihr Pausenbrot und Wyverias Pausenfleisch heraus und die beiden setzten sich auf eine Bank, um zu essen. Dann tobten sie noch eine Weile auf dem Schulhof herum, bis die Pause zu Ende war.
„Welches Fach ist jetzt dran?“, wollte Wyveria wissen.
„Schreiben“, sagte Miranda.
„Schreiben kann ich nicht lernen, ich hab keine Hände. Ich bleibe wieder draußen, bis ihr etwas richtiges lernt.“
„Ist gut“, sagte Miranda, immer noch etwas verwundert, und ging hinein.
Als der Unterricht wieder begann, schaute die Hexenlehrerin streng in die Runde. „Wer von Euch hat die goldene Zauberkugel genommen?“, fragte sie.
„Die große Zauberkugel aus dem Studierzimmer?“, fragte Draconia.
„Ja, genau die. Sie ist verschwunden. Und ein Zauberstab der Klasse Sechs fehlt auch. Hat jemand von Euch die Sachen genommen?“
Alle Kinder schüttelten den Kopf, auch Miranda. Dann aber kam ihr ein Verdacht: Erst fehlten die Silberlöffel bei ihr zu Hause, jetzt auch noch kostbare Gegenstände in der Hexenschule. Sollte etwa Wyveria dahinterstecken? Aber warum würde sie Dinge stehlen?
Miranda überlegte, was sie tun sollte. Musste sie der Hexenlehrerin von ihrem Verdacht erzählen? Aber würde das nicht heißen, Wyveria zu verpetzen? Auf der anderen Seite war es natürlich Unrecht von Wyveria, einfach Dinge zu stehlen.
„Vielleicht hat jemand die Sachen nur versteckt“, sagte Miranda dann. „Wir könnten sie ja suchen.“
„Versteckt, soso?“ Die Hexenlehrerin schaute Miranda streng an. „Weißt du etwas darüber?“
„Nein“, antwortete Miranda, und das war ja auch die Wahrheit. Wissen tat sie schließlich nichts, sie hatte nur einen Verdacht.
„Also gut, wenn ihr alle sagt, dass ihr die Sachen nicht genommen habt, dann suchen wir“, sagte die Hexenlehrerin.
Die Kinder sprangen auf und machten sich auf die Suche nach den Zaubergegenständen. Miranda ging nach draußen, denn dort hatte sie Wyveria ja zuletzt gesehen. „Wyveria, wo bist Du?“, dachte sie so deutlich sie konnte, aber es kam keine Antwort. Miranda ging um die Schule herum. Hinter der Schule stand ein Holzschuppen, in dem die Hexenlehrerin ihre Gartengeräte aufbewahrte. Der Schuppen lehnte sich fast ans Schulgebäude, mit nur einem schmalen Zwischenraum. Als Miranda hinter den Schuppen guckte, kam Wyveria heraus.
„Was machst Du denn hier?“, fragte Miranda.
„Nichts“, antwortete Wyveria wieder und ging davon. „Lass uns reingehen“, sagte sie dann, schaute sich aber immer wieder nach Miranda um.
„Hast Du die Sachen aus der Schule gestohlen?“, fragte Miranda streng. Aber Wyveria antwortete nicht. Miranda bückte sich und zwängte sich hinter den Schuppen.
„Geh da nicht hin“, rief Wyveria telepathisch, und sie klang sehr aufgeregt.
„Warum denn nicht?“
„Weil, ähh, – weil da ganz eklige Spinnen sind.“
„Ich hab doch keine Angst vor Spinnen“, lachte Miranda und krabbelte weiter. Natürlich war es finster, und so nahm sie ihren Zauberstab und zauberte sich ein Hexenlicht. Kaum erstrahlte der Lichtschein an der Spitze ihres Zauberstabs, da sah Miranda auch schon ein Glitzern vor sich. In einer Mulde am Boden lagen ihre Silberlöffel, die Goldkugel und auch der vermisste Zauberstab.
Doch bevor sie nach ihnen greifen konnte, war Wyveria da. Sie riss ihr Maul auf und zischte wütend.
„Das ist mein Schatz. Er gehört mir.“
„Dein Schatz? Die Silberlöffel gehören mir, und die anderen Sachen gehören der Schule. Du kannst sie doch nicht einfach stehlen, um einen Schatz zu haben.“
„Ich bin ein Drache. Ein Drache muss einen Schatz haben“, erklärte Wyveria.
„Warum das denn? Du wolltest doch bisher auch keine Schätze?“
„Ich weiß nicht, aber seit ein paar Tagen denke ich immer nur an Silber, Gold und andere Schätze. Deshalb habe ich die Sachen genommen.“
„Was willst du denn mit dem Schatz? Willst du etwas kaufen?“
„Nein. Ein Drache liegt auf seinem Schatz. Das tut gut – warum, weiß ich nicht.“
„Hmmm. Also von mir aus kannst Du die Silberlöffel behalten, wenn sie dir so wichtig sind, aber die anderen Sachen müssen wir zurückgeben. Die gehören der Schule.“
„Na gut.“ Wyveria guckte schuldbewusst zu Boden und war ganz kleinlaut, als Miranda mit ihr in die Schule und zur Hexenlehrerin ging.
„Ich habe die Sachen wiedergefunden“, sagte Miranda. „Wyveria hatte sie genommen.“
„Wyveria?“, fragte die Hexenlehrerin. „Ach, natürlich, das hätte ich mir denken können. Drachen lieben Schätze, nicht wahr, Wyveria?“ Wyveria nickte. „Aber du darfst keine Schätze nehmen, die dir nicht gehören, auch wenn du ein Drache bist. Ist das klar?“ Die Stimme der Lehrerin klang sehr streng, als sie das sagte, und Wyveria nickte nur.
„Gut. Warte hier.“ Die Hexenlehrerin rief die anderen Schülerinnen zusammen und alle versammelten sich wieder im Klassenraum und setzten sich auf ihre Plätze. „Wyveria hat die vermissten Sachen genommen. Sie ist eben ein Drache, und Drachen werden von Schätzen angezogen.“ Sie ging zu Wyveria hin und griff in ihre Tasche. „Die Goldkugel kann ich dir nicht geben, sie ist zu wertvoll und wir brauchen sie zum Zaubern. Aber hier habe ich etwas für dich.“ Mit diesen Worten legte sie zwei kleine Goldmünzen auf Wyverias Tisch.
„Danke“, sagte Wyveria erstaunt.
„Magst du wirklich so gern Schätze?“, fragte Draconia. „Vielleicht magst du ja auch das hier.“ Draconia ging zu Wyveria und nahm eine silberne Kette mit einem glitzernden Stein daran von ihrem Hals. Auch Esmeralda stand auf. „Es ist zwar kein richtiger Schatz, aber vielleicht magst du meinen Stift? Er ist aus Silber.“ Wyveria schnupperte an Draconias Kette und Esmeraldas Stift. „Schatz!“, sagte sie erfreut, und dann sagte sie „Danke.“
Als die anderen Kinder es hörten, standen noch einige von ihnen auf und legten kleine Schmuckstücke auf Wyverias Tisch. Und so hatte sie schließlich noch eine Brosche, eine silberne Münze und zwei Ringe vor sich liegen. „Schatz!“, sagte Wyveria noch einmal begeistert. „Ich danke euch allen.“ Vorsichtig nahm sie alle Schätze in ihr Maul und verschwand nach Draußen, um sie zu verstecken.
Als die kleine Hexe Miranda mit ihrem Drachenpflegekind Wyveria in die Hexenschule flog, fühlte sie sich immer noch ganz erschöpft. Das war nicht weiter überraschend, denn sie hatte gerade eine aufregende Reise hinter sich. Kaum war sie in der Schule angekommen, umringten die anderen Hexenkinder sie und auch ihre Freundin Draconia, die sie begleitet hatte. Die Kinder wollten alles über die Reise ins Drachenland erfahren und über die Drachenprüfung, die Wyveria zu bestehen gehabt hatte.
Die Hexenlehrerin kam ins Klassenzimmer, begrüßte die Kinder, aber die Unruhe war immer noch groß, denn Mirandas Erzählung war noch nicht zu Ende. „Am besten kommst Du mit Wyveria und Draconia nach vorn, und ihr erzählt uns, was ihr erlebt habt.“ Und so verging die erste Unterrichtsstunde mit einer ausführlichen Schilderung der Drachenprüfung.
Schließlich aber war die Erzählung vorbei und alle Fragen der Hexenkinder waren beantwortet.
„Gut“, sagte die Hexenlehrerin. „Nachdem wir nun alles über eure Abenteuer wissen, können wir mit der Zaubertrankkunde weitermachen. Heute sollt ihr lernen, wie man einen Schlaftrank braut.“
Miranda, Wyveria und Draconia setzten sich wieder auf ihre Plätze, und die Hexenlehrerin begann zu erklären. Als Miranda zu Wyveria hinübersah, bemerkte sie, dass diese nicht wie sonst döste oder mit einem Bleistift herumspielte, sondern aufmerksam zuhörte. Noch bevor sie etwas fragen konnte, hörte sie schon Wyverias Stimme in ihrem Kopf: „Natürlich höre ich zu. Schließlich müssen Drachen klug und weise sein, das hat Krallenschwinge doch erklärt. Also muss ich alles lernen.“ Damit drehte Wyveria ihren Kopf wieder nach vorn.
„Nachdem ihr die drei Tropfen Quellwasser in den Schlaftrank getropft habt, lasst ihr vorsichtig zwei Pfefferminzblätter hineinfallen, aber so langsam, dass sie nicht untergehen, sondern auf der Oberfläche schwimmen bleiben. Dann…“
„Was passiert denn, wenn die Pfefferminzblätter untergehen?“, fragte Wyveria telepathisch – laut sprechen konnte sie ja noch nicht.
„Oh Wyveria, schön dass Du so gut aufpasst. Also, wenn die Blätter untergehen, dann verliert der Trank seine Wirkung. Wenn ihr ihn jemandem gebt, dann wird er womöglich noch wacher, aber bestimmt nicht einschlafen. Also, danach setzt ihr den Trank aufs Feuer und lasst ihn eine Viertelstunde lang kochen. Wenn die Zeit um ist, dann nehmt ihr einen silbernen Löffel und rührt den Trank um, und zwar fünfmal im Uhrzeigersinn und siebenmal gegen den Uhrzeigersinn.“
„Woher weiß man das denn? Hat eine Hexe das alles ausprobiert? Erst einmal umrühren – klappt nicht, schade –, dann zweimal umrühren – klappt wieder nicht, Pech gehabt –, und immer so weiter?“, unterbrach Wyveria erneut.
Alle Hexenkinder lachten und auch die Hexenlehrerin schmunzelte. „Nein, das würde ja unendlich lange dauern, das alles auszuprobieren. Aber es gibt sehr kluge Hexen die sehr viel über Magie und Zauberei wissen, und die können sich solche Dinge überlegen. So etwas lernt ihr aber erst, wenn ihr viel älter seid. Übrigens, Wyveria, es ist schön, wenn du dich am Unterricht beteiligst, aber kannst du dich bitte melden wie alle anderen auch, wenn du etwas fragen willst?“
Wyveria saß mit ihrem Hinterteil auf einem Stuhl und hatte die Vordertatzen auf den Tisch gestellt. Sie versuchte, eine Vordertatze in die Luft zu recken, aber sie war nicht sehr gelenkig in den Vorderbeinen, und so kippte sie fast vom Stuhl bei dem Versuch, ihre Tatze hoch genug zu recken. „Nein, ich kann mich nicht melden“, erklärte sie dann.
„Vielleicht mit dem Flügel?“, schlug Miranda vor. Doch als Wyveria den Flügel ausklappte, um ihn in die Höhe zu recken, fuchtelte sie Miranda damit vor dem Gesicht herum. „So geht das nicht“, sagte Miranda. „Ich kann doch nicht jedesmal deinen Flügel im Gesicht haben, wenn du eine Frage stellst.“
„Ich weiß wie es geht“, verkündete Wyveria und reckte ihre Schwanzspitze in die Höhe. Ihr Schwanz war ja ziemlich lang und sehr beweglich, und wenn er senkrecht in die Höhe ragte, konnte die Hexenlehrerin ihn gut erkennen. „Sehr gut Wyveria“, sagte die Hexenlehrerin, „so meldest du dich in Zukunft.“
„So, und nachdem ich euch nun den Schlaftrank erklärt habe, könnt ihr versuchen, ihn zuzubereiten“, sagte die Hexenlehrerin. Die Kinder standen auf und begannen, Zutaten für den Zaubertrank aus den Schränken zu holen. Wyveria blieb auf ihrem Platz sitzen, denn sie konnte zwar lernen, aber einen Zaubertrank konnte sie mit ihren Drachentatzen nicht zubereiten.
„Und du kommst zu mir, Wyveria“, sagte die Hexenlehrerin. Wyveria lief nach vorn und die Hexenlehrerin zog einen Stuhl für sie heran. „Wenn du dich jetzt am Unterricht beteiligen und lernen willst, dann musst du auch lesen können. Das wird eine Weile dauern, aber wenn wir gleich anfangen, hast du es bald gelernt. Pass auf.“
Die Hexenlehrerin nahm ein Blatt Papier und einen Stift und begann, Wyveria die ersten Buchstaben zu erklären. „Das hier ist der Buchstabe ’H’. So sieht ein ’E’ aus, und so ein ’X’. Mit diesen drei Buchstaben fangen wir an, das ist bei Hexen immer so. „
„Gut“, sagte Wyveria nur und sah aufmerksam zu, als die Hexenlehrerin vier Buchstaben hintereinander schrieb. „So, das ist dein erstes Wort. Kannst du die Buchstaben darin erkennen?“
„Natürlich, du hast sie mir doch gerade erklärt. ’H’– ’E’– ’X’– ’E“’, buchstabierte Wyveria telepathisch.
„Das ging schnell“, staunte die Hexenlehrerin. „Jetzt musst Du die Buchstaben direkt hintereinander reihen, ohne Pause.“
Es dauerte eine Weile, denn Wyveria verstand zuerst nicht, wie die Hexenlehrerin es meinte. Aber schließlich hatte sie es begriffen. „’H’ und ’E’ gibt ’He’. Und ’X’ und ’E’ gibt ’Xe’. Also ’He’–’Xe. Das heißt ’Hexe’.“
„Sehr gut. Du lernst wirklich schnell. Soll ich dir noch einen Buchstaben zeigen?“
„Nein, am besten zeigst du mir alle Buchstaben, das geht schneller.“
„Alle auf einmal? So schnell kann man nicht lesen lernen. Ich zeige dir einmal, wie viele es sind.“ Die Hexenlehrerin holte eine Tafel mit einem Alphabet hervor und zeigte sie Wyveria.
„Kannst Du mir die Buchstaben einmal vorlesen?“, bat Wyveria. Die Hexenlehrerin tat es.
„Gut“, sagte Wyveria. Dann schaute sie auf den Schreibtisch der Hexenlehrerin, auf dem ein aufgeschlagenes Buch stand. „Dort steht ’S’ ’C’ ’H’ ’L’ ’A’ ’F’ ’T’ ’R’ ’A’ ’N’ ’K’. Warte, das heißt ’S–c–h–’“. „‘S–c–h’ liest man ‘Sch’“, half die Hexenlehrerin weiter. „Ach so. Also ‘Sch–laft–ran-k’.“ Wyveria überlegte einen Moment. „Schlaftrank!“, rief sie dann telepathisch, „das heißt ’Schlaftrank’!“
„Hast Du so schnell die Buchstaben gelernt? Niemand kann so schnell lesen lernen.“ Die Hexenlehrerin war vollkommen erstaunt.
„Natürlich kann ich das, war doch ganz einfach“, sagte Wyveria stolz.
„Du bist wirklich ein kluger Drache“, sagte die Hexenlehrerin. Sie gab Wyveria ein Buch und ließ sich von ihr daraus vorlesen. Wyveria las langsam, aber mit etwas Hilfe gelang es ihr. Und mit jedem Wort, das sie las, schien es schneller zu gehen.
„So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagte die Hexenlehrerin und schüttelte den Kopf. Dann ging sie zu den Hexenkindern, um zu sehen, wie weit sie mit ihren Zaubertränken waren. Wyveria kletterte auf ihren Stuhl neben Miranda. „Und, was hast du mit der Hexenlehrerin zusammen gemacht?“, wollte Miranda wissen.
„Ich habe lesen gelernt“, antwortete Wyveria stolz.
]]>Wyverias Drachenprüfung war vorbei, und die meisten Drachen schwangen sich in die Luft und flogen davon. Einer aber flog hinunter zu Miranda und ihren Freundinnen.
„Ich bin Varnia“, stellte die Drachin sich vor. Sie war groß, mit hellen, grünen Schuppen, die im Sonnenlicht glänzten. Varnia drehte ihren Kopf auf ihren Rücken und holte etwas zwischen ihren Flügeln hervor. Als sie den Kopf senkte, sah Miranda ein Drachenkind, kaum größer als Wyveria es direkt nach dem Schlüpfen gewesen war. „Das ist Perlauge, meine Tochter. Sie möchte Dich gern kennenlernen“, sagte Varnia, zu Wyveria gewandt. Varnia setzte Perlauge vorsichtig auf den Boden. Perlauge war ebenfalls grün, noch heller als Varnia, doch das auffallendste an ihr waren ihre Augen, die weißlich waren, aber wie Perlen in allen Farben schimmerten und funkelten.
Wyveria ging zu Perlauge und legte sich hin, so dass ihr Kopf auf gleicher Höhe mit Perlauges Kopf war. Dann schauten sich die beiden tief in die Augen und rührten sich nicht mehr. Anscheinend unterhielten sie sich auf Drachenart miteinander, so, dass nur sie es hören konnten.
Miranda hörte erneut das Schlagen von Drachenschwingen und spürte den Wind von Drachenflügeln. Als sie aufblickte, sah sie Krallenschwinge. „Ich danke dir, dass ich Wyveria behalten darf“, sagte Miranda.
„Du hast die Drachenprüfung bestanden, und Dein Verhalten hat gezeigt, dass sie bei Dir gut aufgehoben ist. Wir vertrauen Dir.“
„Ich glaube, nicht alle Drachen vertrauen mir“, erwiderte Miranda. Nahezu alle Drachen waren inzwischen davongeflogen, doch auf einer der Steinstufen saß immer noch Grimbold und schaute auf die Gruppe hinunter.
Krallenschwinge stieß einen leisen Seufzer aus. „Du musst Grimbold verstehen“, sagte sie, „er hat einen guten Grund, Menschen zu misstrauen, besonders, wenn sie Drachen aufziehen.“ Krallenschwinge wandte den Kopf zu Grimbold und anscheinend rief sie ihn zu sich, denn Grimbold faltete seine Schwingen auseinander und glitt auf den Boden herunter. Er landete direkt vor Miranda und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, als wolle er sie einschüchtern, während er auf sie hinunterschaute. Für einen Moment bekam Miranda Angst, doch dann sagte sie sich, dass sie hier bei Krallenschwinge sicher war.
Plötzlich aber senkte Grimbold den Kopf, legte sich auf die Vordertatzen nieder und ließ den Kopf in den Sand sinken, so dass seine und Mirandas Augen auf gleicher Höhe waren. Dann begann er zu erzählen:
„Vor langer Zeit, etwa 150 Jahren, geschah es, dass aus einem Nest am Rand des Drachenlandes, in dem ein Drachenei ausgebrütet wurde, das Drachenei verschwand. Die Drachenmutter war nur kurz weggeflogen, um Futter zu suchen. Niemand konnte sich erklären, wie es dazu kommen konnte, und die Drachen suchten lange im ganzen Drachenland nach dem verlorenen Ei, konnten es aber nicht finden. Einige Wochen später spürten wir, dass irgendwo auf der Welt ein Drachenkind geschlüpft war.“
„Sagtest Du wir?“, fragte Miranda. „Aber das ist doch schon sehr lange her.“
„Ja, aber Drachen werden sehr alt, viel älter als Menschen. Die meisten der Drachen, die Du heute hier gesehen hast, haben auch damals schon gelebt. Wir also spürten, dass ein Drachenkind geschlüpft war, so wie wir es auch bei Wyveria gespürt haben. Eine weitere Suche begann, die lange dauerte und schwierig war, denn immer wieder schien es uns, als würde das Drachenkind vor uns verborgen werden.
Schließlich aber fanden wir das Drachenkind in einer Höhle in den Bergen weit im Norden, doch es war nicht allein. Ein mächtiger Zauberer bewachte es und hinderte uns mit seiner Magie daran, es mitzunehmen. Wir warteten vor der Höhle, lange Zeit, viele Jahre lang, immer in der Hoffnung, wir würden den Drachen eines Tages befreien können.
Dann, eines nachts, geschah es: Aus der Höhle drang ein furchtbarer Lärm zu uns und wir sahen Lichter aufblitzen, so als fände in der Höhle ein gewaltiger Kampf statt. Schließlich ertönte ein entsetzliches Brüllen und der Drache flog aus der Höhle heraus. Inzwischen war er ausgewachsen, doch er war ein furchtbarer Anblick, denn er war vollkommen schwarz, nur seine Augen leuchteten rot, und sein Feuer war kalt wie Eis. Nicht nur seine Schuppen waren schwarz, sondern auch sein Herz, denn er stürzte sich auf uns, die wir dort Wache hielten, und kämpfte mit uns. Seiner Kraft und seinem kalten Feuer vermochten wir nicht stand zu halten, und so besiegte er uns und flog in die Nacht hinaus. Seitdem gibt es auf der Welt einen finsteren und bösen Drachen, und all das geschah nur, weil ein Drache nicht von Wesen seiner Art, sondern von Menschen großgezogen wurde.“
Miranda hatte wie gebannt zugehört, und als sie von dem schwarzen Drachen gehört hatte, hatte sie ein wenig Angst bekommen. Sie begriff nun, warum Grimbold so abweisend zu ihr gewesen war – nicht, weil er selbst böse war, sondern weil er Angst hatte, auch Wyveria könne zu einem bösen Drachen werden. „Ich werde alles tun, um Wyveria zu einem guten Drachen zu erziehen“, versprach sie, und dann wusste sie, was sie sagen musste: „Willst du nicht ab und zu zu uns kommen und nach Wyveria sehen, damit du weißt, dass es ihr gut geht?“
Netti schaute Miranda etwas ängstlich an; der Gedanke, dass Grimbold sie besuchen würde, schien ihr nicht zu gefallen. Doch dann begann der ernste Grimbold plötzlich zu lächeln und er richtete sich auf und schaute auf Miranda hinunter: „Das werde ich tun. Lebe wohl, kleine, mutige Hexe.“ Mit diesen Worten machte er einen Satz und flog davon.
Wyveria und Perlauge schauten sich immer noch in die Augen. Eine ganze Weile verging und Miranda und ihre Freudinnen setzten sich in den Sand. Erst jetzt merkten sie, wie erschöpft sie waren, und nach all der Aufregung war es nicht verwunderlich, dass sie eindösten.
Miranda erwachte, als Wyveria sie anstupste: „Perlauge und ich haben uns zu Ende unterhalten.“
„Worüber habt ihr denn geredet?“, wollte Miranda neugierig wissen, doch Wyveria antwortete nur: „Alles.“ Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen.
„Willst du vielleicht noch mit ihr spielen?“, fragte Miranda weiter.
„Nein, dafür ist sie zu klein“, sagte Wyveria.
Varnia hatte zusammen mit Krallenschwinge gewartet. Jetzt nahm sie Perlauge vorsichtig auf, setzte sie auf ihren Rücken und flog ebenfalls davon.
„Ich glaube, wir sollten auch nach Hause fliegen“, sagte Draconia. Damit waren alle einverstanden. Sie stiegen auf ihre Besen und flogen davon. Krallenschwinge flog noch ein wenig neben ihnen her, bis sie schließlich die Grenze des Drachenlandes erreichten und sich verabschieden mussten.
„Vielen Dank für deine Hilfe“, sagte Miranda noch einmal, „und auf Wiedersehen.“
„Wir werden uns bestimmt wiedersehen“, erwiderte Krallenschwinge und dann flog sie zurück in ihre Heimat.
Nachbemerkung: Das war das zweite Miranda-Buch. Morgen fällt die Geschichte leider aus, ab Übermorgen geht es dann weiter.
]]>Krallenschwinges raue Stimme füllte den ganzen Vulkankegel aus, in dem der Drachenrat zusammengekommen war, um über Wyverias Schicksal zu entscheiden: „Vor vielen Jahren geschah es, dass ein Drachenei in die Obhut einer Menschenhexe gegeben wurde. Diese Hexe aber war zu alt, um das Drachenkind selbst aufziehen zu können, und so verbarg sie es gut, damit es eines Tages gefunden würde. Diese Hexenkinder haben es gefunden und eines von ihnen hat das Drachenkind Wyveria aufgenommen.“ Alle Drachen drehten ihre Köpfe wieder zu Wyveria und den Hexenkindern, die noch etwas enger zusammenrückten.
„Das Drachengesetz aber sagt, dass Drachen nur von Wesen ihrer Art großgezogen werden dürfen. Deshalb flog Grimbold“ – während sie diesen Namen sagte, deutete sie mit dem Kopf in Richtung des großen braunen Drachen, dessen Namen Miranda nun endlich erfuhr – „zu den Menschen, um das Drachenkind Wyveria ins Drachenland zu holen. Doch das Menschenkind weigerte sich, Wyveria herauszugeben, weil sie ein Bronzedrache ist und es auch im Drachenland kein Wesen ihrer Art mehr gibt.
Wir aber können nur zulassen, dass ein Drache bei einem Menschen aufwächst, wenn er dort lernt, was ein Drache lernen muss. Deshalb werden wir heute prüfen, ob Wyveria weiß, was ein Drache in ihrem Alter wissen muss.“
Alle Augen richteten sich auf Miranda und Wyveria. Miranda fühlte sich so winzig und hilflos wie noch nie in ihrem Leben. Am liebsten wäre sie auf ihren Besen gesprungen und so schnell davon geflogen, wie sie nur konnte, aber sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und begann zu sprechen.
„Wir haben versucht, Wyveria alles beizubringen, was Drachen können. Einiges hat auch gut geklappt – Wyveria kann Laufen und auch Schwimmen. Aber ich fürchte, wir konnten ihr Vieles nicht beibringen. Sie kann nur ein kleines Stück fliegen.“ Miranda drehte sich zu Wyveria, die einen kurzen Anlauf nahm und ein Stück weit durch die Luft segelte. Miranda hörte, wie einige Drachen zischten und leise miteinander redeten – vermutlich waren sie entsetzt, dass Wyveria nicht mehr konnte als das.
„Ja, und sie kann auch nur sehr wenig Feuer spucken“, fuhr sie fort. Wyveria stieß eine kleine Flamme aus, und wieder begannen die Drachen auf ihren Plätzen unruhig zu werden. „Leider kann sie auch kaum zaubern“, sagte Miranda dann. Wyveria schloss die Augen und zauberte ihre Leuchtkugel, aber im Licht der Wüstensonne war sie kaum zu erkennen. Die großen Drachen wurden noch unruhiger. Sie waren bestimmt nicht zufrieden mit dem Wenigen, das Wyveria gelernt hatte, und Miranda wurde klar, dass sie Wyveria verlieren würde. „Und schließlich“, sagte sie, während ihr Tränen in die Augen traten, „schließlich haben wir auch versucht, ihr das Sprechen beizubringen. Aber es hat nicht geklappt – sie kann nur im Kopf mit uns sprechen, aber nicht richtig.“ Jetzt liefen die Tränen aus Mirandas Augen, und sie hörte, wie einer der Drachen in der untersten Reihe sagte „Warum freut sich das Menschenkind?“ Drachen weinen nämlich, wenn sie sehr fröhlich sind, wie Miranda wusste. Einer der anderen Drachen erklärte leise „Menschen weinen, wenn sie traurig sind.“
Miranda konnte vor lauter Tränen kaum weitersprechen, aber sie wusste, was sie sagen musste. Sie legte ihre Hand auf Wyverias Kopf und nahm ihre Kraft zusammen, um die Tränen zu unterdrücken. „Ich glaube, ich kann Wyveria wirklich nicht alles beibringen. Vielleicht ist es doch besser, wenn sie im Drachenland bleibt und hier großgezogen wird.“ Draconia und Netti starrten sie entsetzt an, während Wyveria ihren Kopf zu Miranda emporreckte. Grimbold, der große braune Drache, rief: „Richtig so, Wyveria muss hier bleiben.“ Miranda kniete sich hin und schlang Wyveria die Arme um den Hals. „Ich glaube, es ist besser für dich“, sagte sie leise, „damit du ein richtiger Drache werden kannst.“
Für einen Moment hockte Miranda schweigend und weinend da. Keiner der Drachen sagte etwas. Dann sprach wieder Krallenschwinge: „Du hast uns sehr überrascht, Miranda. Ein Drachenkind in Wyverias Alter muss nichts von dem können, was Du ihr beigebracht hast, außer Laufen. Und Sprechen natürlich, aber sprechen kann Wyveria ja, wenn auch nicht auf Menschenart. All diese Dinge lernen Drachenkinder erst später, und es ist erstaunlich, dass Du sie ihr überhaupt beibringen konntest. Drachen besitzen viele Fähigkeiten, aber die wichtigste Fähigkeit ist, klug und weise zu sein.“
Miranda schaute zu Krallenschwinge auf, denn sie verstand nicht, was das bedeuten sollte. „Das kann man doch nicht beibringen“, sagte sie.
„Das stimmt“, sagte Krallenschwinge. „Drachen benötigen viele Jahre, um ihre Weisheit zu erlangen. Dazu müssen sie einen wachen Verstand besitzen, und diesen Verstand üben schon die allerkleinsten Drachen, indem sie Rätsel lösen.“
Miranda war so verblüfft, dass sie vor Staunen auf ihr Hinterteil geplumpst wäre, wenn sie sich nicht noch an Wyveria geklammert hätte. Netti platzte heraus: „Aber das haben wir doch die ganze Zeit gemacht!“
Und so begann die Drachenprüfung. Krallenschwinge stellte Wyveria Rätsel, doch diese hatte in den letzten Wochen so viele Rätsel gelöst, dass sie jedes von ihnen kannte, und so antwortete sie jedes Mal sofort.
„Und nun das letzte Rätsel“, sagte Krallenschwinge schließlich. „Wenn man nicht sieht, so sieht man sie. Wenn man sieht, sieht man sie nicht.“ Diesmal antwortete Wyveria nicht sofort, denn dieses Rätsel kannte sie noch nicht. Wie immer, wenn sie nachdachte, legte sie ihren Kopf auf die Tatzen und schloss die Augen. Miranda hielt den Atem an. Sie versuchte, selbst auf die Lösung zu kommen, aber sie war viel zu aufgeregt, um richtig nachdenken zu können. Außerdem schien ihr das Rätsel vollkommen sinnlos zu sein. Entweder man konnte etwas sehen, oder man konnte es nicht sehen. Aber wie konnte man etwas sehen, das man nicht sehen konnte?
Es war vollkommen still im Drachenrat, alle Drachen schauten gespannt auf Wyveria, und warteten regungslos, ob sie die Lösung finden würde. Mirandas Herz schlug immer heftiger. Als Krallenschwinge gesagt hatte, Wyveria müsse Rätsel lösen, hatte sie neue Hoffnung geschöpft, dass sie Wyveria doch behalten konnte. Aber nun schien es, als wäre alles vergeblich gewesen. So lange hatte Wyveria noch nie über ein Rätsel nachgedacht. Sie sah, wie Grimbold den Kopf hob und die anderen Drachen ansah, so als wolle er sagen „Wie lange sollen wir noch warten?“
In diesem Moment öffnete Wyveria die Augen und hob den Kopf: „Ein gutes Rätsel“, sagte sie langsam. „Es ist die Dunkelheit.“
Krallenschwinge schaute auf sie herunter und sagte „Du hast die Prüfung bestanden.“ Miranda fiel Wyveria um den Hals, und auch ihre beiden Freundinnen kamen hinzu. Sie alle lachten überschwänglich, und aus Wyverias Augen liefen Tränen heraus. Als Miranda nach einer Weile zu den Drachen hinaufschaute, schien es ihr, als wären auch die Drachen froh – jedenfalls wirkten ihre Mienen nicht grimmig, sondern schienen Miranda freundlich zu sein. Nur einer der Drachen schaute immer noch ärgerlich: Grimbold.
Miranda aber kümmerte sich lieber um Wyveria und ihre Freundinnen. „Du hattest die ganze Zeit recht gehabt“, sagte sie zu Wyveria: „Du wusstest, was Du lernen musstest, auch wenn ich es nicht glauben wollte.“ Dann drehte sich zu Netti: „Wenn Du nicht gewesen wärst, dann hätten wir es nie geschafft.“
„Ich bin nur froh, dass Wyveria bei uns bleiben darf“, antwortete Netti.
]]>Wenige Tage später war es soweit: Miranda, Netti und Draconia machten sich mit Wyveria auf den Weg ins Drachenland. Da sie eine längere Strecke fliegen mussten, hatte Miranda einen Korb an ihrem Besen befestigt, in dem Wyveria bequem sitzen konnte. So musste sie sie nicht die ganze Zeit auf dem Arm halten. Während des Fluges dachte Miranda noch einmal über Wyverias Unterricht nach: Laufen und Schwimmen konnte sie, aber Zaubern, Fliegen und Feuerspucken gelangen ihr kaum, und das Sprechen schließlich klappte überhaupt nicht.
„Doch!“, protestierte Wyveria in Mirandas Kopf, „natürlich kann ich sprechen!“ Aber Miranda seufzte nur.
Sie mussten eine Weile fliegen, über hohe Berge, eine Küste entlang, dann über ein Meer, bis sie schließlich zur großen Wüste Sahara kamen, in der das Drachenland lag. Unter ihnen erstreckten sich weite Sanddünen und Felsen, doch kein einziger Drache war zu sehen.
„Weißt Du, wo der Drachenrat stattfindet?“, fragte Netti.
„Nein, keine Ahnung. Ich dachte, wir könnten einen der Drachen fragen, aber hier ist ja nirgends einer.“
Sie flogen ziellos über dem Drachenland hin und her in der Hoffnung, einen Hinweis auf den Drachenrat zu finden. Es war zwar noch mitten in der Nacht, doch bald würde es sicher hell werden. Der Drachenrat sollte bei Sonnenaufgang stattfinden.
„Wir dürfen auf keinen Fall zu spät kommen!“, sagte Miranda und flog noch schneller.
„Da vorn fliegt eine Drachin“, sagte Wyveria plötzlich telepathisch. Einen Moment später konnten sie es alle sehen: Ein großer Drache flog langsam über das Drachenland dahin. Er war grün und hatte faltige Flügel und seine Schuppen sahen ein wenig matt aus und glänzten nicht. Woher Wyveria wusste, dass es ein weiblicher Drache war, konnte Miranda allerdings nicht sagen.
Sie flogen hinter der Drachin her, um sie einzuholen. Das war nicht schwer, denn sie flog langsam über die Wüste dahin, ihre Flügel schlugen nur träge auf und ab. Als sie näher kamen, drehte sie ihren Kopf zu ihnen herum. „Ich grüße Euch“, sagte sie mit lauter, aber etwas kratziger Stimme. „Mein Name ist Krallenschwinge.“
Miranda stellte sich und die anderen vor. „Wir suchen den Drachenrat. Kannst Du uns den Weg sagen?“
„Fliegt mit mir. Ich muss auch zum Drachenrat fliegen.“
So flogen sie neben Krallenschwinge dahin, die immer noch sehr gemächlich über das Drachenland zog. Miranda schielte immer wieder zu Krallenschwinge hinüber. Ihre Stimme hatte durchaus freundlich geklungen, aber Miranda war sich nicht sicher, ob sie ihnen wirklich wohlgesonnen war.
Krallenschwinge drehte ihren Kopf zu Mirandas Besen. Auch sie hatte die großen, schillernden Augen der Drachen, die nun Wyveria betrachteten: „Du bist also Wyveria“, sagte sie. Miranda hörte Wyverias Antwort nicht – anscheinend hatte sie nur mit Krallenschwinge gesprochen, aber Krallenschwinge lachte leise: „Wir werden sehen“, sagte sie nur.
Eine Weile flogen sie schweigend dahin. Der Himmel war inzwischen nicht mehr nachtschwarz, sondern begann, grau zu werden. Miranda wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis die Sonne aufging. Vom Drachenrat war nichts zu sehen.
„Ist es noch weit bis zum Drachenrat?“, fragte sie schließlich, ein wenig besorgt.
„Ein Stück ist es noch“, antwortete Krallenschwinge. Sie schien die Ruhe selbst zu sein und sich keine Sorgen zu machen, dass sie zu spät kommen könnte.
Wieder verging eine Weile, und man konnte bereits die Stelle erkennen, an der die Sonne gleich aufgehen würde. Wenn Krallenschwinge doch nur schneller fliegen würde! Miranda wollte sie nicht verärgern, aber schließlich sagte sie doch: „Müssen wir nicht langsam dort sein? Der Drachenrat soll doch bei Sonnenaufgang anfangen.“
Wieder lachte Krallenschwinge ein wenig: „Mach Dir keine Sorgen. Man wird bestimmt nicht ohne uns anfangen.“
Miranda aber war nicht beruhigt. Wenig später war es soweit: Die grelle Sonnenscheibe kletterte über den Horizont und tauchte das ganze Land in ein rot-goldenes Licht. Miranda hatte keine Augen für die Schönheit der Wüstenlandschaft, über die sie hinwegflogen – ihr Herz krampfte sich zusammen bei dem Gedanken, wie wütend die Drachen sein würden, dass sie zu spät kamen. Krallenschwinge schien die Verspätung jedoch nicht zu kümmern. Sie flog genauso gemächlich dahin wie zuvor.
„Können wir uns nicht etwas mehr beeilen?“, flüsterte Netti leise Draconia zu. Krallenschwinge aber hatte es gehört und sagte „Ich bin alt und kann nicht mehr so schnell fliegen. Aber macht Euch keine Sorgen, der Drachenrat wartet.“
Die Sonne stand schon ein ganzes Stück über dem Horizont, als sie sahen, dass sie auf einen großen kegelförmigen Berg aus hellgrauem Stein zuflogen. Er stand mitten in der Wüste und ragte hoch auf. Krallenschwinge flog mit ihnen den Berghang hinauf. An der Spitze des Berges angekommen, sahen sie vor sich den Drachenrat: Der Berg war ein erloschener Vulkankegel, und sein Inneres lag vor ihnen wie eine riesige Schüssel.
An den Wänden des Kraters gab es Felsen, die wie Treppenstufen übereinander angeordnet waren, aber jeder von ihnen war groß wie ein Haus oder noch größer, und auf ihnen allen saßen Drachen. Die meisten von ihnen waren so groß wie Krallenschwinge, einige sogar noch größer, und als Miranda eine Weile herumschaute, sah sie auf einer Stufe ziemlich weit unten den braunen Drachen sitzen, der ihr Wyveria hatte wegnehmen wollen.
In der Mitte des Kraters, an seinem Boden, war ein großer freier Platz aus weißem Stein. „Landet dort unten!“, sagte Krallenschwinge, und Miranda und ihre Freundinnen steuerten den Boden des Kraters an. Während sie dorthin flogen, sah Miranda an einer Seite einen großen, Felsvorsprung aus schneeweißem Stein, der aussah, als wäre er ein Platz für einen ganz besonderen Drachen. Dorthin flog Krallenschwinge.
Miranda und ihre Freundinnen landeten auf dem Boden und sahen, wie alle Drachen auf sie hinunter schauten. Sie kamen sich winzig vor unter den Blicken so vieler riesiger Drachen, die alle über ihnen auf ihren großen Felsen saßen. Miranda setzte Wyveria auf den Boden und kletterte vom Besen. Die Vier rückten eng zusammen, weil sie alle ängstlich waren, was als nächstes passieren würde.
Da ertönte die Stimme von Krallenschwinge, die durch den ganzen Vulkankegel hallte: „Der Drachenrat ist eröffnet“, sagte sie. Krallenschwinge war auf dem weißen Felsvorsprung gelandet, und als sie gesprochen hatte, drehten sich alle Drachen zu ihr hin und neigten kurz die Köpfe. Nun wusste Miranda zumindest, warum Krallenschwinge sich so sicher gewesen war, dass sie nicht zu spät kommen würden: Krallenschwinge war die Anführerin der Drachen.
Dann aber dachte sie wieder an die Drachenprüfung, und ihr wurde ganz elend vor Angst: Würde sie heute Wyveria für immer verlieren?
Es waren nur noch wenige Tage bis zur Drachenprüfung. Wie jede Nacht übten Miranda, Netti und Draconia mit Wyveria. Heute sollte Wyveria es wieder einmal mit dem Fliegen versuchen. „Neulich vom Schrank aus hat es ja auch geklappt, wenigstens ein wenig“, sagte Miranda. Sie stellte sich mit Wyveria neben ihr Haus und rannte mit ihr den kleinen Hügel herunter. „Flügel ausbreiten!“, rief sie. Wyveria streckte ihre Flügel aus und rannte so schnell sie konnte. Dabei schlug sie fortwährend ihre Flügel auf und ab. Für einen Moment verlor sie den Boden unter den Krallen und flog ein kurzes Stück, aber der Flug war schnell vorbei und ihre Tatzen berührten wieder den Erdboden.
„Wie weit ist sie geflogen?“, fragte Miranda die anderen, doch dann sah sie, dass Draconia und Netti gar nicht zugesehen hatten. Sie standen neben dem Haus, tuschelten leise miteinander, während Draconia immer wieder in ihr Zauberbuch schaute. Miranda schüttelte, ein wenig ärgerlich, den Kopf und schaute dann zu Wyveria. „Ich glaube, etwa hier hast Du abgehoben, und dann bist du bis hier geflogen – sehr weit ist das nicht, fürchte ich“, sagte sie enttäuscht. Die beiden gingen den Hügel hinauf und versuchten es erneut. Netti und Draconia flüsterten immer noch.
Beim zweiten Versuch schlug Wyveria noch schneller mit ihren Flügeln. Miranda war diesmal stehen geblieben, um den Flug, falls man es so nennen konnte, zu beobachten. Wyverias Tatzen verließen den Boden, dann flog sie ein Stück in die Luft, doch statt im Flug vorwärts zu sausen wie ein Vogel, schienen ihre Flügel sie eher zu bremsen, und sie fiel wieder in Richtung Boden. Wyveria versuchte, noch schneller mit den Flügeln zu schlagen, um wieder an Höhe zu gewinnen, aber dabei drehte sich ihr ganzer Körper und sie landete mit dem Kopf voran auf dem Boden, überschlug sich einmal und lag schließlich erschöpft auf den Rücken.
„Kann nicht fliegen!“, nörgelte sie.
Miranda ging zu ihr, um sie zu trösten. Sie schlang ihre Arme um Wyverias Hals und drückte sie an sich, aber dabei seufzte sie – nur noch wenige Tage, dann würde sie Wyveria vielleicht für immer verlieren.
Da kam Netti zu ihr und sagte „Draconia und ich haben uns etwas überlegt, wie Wyveria die Drachenprüfung doch schaffen kann. Pass mal auf. Wyveria, zaubere doch mal eine Leuchtkugel.“
Wyveria nickte, dann schloss sie die Augen, um sich zu konzentrieren. Nach einem Moment erschien wieder eine kleine, schwach leuchtende Kugel vor ihrer Nase. Die Kugel wurde plötzlich heller und heller und strahlte dann so hell wie eine richtige Hexenleuchtkugel. Vor Staunen blieb Miranda der Mund offen stehen. Dann sah sie, dass auch Wyveria ihre Augen geöffnet hatte und verblüfft auf die Leuchtkugel starrte. Nach einem Moment verschwand die Leuchtkugel.
Bevor Miranda Netti fragen konnte, wie sie das angestellt hatten, sagte diese: „Und nun fliegen!“, Wyveria breitete ihre Flügel aus, nahm Anlauf, und erhob sich in die Luft. Sie flog nach oben, und zum ersten Mal fiel sie nicht gleich wieder zu Boden, sondern schwebte in der Luft herum, während ihre Flügel auf und ab schlugen und sie mit ihrem Kopf in alle Richtungen und vor allem nach unten schaute. „Träume ich?“, fragte sich Miranda, als Wyveria weiter in die Höhe stieg und im Zickzack über ihren Köpfen herumsauste.
Dann geschah etwas noch Seltsameres: Wyveria, die immer noch staunend umherschaute, faltete ihre Flügel ein. „Nicht!“, schrie Miranda, denn sie erwartete natürlich, dass Wyveria abstürzen würde. Doch nichts passierte; Wyveria flog weiter in der Luft herum. Sie drehte noch zwei Runden über Mirandas Kopf und landete dann langsam neben Miranda.
„Wie hast Du das denn gemacht?“, fragte Miranda völlig erstaunt.
„Ich habe gar nichts gemacht!“, antwortete Wyveria.
„Das war ich“, sagte Draconia, die jetzt von ihrem Platz oben am Haus herunterkam. „Ich habe die Leuchtkugel heller gezaubert und ich habe Wyveria schweben lassen.“
„Aber das ist doch geschummelt“, sagte Miranda.
„Na und?“, wandte Draconia ein. „Ist doch egal. Die Drachenprüfung ist schließlich auch nicht fair, warum sollen wir also nicht schummeln, um sie zu bestehen?“
„Ich weiß nicht. Sollen wir wirklich schummeln? Immerhin soll die Drachenprüfung ja zeigen, dass Wyveria bei uns alles lernen kann.“
„Aber wenn wir nicht schummeln, dann besteht Wyveria die Drachenprüfung nie.“
„Trotzdem, ich habe kein gutes Gefühl dabei.“
Da mischte sich Wyveria ein: „Wir können nicht schummeln. Die Drachen merken doch, dass ihr zaubert. Wir Drachen spüren das.“
„Hast du denn gemerkt, dass ich zaubere?“, fragte Draconia.
„Ja, natürlich. Ich wusste nur nicht, wieso du das tust.“
„Wieso konntest Du Wyveria überhaupt verzaubern?“, fragte Miranda. „Ich dachte, wir können Drachen nicht verzaubern.“
„Habe ich auch nicht“, antwortete Draconia. „Ich habe die Luft unter ihr verzaubert, so dass sie sie getragen hat. War übrigens ziemlich schwierig.“
„Ach so“, sagte Miranda. Sie dachte noch einmal über Draconias Plan nach. „Nein, so geht es nicht. Entweder, wir bestehen die Prüfung richtig oder gar nicht“, entschied Miranda und seufzte. „Komm, Wyveria, üben wir weiter fliegen.“
„Erst ein Rätsel!“, sagte Wyveria.
„Na gut.“ Miranda ließ sich erweichen und Netti stellte Wyveria das nächste Rätsel:
„Auf schwarzem Samt glitzert hell
Ein Meer aus funkelnden Edelsteinen
Doch ein schwarzer Unhold verschlingt sie schnell
Und beginnt danach zu weinen.“
Für einen Moment dachte Miranda mit über das Rätsel nach, dann aber schaute sie in die Nacht hinaus. Über ihr flog eine Eule dahin. Sie glitt ganz lautlos über den Himmel und hatte ihre Flügel ausgebreitet, ohne damit zu schlagen. „Ich hab’s!“, rief Miranda.
„Ich auch“, sagte Wyveria, „war ja kein schweres Rätsel. Die Sterne bei Nacht, und eine Regenwolke kommt und verdeckt sie. Und wir hatten schon mal ein Rätsel mit Regen.“
„Wieso Regen?“, fragte Miranda. „Ach so, das Rätsel. Das meinte ich gar nicht. Ich weiß aber vielleicht, wie du besser fliegen kannst. Ich glaube, je mehr Du mit den Flügeln auf und abschlägst, desto schwieriger wird es. Der große Drache hatte seine Flügel auch nur ganz langsam bewegt. Und als Du vom Schrank geflogen bist, da hast Du gar nicht mit den Flügeln geschlagen. Du musst es erst einmal mit Segeln versuchen. Machen die Vögel doch auch oft so.“
Sie versuchten es. Wieder gingen sie den Hügel hinauf, Wyveria rannte los und breitete ihre Flügel aus. Dann sprang hoch, hob ab und segelte durch die Luft, den Hügel hinab. Als der Boden unter ihr flacher wurde, setzte sie mit den Füßen auf, aber sie war so schnell, dass sie sich wieder überschlug und ein Stück über die Wiese kullerte. Sie stand auf, drehte ihren Kopf in alle Richtungen und klappte ihre Flügel aus und wieder ein, um zu sehen, ob alles mit ihnen in Ordnung war.
Miranda lief zu ihr und sagte „So weit bist du noch nie geflogen“, und als sie zurückschauten, sah auch Wyveria, dass sie wirklich ein ziemliches Stück weit dahingeglitten war.
„Es ist zwar kein Fliegen, aber auf jeden Fall besser als vorher“, sagte Miranda. Sie ließ es Wyveria gleich noch ein paar Mal versuchen. Schließlich konnte Wyveria etwa dreißig Schritte weit gleiten. Alle waren zufrieden, dass sie einen kleinen Fortschritt erzielt hatten, aber ob es wirklich reichen würde, um die Drachenprüfung zu bestehen?
Einige Nächte später waren Mirandas Sorgen nicht weniger geworden. Wyveria hatte zwar in der letzten Nacht eine etwas größere Leuchtkugel gezaubert als sonst, aber ihr Lichtzauber war immer noch viel schwächer als der der Hexenkinder. Und wer konnte schon wissen, was für einen schwierigen Zauber Wyveria bei der Drachenprüfung vorführen musste?
So war es nicht verwunderlich, dass Miranda unruhig schlief, sich von einer Seite auf die andere drehte und schlecht träumte. In ihren Träumen war Wyveria verschwunden und sie musste sie suchen. Als sie schließlich aufwachte, dachte sie ‘Zum Glück, nur ein Traum. Wyveria liegt hier bei mir in meinem Bett.’ Doch als sie sich umdrehte, war Wyveria tatsächlich verschwunden. „Wyveria?“, rief Miranda ängstlich, doch es gab keine Antwort. Miranda kletterte aus ihrem Bett, so schnell es ging. Auf der Leiter des Hochbetts sah sie etwas Seltsames: Einen komischer, bräunlich-weißer Fetzen, so groß wie ihre Hand, der ein bisschen aussah wie Papier. Als Miranda ihn hochnahm, um ihn zu untersuchen, merkte sie, dass er sich glatt anfühlte, fast wie ein Fingernagel. „Wyveria?“, fragte Miranda wieder, aber wieder blieb sie ohne Antwort.
Auf dem Boden vor ihrem Sessel lag noch ein weiterer solcher Fetzen, dann sah sie noch einen dritten. Als sie ihn aufhob und wieder spürte, wie glatt er war, dachte sie „Fast wie Wyverias Schuppen“, und dann durchfuhr sie ein Schreck: Wyveria würde doch nicht krank sein? Fielen ihr etwa die Schuppen aus?
Noch ängstlicher als zuvor lief Miranda durchs Zimmer und schaute in alle Winkel, aber Wyveria war nirgends zu sehen. Auch im Badezimmer sah sie zwar weitere der seltsamen Fetzen, aber keine Wyveria – halt, was war das? Unter der Badewanne schaute etwas hervor, etwas langes dünnes. Es war Wyverias Schwanzspitze.
Miranda hockte sich hin und da sah sie Wyveria, die sich unter der Badewanne versteckte, so gut es ging. „Geh weg!“, sagte Wyveria todunglücklich in Mirandas Kopf.
„Aber was hast Du denn?“, fragte Miranda, „Ich will Dir doch nur helfen.“
„Geh weg, niemand soll mich so sehen“, sagte Wyveria.
Miranda schaute genauer hin und sah, dass Wyverias Schuppenhaut sich überall an ihrem Körper ablöste. „Dein Haut fällt ja ab. Das muss ja schrecklich wehtun“, sagte sie entsetzt.
„Es juckt!“, sagte Wyveria zur Antwort.
„Es juckt?“ Obwohl Miranda immer noch nicht verstand, was mit Wyveria vor sich ging, war sie doch erleichtert. „Komm doch heraus, dann kann ich Dir vielleicht helfen, dass das Jucken aufhört.“
„Aber niemand soll mich so sehen“, sagte Wyveria.
„Ich habe Dich doch schon gesehen. Oder machst Du Dir Sorgen wegen der Schule?“
Wyveria nickte.
„Ich rufe nachher die Lehrerin an, dass Du krank bist und dass ich nicht kommen kann. In Ordnung?“ Nach diesem Vorschlag kroch Wyveria langsam unter der Wanne hervor. Als Miranda sie sah, erschrak sie wieder, denn Wyverias Haut löste sich an ihrem ganzen Körper ab und hing in Fetzen herunter.
Miranda nahm sie auf den Arm und ging mit ihr ins Wohnzimmer. Behutsam setzte sie Wyveria auf den Tisch und sah sie genau an. Vorsichtig nahm sie einen der herunterhängenden Fetzen zwischen ihre Finger und schob ihn zur Seite. Darunter kamen neue, glatte Schuppen zum Vorschein, die bronzefarben glänzten und vollkommen heil aussahen.
„Ich glaube, Du häutest Dich nur“, sagte sie. „Schlangen haben auch eine Schuppenhaut, und die müssen auch ab und zu ihre Schuppen wechseln.“
„Ja, aber es juckt“, beklagte sich Wyveria wieder.
Miranda rieb ganz sanft über die alte, sich ablösende Haut. Sie löste sich leicht vom Körper. „Wo juckt es denn besonders?“, fragte sie.
„Am rechten Vorderbein.“
Dort war die alte Schuppenhaut noch ziemlich fest am Körper. Miranda strich mit der Hand über die Haut, dann hatte sie eine Idee. Sie holte Ihren Schwamm aus dem Badezimmer und rieb mit dem Schwamm über die juckende Stelle. Wyveria stieß einen tiefen Seufzer aus. Miranda rieb weiter und nach einer Weile löste sich die alte Haut.
Vorsichtig rieb Miranda weiter oben am Bein, doch plötzlich zuckte Wyveria zusammen. „Hab ich Dir weh getan? Entschuldige.“
„Nein, es kitzelt“, sagte Wyveria.
„Ach so.“ Miranda rieb weiter, und Wyveria zuckte wieder. „Du musst stillhalten, auch wenn es kitzelt“, sagte Miranda, „dann geht es am schnellsten.“ Mit einer Hand hielt sie Wyveria am Rücken fest, damit sie nicht so viel herumzappelte, mit der anderen rieb sie das Bein ab.
Schließlich war die alte Schuppenhaut am Bein komplett abgerieben, und die neuen Schuppen glänzten, noch schöner als die Alten. „Ich glaube, wenn wir fertig sind, wirst Du toll aussehen“, sagte Miranda. Dann machte sie mit dem anderen Vorderbein weiter.
Inzwischen war es draußen ganz dunkel geworden. Miranda erinnerte sich daran, dass sie noch die Hexenlehrerin anrufen musste. Miranda nahm ihre Kristallkugel und stellte sie auf den Tisch. Sie setzte sich davor, rieb an der Kugel und sagte den passenden Zauberspruch. Während sie zauberte, schien sich ein golden leuchtender Nebel im Inneren der Kugel zu bilden, der schließlich die ganze Kugel ausfüllte. Wyveria, die Miranda auf den Tisch gesetzt hatte, schaute neugierig hinein. Der Nebel wirbelte in der Kugel herum, dann wurde sie plötzlich ganz klar und das Gesicht der Hexenlehrerin erschien.
„Hallo Miranda, was ist denn?“, fragte sie.
„Es tut mir sehr Leid“, sagte Miranda, „aber ich fürchte, ich kann nicht in die Schule kommen. Wyveria geht es nicht gut. Sie häutet sich.“
„Sie häutet sich? Ich hoffe, es tut nicht weh.“
„Nein, aber es ist wohl sehr unangenehm und juckt. Ich helfe ihr dabei, die alte Haut loszuwerden.“
„Na gut. Du darfst heute zu Hause bleiben. Aber du musst alles nacharbeiten, was wir heute durchnehmen.“
„Natürlich, das mache ich ganz bestimmt. Vielen Dank und bis morgen.“ Miranda rieb wieder über die Kugel und das Gesicht der Lehrerin verschwand.
Danach ging es weiter mit Wyverias Schuppen. Miranda rieb und rieb die alte Haut ab, und überall dort, wo sie es geschafft hatte, glänzte die neue Schuppenhaut in einem wundervollen Bronzeton. Schließlich war sie an Wyveria Kopf angelangt.
„Mach die Augen zu“, sagte sie schließlich und entfernte dann auch noch die alte Haut von Wyverias schuppigen Augenlidern. Ganz brav hielt Wyveria still. Dann hatten sie es endlich geschafft. Der ganze Boden war übersät mit Wyverias alter, zerfetzter Haut. Miranda begann, sie zusammenzufegen, während Wyveria ihren Kopf in alle Richtungen drehte und zufrieden an sich herunterschaute. „Hunger!“, sagte sie dann. Während sie fraß, sorgte Miranda noch weiter für Ordnung, dann setzte sie sich, ein wenig erschöpft, in den Sessel. Wyveria kletterte auf ihren Schoß, rieb ihren Kopf an Mirandas Kinn und schloss die Augen. Nach kurzer Zeit war sie eingeschlafen.
Einige Tage waren vergangen. Es war Mittag, und Miranda lag in ihrem Bett und schlief tief und fest. Plötzlich riss ein Schrei sie aus ihrem Schlaf. „Hilfe!“, ertönte es gellend laut in ihrem Kopf. „Was ist denn?“, fragte Miranda schlaftrunken und verstand zuerst gar nicht, wer sie gerufen hatte. Dann schreckte sie hoch: „Wyveria?“, fragte sie ängstlich, „alles in Ordnung?“ Das Drachenkind war nirgends zu sehen. Miranda kletterte aus dem Hochbett herunter und schaute sich um.
Zwei Stühle waren umgefallen, und nun erinnerte Miranda sich, dass sie geträumt hatte, ein Riese würde gegen ihr Haus klopfen und alle Möbel umwerfen. „Ich bin hier oben“, sagte Wyveria kleinlaut. Miranda schaute auf den großen Garderobenschrank, in dem sie ihre Mäntel und warmen Wintersachen aufbewahrte. Oben auf dem Schrank saß Wyveria.
„Wie bis du denn da hinaufgekommen?“, fragte sie verwundert, und plötzlich hüpfte ihr Herz voller Hoffnung. „Bist Du hinaufgeflogen?“
„Nein, gelaufen“, antwortete Wyveria. „Ich will wieder nach unten.“
Miranda holte einen Stuhl und kletterte hinauf. Sie streckte sich nach oben, um Wyveria herunterzuheben, aber als sie versuchte, Wyveria hochzuheben, merkte sie, wie sie ins Wackeln geriet. Schnell setzte sie Wyveria wieder auf den Schrank und hielt sich selbst fest. „Es ist zu hoch, und Du bist zu schwer“, sagte sie dann. „Erzähl mir doch noch einmal genau, wie Du raufgekommen bist, vielleicht kommst Du so auch wieder runter.“
„Ich bin durchs Zimmer gelaufen und habe mit den Flügeln geschlagen, und bin immer schneller gerannt und dann war ich am Schrank und konnte nicht mehr bremsen. Also habe ich, so stark ich konnte, mit den Flügeln geschlagen und bin einfach nach oben gelaufen.“
„Hmmm“, sagte Miranda, „runterlaufen kannst Du so jedenfalls nicht. Aber irgendwie müssen Deine Flügel Dir geholfen haben – sonst kannst Du doch keine senkrechte Wand hochlaufen.“
„Ich will runter!“, sagte Wyveria, nun ein wenig ärgerlich, weil Miranda sich anscheinend mehr Gedanken über das Heraufkommen als das Hinunterkommen machte.
Miranda überlegte wieder. Vielleicht konnte sie ihren Besen nehmen und damit zum Garderobenschrank hinauffliegen? Dort oben war es allerdings ziemlich eng und Miranda war sich nicht sicher, ob sie sich nicht den Kopf anstoßen würde, oder ob der Besen nicht aus dem Gleichgewicht geraten würde, wenn Wyveria zu ihr hinübersprang.
Dann kam ihr ein ganz anderer Gedanke. Vielleicht konnte Wyveria ja selbst herunterkommen. „Kannst Du nicht einfach springen?“, fragte sie.
„Zu hoch!“
„Und wenn Du Deine Flügel ausbreitest? Dann fällst Du doch langsamer, selbst wenn Du noch nicht fliegen kannst.“
„Und wenn es nicht klappt?“ Wyverias Stimme klang besorgt.
„Pass auf. Ich lege einen Stapel aus Kissen und Decken auf den Tisch, in den kannst Du reinspringen. Und bis zum Tisch ist es auch nicht ganz so tief.“ Miranda holte ihre Kissen und ihr dickes Federbett und breitete sie auf dem Tisch aus.
„Wenn Du springst, dann breitest Du die Flügel aus, das müsste Dich eigentlich bremsen“, sagte sie.
Wyverias Kopf schielte über den Rand des Garderobenschranks hinweg nach unten.
„Tief“, sagte sie dann.
„Das schaffst Du bestimmt“, sagte Miranda.
Wyveria schaute noch einmal nach unten, und Miranda sah, dass sie all ihren Mut zusammennahm. Dann machte sie einen Satz nach vorn und breitete ihre Flügel aus. Sie stürzte ein Stück in die Tiefe, doch als die Flügel ganz ausgebreitet waren, bremsten sie ihren Fall. Wyveria sauste durch die Luft, genau auf den Tisch zu. Ihre Flügel trugen sie durch die Luft, und sie war
viel zu schnell, als sie über dem Tisch hinwegglitt. Ihre Füße berührten zwar den Kissenstapel, doch sie riss ihn vom Tisch herunter, flog weiter, über den Tisch hinweg, und raste in Mirandas Sessel, der mit lautem Krachen umfiel. Wyveria kullerte ein Stück durchs Zimmer und blieb dann liegen.
„Ist Dir auch nichts passiert?“, fragte Miranda besorgt. Wyveria rappelte sich wieder hoch und schüttelte sich. Dann schaute sie an ihrem Körper hinunter und breitete vorsichtig ihre Schwingen aus. „Alles in Ordnung“, sagte sie dann.
„Gut.“ Miranda war beruhigt. Dann wurde ihr erst klar, was passiert war. „Du bist geflogen, weißt Du das?“
„Nein, gesprungen.“
„Ohne Deine Flügel hättest Du aber nicht so weit springen können. Es war ein richtiger Gleitflug, wie bei einer Möwe oder einem Segelflugzeug. Deine Flügel sind also doch groß genug, um Dich zu tragen.“
„Hmm“, sagte Wyveria nur, aber Miranda fuhr unbeirrt fort.
„Am besten versuchen wir es gleich nochmal.“
„Nochmal?“
„Ja, natürlich. Es ging doch schon ganz gut. Diesmal schiebe ich den Tisch etwas weiter weg, dann kannst Du genau auf ihm drauf landen. Du musst nur alles genauso machen wie eben.“
„Ich will nicht.“
„Aber Du willst doch Fliegen lernen und die Drachenprüfung bestehen, oder?“
„Na gut“, sagte Wyveria.
„Als erstes musst Du wieder auf den Schrank.“
Wyveria nahm einen Anlauf und rannte dann durchs Zimmer. Sie schlug mit den Flügeln auf und ab, schneller und schneller und rannte auf den Schrank zu. Sie rannte die Schrankwand hinauf, während ihre Flügel sie ein wenig trugen und ihr Halt gaben, und war im Nu oben angekommen.
Miranda staunte, dass Wyveria mit ihren Flügeln tatsächlich eine senkrechte Wand hochlaufen konnte. „Gut gemacht“, lobte sie. Sie schob den Tisch dorthin, wo eben noch der Sessel gestanden hatte, und stapelte Decke und Kissen wieder auf. „Und jetzt los“, sagte sie.
Wieder schaute Wyveria noch einmal nach unten, ein wenig ängstlich, wie Miranda fand, dann machte sie einen Satz in die Luft und breitete die Flügel aus. Sie schwebte und fiel gleichzeitig und sauste durchs Zimmer. Miranda sah, dass sie diesmal noch etwas besser flog als beim ersten Mal. „Klapp die Flügel ein!“, rief sie, als Wyveria schon fast über dem Tisch war, aber noch viel zu hoch. Wyveria gehorchte. Sie landete diesmal auf dem weichen Stapel, doch sie hatte noch so viel Schwung, dass sie mitsamt Decke und Kissen vom Tisch rutschte und auf dem Boden plumpste. Dabei überschlug sie sich noch ein oder zweimal, so dass sie sich in der Decke verhedderte.
„Warte, ich helfe Dir.“ Miranda befreite Wyveria aus ihrem Stoffgefängnis. „Das ging doch schon richtig gut“, sagte sie.
„Kann ich jetzt fliegen?“, fragte Wyveria hoffnungsvoll.
„Nein, richtig fliegen noch nicht, aber zumindest etwas gleiten. Das ist auf jeden Fall besser als gar nichts.“
„Aber jetzt wollen wir wieder schlafen“, sagte Wyveria und kletterte die Leiter ins Hochbett nach oben. Miranda war noch etwas aufgeregt, aber sie kletterte ebenfalls nach oben und legte sich neben Wyveria. Das Drachenkind war im Nu eingeschlafen, aber Miranda lag noch lange wach und dachte an die Drachenprüfung.
Nachbemerkung: Alle, die glauben, dass diese Hexengeschichten nichts mit Wissenschaft zu tun haben, sind hoffentlich spätestens jetzt vom Gegenteil überzeugt: Wyverias Technik an einer senkrechten Wand hochzulaufen, wurde vor einigen Jahren an Vögeln beobachtet und unter dem Namen “Wing-Assisted-Inclined-Running” (WAIR) bekannt. Diese Technik könnte ein Schritt auf dem Weg zur Entwicklung des aktiven Fliegens gewesen sein damals, als sich die Vögel aus Dinosauriern entwickelten.
]]>Es war Wochenende, und die Hexenkinder hatten schulfrei. Wyveria lag vor Mirandas Ofen und döste vor sich hin, während Miranda in ihrem Sessel saß und nachdachte. Sie dachte an all die vielen Dinge, die Wyveria noch lernen musste, und daran, dass es außer mit dem Laufen und Schwimmen bisher noch mit gar nichts so richtig klappen wollte. Da klopfte es an der Tür; Draconia und Netti waren gekommen.
„Hallo Ihr zwei“, begrüßte Miranda sie und sagte dann, „was meint ihr, was wir heute versuchen sollen?“
„Schulfrei!“, sagte Wyverias Stimme in ihren Köpfen.
„Das geht doch nicht“, versuchte Miranda sie zu überzeugen, „Du musst doch noch so viel lernen.“
„Das ist ungerecht“, erwiderte Wyveria nur und drehte ihren Kopf von Miranda weg.
Miranda ging zu ihr hinüber und streichelte über Wyverias Kopf. „Ich weiß ja, dass Du keine Lust hast, aber Du weißt doch auch, wie wichtig es ist, dass Du alles lernst, nicht wahr?“
„Hexen haben auch schulfrei“, sagte Wyveria immer noch schlecht gelaunt.
Miranda überlegte gerade, wie sie Wyveria überreden konnte, doch noch etwas lernen zu wollen, da sagte Netti: „Meint Ihr nicht, dass sie Recht hat? Ihr müsst Euch ja auch ab und zu mal erholen und eine freie Nacht haben, stimmt’s?“
„Schon“, erwiderte Miranda, „aber wir müssen auch nicht bald eine Drachenprüfung bestehen.“
„Trotzdem“, unterstützte jetzt auch Draconia Wyveria. „Nach dem Wochenende sind wir ja auch erholter und können besser lernen. Vielleicht ist das bei Wyveria ja auch so.“
„Meint ihr wirklich?“ fragte Miranda. „Was möchtest Du denn heute machen?“, fragte sie dann Wyveria.
Wyveria reckte ihren Kopf in die Höhe und schaute aus dem Fenster zum Himmel. Es war ein schöner, sonniger Herbsttag gewesen und die Luft draußen war immer noch warm. „Schwimmen“, sagte sie bestimmt.
„Gut, gehen wir also schwimmen.“
Es dauerte nicht lange, und die Freundinnen kamen am Badesee an. Als sie ihre Badeanzüge anzogen merkten sie, dass es doch gar nicht so warm war, wie sie gedacht hatten. Während Draconia sie wieder mit ihrem Zauberspruch warm zauberte, rannte Wyveria bereits den Strand hinunter. Mit einem gewaltigen Satz sprang sie ins Wasser und schoss davon, so dass die Wellen hoch aufspritzten. Sie sauste hin und her, bis schließlich auch die anderen im Wasser waren. Dann schwamm sie zu ihnen hin und sagte telepathisch „Wettschwimmen!“, und war schon auf dem Weg zum anderen Seeufer.
Die drei Hexenkinder versuchten ihr zu folgen, so gut es ging. „Ich krieg Dich!“, schrie Draconia, und gab sich viel Mühe. Sie schwamm schneller als Miranda und Netti, aber Wyveria vermochte sie nicht einzuholen. Da hatte Miranda eine Idee. Sie hatte ihren Zauberstab in ihren Badeanzug gesteckt, holte ihn hervor und verwandelte sich in einen großen Thunfisch, denn sie wusste, dass diese besonders schnell schwimmen konnten.
Kaum hatte sie die Fischgestalt angenommen und den Zauberstab mit ihrem Fischmaul gepackt, da schoss sie auch schon durchs Wasser. Im Nu war Miranda an Draconia und kurz danach auch an Wyveria vorbeigesaust und kam zum anderen Seeufer. Dort sprang sie mit einem Satz in die Luft, wobei sie sich zurückverwandelte. „Gewonnen!“, schrie sie begeistert.
Wyveria kam herangeschwommen und sagte „Geschummelt!“, breitete einen Flügel aus und spritzte Miranda nass. Wie auch beim letzten Mal war im Nu eine wilde Wasserschlacht im Gang. Wegen ihrer großen Flügel war Wyveria im Vorteil – sie spritzte so viel Wasser auf, dass sie völlig hinter einem Tropfenvorhang verschwand.
„Wir müssen zusammenarbeiten!“, rief Draconia den beiden anderen Hexenkindern zu, und dann umzingelten sie Wyveria, so dass immer zwei von ihnen vor ihr und eine hinter ihr schwammen. Wyveria versuchte, sich so schnell es ging im Kreis zu drehen, um sie alle mit ihren Wasserfontänen zu erwischen, aber es war immer eine Hexe in ihrem Rücken und konnte sie ebenfalls nassspritzen. Sie alle prusteten und schnaubten, denn sie hatten alle Mund und Nase voll Wasser. Schließlich japste Netti „Ich kann nicht mehr“, und dann schwammen sie alle drei zum Ufer.
Wie beim letzten Mal entzündeten sie ein Lagerfeuer, und wie beim letzten Mal stellte Netti Wyveria auch diesmal ein Rätsel:
„Zwei sind’s, die nebeneinander stehen
und alles klar und deutlich sehen,
doch immer eins das andere nicht
und sei’s in hellem Tageslicht.“
Miranda überlegte, wer wohl nebeneinanderstehen und alles sehen könnte. Sie hatte eine Weile erfolglos gegrübelt, dann dachte sie, ‘Hmm, sehen tut man jedenfalls mit den Augen.’ „Ach so, ich hab’s!“, rief sie laut. Es war das erste Mal, dass sie ein Rätsel schneller als Wyveria gelöst hatte. Doch kurz darauf öffnete Wyveria ihre Augen und schaute auf: „Das ist ein Menschenrätsel, kein Drachenrätsel“, sagte sie. „Meine Augen stehen nämlich gar nicht nebeneinander.“
„Stimmt“, sagte Netti, denn Wyverias Augen lagen ja etwas seitlich an ihrem Kopfs, nicht nebeneinander an der Vorderseite, „aber du hast es ja trotzdem herausbekommen.“
„Tauchen!“, sagte Wyveria plötzlich und rannte wieder zum See hinunter. Die anderen folgten ihr, aber wie zuvor war Wyveria schon weit hinausgeschwommen, als sie noch nicht einmal ganz im Wasser waren. Miranda sah, wie Wyveria ein wenig aus dem Wasser herauskam und dann Kopf voran untertauchte. Für einen Moment war ihr langer Schwanz zu sehen und dann war es still.
Die Hexenkinder schwammen zu der Stelle, wo Wyveria untergetaucht war, und Miranda und Draconia tauchten ebenfalls. Unter Wasser war es dunkel, und von Wyveria war nichts zu sehen. Auch als sie wieder auftauchten, gab es von Wyveria noch keine Spur.
„Die taucht aber lange“, sagte Netti.
„Stimmt“, antwortete Miranda, und nachdem noch ein Moment vergangen war, fügte sie hinzu, „ihr wird doch nichts passiert sein? So lange kann man doch gar nicht tauchen.“ Sie konzentrierte sich und rief dann „Wyveria!“, in der Hoffnung, dass diese sie zumindest telepathisch hören und ihr antworten würde. Doch alles blieb still.
„Wir müssen ihr helfen!“, rief Miranda und tauchte wieder in das dunkle Wasser hinab, konnte aber nichts erkennen. „So geht es nicht“, sagte sie, als sie wieder aufgetaucht war. Sie zauberte sich mit ihrem Zauberstab ein Hexenlicht und dann eine Kugel aus Luft um ihren Kopf, um länger unter Wasser bleiben zu können. Wieder tauchte sie hinab. Draconia tat es ihr gleich und tauchte ebenfalls. Netti, die ja noch nicht so gut zaubern konnte, blieb an der Oberfläche und rief immer wieder nach Wyveria.
Miranda und Draconia tauchten immer tiefer. Auch mit dem Hexenlicht sahen sie von Wyveria keine Spur. Schließlich kamen sie zum Grund des Sees, der mit langen Algensträngen bewachsen war. „Hoffentlich hat sie sich nicht in den Algen verheddert“, dachte Miranda verzweifelt und schwamm zwischen den Pflanzen herum, so gut es ging. Wyveria aber blieb verschwunden, und Mirandas Angst wurde immer größer.
Plötzlich hörte sie etwas – es war ein leises Lachen. Als sie sich darauf konzentrierte, merkte sie, dass sie es nicht wirklich hörte, sondern dass es nur in ihrem Kopf erklang. „Wyveria?“, dachte sie hoffnungsvoll, aber vom Drachenkind war noch immer nichts zu sehen. War sie vielleicht wieder aufgetaucht? Miranda gab Draconia ein Zeichen und die beiden schwammen wieder zur Oberfläche. Kaum waren sie dort angekommen, als neben ihnen Wyveria mit einem Satz durch die Wasseroberfläche brach und mit einem lauten Platsch wieder eintauchte.
„Reingelegt!“, rief sie und lachte erneut übermütig in ihren Köpfen.
„Bin ich froh, dass Dir nichts passiert ist“, sagte Miranda und schwamm zu Wyveria hinüber, um sie kurz in die Arme zu nehmen. „Musstest Du uns so einen Schrecken einjagen?“
„Ich wollte doch tauchen“, erklärte Wyveria.
„Ja, aber woher sollten wir denn wissen, dass Du so lange tauchen kannst? Wieso kannst Du überhaupt so lange die Luft anhalten?“
„Drachen müssen das können, wenn sie in großer Höhe fliegen. Da ist die Luft auch sehr dünn, und wir können nicht richtig atmen.“
„Jedenfalls bin ich froh, dass Dir nichts passiert ist. Aber mach sowas bitte nicht nochmal, hörst Du?“
„Na gut“, antwortete Wyveria etwas kleinlaut.
Sie tobten noch eine Weile im Wasser herum, dann machten sie sich auf den Weg nach Hause.
Als sie sich in der nächsten Nacht wieder in der Schulbibliothek trafen, nahm Draconia als erstes ihre Liste heraus. „So. Schwimmen kannst Du jedenfalls“, sagte sie und machte einen Haken. „Soll ich beim Laufen auch einen Haken machen?“ Als Antwort sprang Wyveria von Mirandas Schoß herunter und rannte durch die Bibliothek, wobei sie mit den Flügeln auf und ab schlug. Sie machte so viel Wind, dass Mirandas Haare ihr ins Gesicht flatterten, als Wyveria an ihr vorbeirannte. Wyveria rannte zweimal im Kreis um den Tisch herum, dann blieb sie stehen.
„In Ordnung“, lachte Draconia und machte einen weiteren Haken. „Feuer spucken, Sprechen, Zaubern und Fliegen. Ich schlage vor, wir versuchen es noch ein wenig mit dem Sprechen.“
„Ich kann sprechen“, maulte Wyveria, wie jedesmal.
„Versuch es doch einfach nochmal“, schlug Miranda vor.
Gehorsam holte das Drachenkind Luft und versuchte, Geräusche zu machen. „Iiiiih“, ertönte es wieder. Wyveria versuchte es erneut. Diesmal klang das „Iiiih“ etwas tiefer, aber es war immer noch derselbe Laut. Nach ein paar weiteren Versuchen wurde es Wyveria zu viel. „Genug“, sagte sie, kniff den Mund zusammen und gab keinen Ton mehr von sich.
Miranda seufzte. „Ich fürchte, mit dem Sprechen wird es im Moment noch nichts. Vielleicht sollten wir mal das Zaubern versuchen, das haben wir noch nie probiert.“
Beim Wort „Zaubern“ war Wyverias Kopf in die Höhe geschnellt. Sie nickte. „Zaubern!“, sagte sie.
„Was soll Wyveria denn zaubern?“, fragte Miranda. „Am besten etwas möglichst einfaches.“
„Der einfachste Zauber ist ein Hexenlicht, oder was meint Ihr?“, fragte Netti. Die anderen stimmten ihr zu, und Netti machte es Wyveria vor. Langsam sagte sie den Zauberspruch auf und schwenkte dabei ihren Zauberstab. Ein kleines Licht erschien wie ein kleiner Stern über der Spitze ihres Stabes und leuchtete hell. „Siehst Du“, sagte sie zu Wyveria, „es geht ganz einfach. Probier mal.“
„Ich gebe Dir meinen Zauberstab“, sagte Miranda und hielt Wyveria ihren Stab hin. Da Wyveria mit ihren Zehen nicht richtig greifen konnte, setzte sie sich auf die Hinterbeine und hielt den Stab zwischen ihren beiden Vordertatzen fest. „Am besten sagst Du den Spruch telepathisch – zu ärgerlich, dass Du nicht sprechen kannst“, schlug Miranda dann vor.
Wyveria gehorchte und sie alle hörten in ihren Köpfen ganz deutlich ihre Stimme den Zauberspruch aufsagen. Leider aber passierte nichts. Wyveria versuchte es noch ein zweites und dann ein drittes Mal, doch es half nichts.
„Meint, Ihr, es ist egal, dass sie den Zauberstab mit beiden Tatzen festhält?“, fragte Netti. Also versuchte Wyveria, den Zauberstab nur in einer Tatze zu halten, so wie eine Hexe mit ihrer Hand. Da sie keinen Daumen hatte, war es ziemlich schwierig, aber schließlich gelang es Miranda, Wyveria den Stab zwischen zwei ihrer Vorderzehen zu klemmen, so dass er etwas schräg in die Höhe ragte. Wyveria versuchte es wieder, aber erneut vergeblich.
„Pause!“, sagte Wyveria.
„Ja, gut, lasst uns eine Pause machen. Ich hab im Moment sowieso keine Idee mehr“, sagte Miranda. Sie war sehr niedergeschlagen, weil der Unterricht mit Wyveria so gar nicht so verlief, wie sie es sich vorgestellt hatte. Wer hätte gedacht, dass es so schwierig sein könnte, einem kleinen Drachen beizubringen, was er wissen musste?
„Rätsel!“, forderte Wyveria.
„Gut“, antwortete Netti, „mal sehen, ob Du das hier herausbekommst. Was hat sechs Beine, läuft aber nur auf vieren?“
Alle begannen nachzudenken. Miranda überlegte eine ganze Weile, welche Tiere wohl sechs Beine hatten. Die einzigen, die ihr einfielen, waren Käfer und Fliegen, aber die hielten beim Laufen nicht zwei davon in die Luft. Während sie noch grübelte, sagte Wyveria plötzlich mit sehr zufriedener Stimme: „Einfaches Rätsel!“
„Hast Du es schon herausbekommen?“, fragte Draconia verblüfft. „Ich habe jedenfalls keine Idee.“
„Ich auch nicht“, gab Miranda zu.
„Ein Pferd, auf dem ein Reiter sitzt“, sagte Wyveria.
„Stimmt“, sagte Miranda verblüfft, „aber darauf wäre ich nie gekommen. Im Rätseln bist Du wirklich nicht zu schlagen.“
„Mehr Rätsel“, sagte Wyveria, aber Miranda widersprach: „Nein, jetzt übst Du wieder Zaubern.“
„Ich hab mir was überlegt“, sagte Netti. „Drachen benutzen doch gar keine Zauberstäbe, oder? Sie könnten sie ja auch gar nicht gut festhalten. Vielleicht geht es besser ohne Zauberstab.“
„Prima Idee“, lobte Miranda. Sie nahm ihren Zauberstab wieder an sich und Wyveria sollte es erneut versuchen. Wieder hörten sie alle ihren Zauberspruch in ihren Köpfen, aber nichts geschah.
„Langsam weiß ich nicht mehr weiter“, gab Miranda zu. „Drachen und Hexen sind einfach zu verschieden. Was machen wir, wenn die Drachenzaubersprüche ganz anders klingen, vielleicht in irgendeiner Drachensprache?“
„Dann haben wir überhaupt keine Chance“, sagte Draconia. Dann hielt sie einen Moment inne. „Wartet mal, wenn Drachenzauber ganz anders sind, vielleicht gehen sie ja nicht nur ohne Zauberstab, sondern auch ohne Zauberspruch.“
„Wie soll das denn gehen?“, fragte Netti verwirrt.
„Weiß ich auch nicht“, sagte Draconia. „Vielleicht muss Wyveria sich den Zauber nur vorstellen oder so.“
„Meinst Du, das funktioniert?“, fragte Miranda skeptisch.
Auch Netti schüttelte traurig den Kopf. Da fiel ihr Blick auf Wyveria. Wyveria hatte ihren Kopf auf die Vordertatzen gelegt und ihre Drachenaugen fest geschlossen. Sie lag still da, nichts an ihr rührte sich und sie schien nicht einmal zu atmen. „Seht doch nur!“, rief Netti aufgeregt, denn plötzlich erschien ein winziges leuchtendes Pünktchen direkt vor Wyverias Nasenspitze. Es war nur schwach zu sehen, aber es war deutlich ein Licht. Nach einem Moment erlosch es, und Wyveria schlug die Augen auf.
„Du hast es geschafft!“, rief Miranda außer sich vor Freude, nahm Wyveria auf den Arm und drückte sie an sich.
„Jetzt wissen wir immerhin, wie es geht“, sagte Draconia, „aber Du musst noch mehr üben. Ich glaube nicht, dass ein so kleines Licht für die Drachenprüfung reicht.“
„Ja, am besten versuchst Du es gleich noch mal“, stimmte Miranda zu.
Sie setzte Wyveria wieder auf den Boden, diese schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihren Zauber. Netti löschte inzwischen das Licht, damit sie Wyverias Zauberlicht besser erkennen konnten.
Es dauerte einen Moment, aber dann konnten sie alle es deutlich sehen: Wieder erschien ein kleiner Lichtfleck vor Wyverias Nase, und da es dunkel war, konnten sie diesmal sehen, dass es ein goldenes Licht war, das sich ein wenig in Wyverias Bronzeschuppen spiegelte. Sehr hell war es allerdings nicht, nicht einmal so hell wie eine Streichholzflamme.
Als es erloschen war, bat Miranda Wyveria, es noch einmal zu versuchen. „Vielleicht stellst Du es Dir mal etwas größer und heller vor“, sagte sie.
„Zaubern ist anstrengend“, murrte Wyveria, aber sie tat, was Miranda verlangt hatte. Das Zauberlicht erschien wieder, aber es war nicht heller als zuvor.
Auch beim nächsten Mal war es nicht größer geworden. „Anstrengend!“, beschwerte Wyveria sich wieder. „Versuch es doch bitte trotzdem noch einmal“, bat Miranda, und Wyveria schloss wieder die Augen.
Wieder warteten die Hexenkinder gespannt. Wyveria lag ruhig vor ihnen und sie starrten auf ihre Nasenspitze, um das Auftauchen des Lichtes nicht zu verpassen. Alles blieb dunkel. Wyveria lag auf dem Boden, hatte wie zuvor die Augen geschlossen, und atmete ruhig, sehr ruhig, dachte Netti, und dann lachte sie: „Sie ist eingeschlafen!“ Auch Miranda und Draconia lachten. „Es war wohl wirklich ziemlich anstrengend für sie“, sagte Draconia.
„Es ist sowieso schon ziemlich spät“, sagte Miranda. „Am besten, wir machen morgen weiter.“ Vorsichtig, um Wyveria nicht zu wecken, nahm sie sie auf den Arm und ging mit ihr nach draußen. Dann verabschiedeten sie sich und flogen alle drei nach Hause.
In der nächsten Nacht flogen Miranda und ihre Freundinnen mit Wyveria zum See. Der Sommer war bereits zu Ende, und nachts war es zwar noch nicht sehr kalt, aber als sie auf den dunklen See hinaus blickte, begann Netti zu frösteln. „Sieht kalt aus“, sagte sie, während sie sich ihre Badesachen anzogen. Miranda war als erste fertig und ging zum Wasser. Als sie den Fuß hineinsteckte, schrie sie auf: „Sieht nicht nur kalt aus, ist es auch.“
„Ich glaube nicht, dass wir in der Kälte baden können“, sagte Netti.
„Klar können wir.“ Draconia holte ihren Zauberstab hervor und sprach einen Zauberspruch, wobei sie mit dem Stab auf jeden von ihnen deutete. Dann ging sie ans Ufer und in den See hinaus. „Kommt, es fühlt sich überhaupt nicht kalt an.“ Vorsichtig folgten Miranda und Netti ihr, aber sie merkten schnell, dass Draconias Zauberspruch wirkte – das Wasser fühlte sich so warm an, als hätte die Sommersonne den ganzen Tag darauf geschienen.
„Komm, Wyveria“, rief Miranda, und Wyveria trottete gehorsam ins Wasser.
„Kalt!“, sagte sie mürrisch.
„Wieso?“, fragte Netti. „Du hast das Wasser doch warm gezaubert, Draconia, oder nicht? Ich finde es gar nicht kalt.“
„Nein, ich habe nicht das Wasser warm gezaubert – dafür ist der See zu groß, soviel Zauberkraft habe ich nicht. Ich habe nur gezaubert, dass uns im Wasser nicht kalt wird.“
„Kannst Du Wyveria nicht genauso verzaubern?“, fragte Miranda.
„Ich dachte, das hätte ich“, sagte Draconia nachdenklich. Sie wiederholte den Zauberspruch. „Ist es jetzt besser?“
„Kalt!“, beschwerte Wyveria sich erneut.
„Wirkt der Zauber vielleicht nicht bei Drachen?“, überlegte Netti.
„Natürlich!“, rief Miranda. „Der braune Drache hat doch zu mir gesagt, ich könne ihn nicht verzaubern. Vielleicht kann man Drachen nicht verzaubern, weil sie irgendwie gegen Magie geschützt sind.“
„Das ist aber ziemlich unpraktisch für uns“, sagte Netti.
Doch es half alles nichts. Kalt oder nicht, Wyveria musste schwimmen lernen. „Nun komm schon“, ermunterte Miranda sie.
„Ich will Rätsel!“, sagte Wyveria und Miranda seufzte.
„Ist gut“, sagte Netti, „wenn wir eine Weile geschwommen sind, dann bekommst Du ein Rätsel von mir.“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, ging Wyveria auch schon vorsichtig ins Wasser hinein.
„Ich zeige Dir jetzt, wie man schwimmt“, sagte Miranda, legte sich ins Wasser und begann mit den Schwimmbewegungen. „Mach es mir einfach nach.“ Wyveria machte einen Satz in das etwas tiefere Wasser und ging sofort unter. Sie strampelte wild mit den Vorderbeinen, aber es half nichts. Draconia stellte sich neben sie und legte ihr die Hände unter den Bauch. „Ich halte Dich, dann kannst Du die Schwimmbewegungen üben.“ Gehorsam versuchte Wyveria, die Vorderbeine nach außen zu drücken, aber es ging nicht. „Geht nicht!“, sagte sie.
„Wieso nicht?“, fragte Miranda. Wyveria machte dieselbe Bewegung noch einmal. „Du kannst ja Deine Vorderbeine gar nicht richtig zur Seite strecken. Wie sollst Du denn da schwimmen?“
„Aber wir wissen doch, dass Drachen schwimmen können“, sagte Netti, „das habt ihr doch gelesen.“
„Stimmt.“ Alle drei dachten eine Weile nach, während Wyveria aus dem Wasser kletterte und sich trocken schüttelte.
„Ich hab’s!“, rief Draconia schließlich. „Wyveria ist doch eher wie ein Tier als wie ein Mensch. Vielleicht muss sie andere Schwimmbewegungen machen, so wie beim Hundepaddeln. Komm, ich zeig’s Dir.“
Ganz brav stieg Wyveria wieder ins Wasser. Draconia paddelte vor ihr im Wasser herum und Wyveria versuchte es nachzumachen, von Miranda gestützt. Diesmal machte es Wyveria keine Schwierigkeiten, ihre Beine richtig zu bewegen, aber als Miranda nach einer Weile vorsichtig ihre Hand unter Wyverias Bauch wegzog, ging diese sofort unter. Schnell hob sie sie wieder an die Oberfläche.
„Ich glaube, Deine Beine sind zu kurz zum Paddeln“, sagte sie schließlich, nachdem Wyveria es wieder und wieder erfolglos versucht hatte. „Da hilft nur üben.“
„Kalt“, sagte Wyveria nur.
„Am besten gehen wir erst einmal ans Ufer, damit Wyveria sich aufwärmen kann. Wenn sie friert, klappt es bestimmt gar nicht.“ Sie trockneten sich und auch Wyveria ab, doch ihr war immer noch kalt. Miranda und Draconia gingen Feuerholz suchen, und kurze Zeit später brannte ein helles kleines Lagerfeuer am Strand. Wyveria stellte sich ganz dicht davor, so dicht, dass Miranda schon Angst hatte, sie würde sich verbrennen. Wyveria breitete ihre Flügel aus und hielt sie dicht an die Flammen. „Warm“, sagte sie zufrieden, und dann „Rätsel!“
„Ist gut“, sagte Netti. „Dieses Rätsel ist aus einer Geschichte, die meine Tante mir einmal vorgelesen hat: Der Schrein ohne Schlüssel, Schloss, Scharnier, birgt einen goldenen Schatz, glaube es mir.“
Wyveria lauschte aufmerksam. Als Netti zu Ende gesprochen hatte, legte sie, wie immer, wenn sie nachdachte, ihren Kopf auf die Vordertatzen und schloss die Augen. Auch Miranda dachte über das Rätsel nach. Meistens war es bei Rätseln so, dass einige Worte des Rätsels ganz genau so gemeint waren, wie sie da standen, andere aber nicht. Miranda überlegte, was für ein goldener Schatz
gemeint sein konnte, aber normale Goldschätze wurden natürlich nie in Truhen aufbewahrt, die man nicht öffnen kann. Doch bevor sie noch weiter überlegen konnte, sagte Wyveria: „Leichtes Rätsel, besonders für einen Drachen.“
„Nicht verraten“, bat Miranda. „Vielleicht komme ich diesmal ja auch wieder selbst drauf.“ Wyveria, zufrieden, dass sie das Rätsel gelöst hatte, schaute die Hexenkinder erwartungsvoll an. „Und was nun?“, fragte sie.
Während die anderen gerätselt hatten, hatte Netti noch einmal über das Schwimmen nachgedacht. „Können eigentlich alle Tiere schwimmen?“ fragte sie.
„Ich glaube schon“, antwortete Draconia.
„Und schwimmen alle Tiere so wie ein Hund?“, fragte sie weiter.
„Nein, nicht alle.“
„Dann müssen wir vielleicht überlegen, welchem Tier Wyveria am ähnlichsten ist – so muss sie dann auch schwimmen.“
„Netti, Du bist wirklich schlau“, lobte Miranda. „Hmm, lass Dich mal ansehen, Du hast einen langen Schwanz und kurze Beine, ein bisschen wie ein Krokodil, findet ihr nicht?“
Wyveria schnaubte entrüstet: „Ich bin ein Drache, kein Krokodil.“
„Weiß ich ja, aber Du siehst einem Krokodil jedenfalls ähnlicher als irgendeinem anderen Tier das ich kenne. Krokodile können doch gut schwimmen, oder?“
„Ja“, rief Draconia, „aber die schwimmen, indem sie mit dem Schwanz schlagen, nicht mit den Beinen. Vielleicht klappt das.“
Alle hatten neue Hoffnung geschöpft und so gingen sie wieder ins Wasser. Natürlich konnten sie Wyveria diesmal nicht vormachen, wie sie schwimmen sollte. So hielt Miranda sie einfach wieder unter dem Bauch und sagte „Schlag mit dem Schwanz.“ Wyveria gehorchte und schoss aus Mirandas Händen heraus nach vorn ins Wasser, wobei ihr Kopf allerdings unterging. „Hilfe!“, rief sie. Miranda stürzte hinter ihr her und versuchte, sie zu greifen, doch plötzlich durchbrach Wyverias Kopf die Wasseroberfläche und sie schwamm auf den See
hinaus.
„Es klappt!“, rief Miranda begeistert.
„Nicht nur mit dem Schwanz, mit dem ganzen Körper“, sagte Wyveria, während sie durch den See sauste, so schnell, dass die anderen sie nicht einholen konnten. Als Wyveria schließlich umdrehte und wieder auf sie zu schwamm, sah Miranda, dass sie tatsächlich ihren ganzen Körper hin und her schlängelte. Kurz vor ihr hielt Wyveria an, indem sie ihre Flügel zum Bremsen ausbreitete. Es gab eine riesige Wasserfontäne, unter der Miranda geduscht wurde. „Iiih!“, schrie sie auf und Wyveria lachte in ihren Köpfen. Dann spreizte sie erneut die Flügel und spritzte Miranda noch einmal nass.
„Na warte!“, rief Miranda und lachte, während sie mit dem Arm aufs Wasser schlug, um sich zu rächen. Doch Wyveria hatte sich inzwischen schon an ihr vorbei geschlängelt.
„Aufgepasst, Wyveria“, rief Draconia und spritzte das Drachenkind nass. Im Nu war eine gigantische Wasserschlacht im Gange, bei der Wyveria meist die Nase vorn hatte, denn sie konnte mit ihren Flügeln mehr Wasser spritzen als die drei anderen zusammen.
Schließlich sagte Netti „ich kann nicht mehr“, und ging ans Ufer. Die anderen folgten ihr. Während sie sich abtrockneten, dachte Miranda noch einmal über das Rätsel nach, aber die Lösung wollte ihr nicht einfallen.
„Ich gebe auf“, sagte sie. „Was ist denn nun diese Truhe mit dem goldenen Schatz?“
„Ein Ei“, antwortete Wyveria.
„Wieso ein Ei?“ Miranda musste einen Moment nachdenken. „Ach so, der goldene Schatz ist das Eigelb, und die Truhe ist das Ei selbst. Das war aber knifflig.“
Müde und hungrig vom Schwimmen, aber sehr zufrieden, machten sie sich auf den Heimweg.
In der nächsten Nacht, nach dem Unterricht für die Hexenkinder, begann die Drachenschule in der Schulbibliothek. Wyveria hatte in der Schulstunde neben Miranda gesessen und brav zugehört, ein wenig geschlafen und leise mit Mirandas Stiften gespielt, auf denen sie auch wieder herumkaute. Diesmal war es aber nicht so schlimm, denn Miranda hatte extra für Wyveria alte Stifte mitgenommen, die sie nicht im Unterricht brauchte. Nun war die Hexenschule zu Ende, und Miranda und ihre Freundinnen trafen sich in der Schulbibliothek.
„Was meint Ihr, was Wyveria heute lernen soll?“, fragte Miranda.
„Rätsel!“, antwortete Wyveria telepathisch.
„Nein, Du musst etwas richtiges lernen, etwas, das auf unserer Liste steht. Mal sehen. Laufen kannst Du ja schon. Hmm, zum Fliegen sind Deine Flügel noch ein wenig zu klein, glaube ich.“
„Aber Wyveria könnte doch schon ein wenig üben und trainieren, damit sie genügend Muskelkraft bekommt“, schlug Draconia vor.
Das fanden alle – außer Wyveria – eine gute Idee, und so musste Wyveria eine Weile mit den Flügeln auf und ab schlagen. Natürlich bewegte sie sich kein bisschen vom Boden, aber ihre Flügel machten immerhin schon einigen Wind, so dass die Liste mit Wyverias Lernaufgaben vom Tisch flog.
„Genug geflattert. Ich will Rätsel“, quengelte Wyveria schließlich.
„Noch nicht. Am besten übst Du als nächstes das Feuerspucken“, schlug Draconia vor und holte etwas Schwefel. Wyveria nahm das Maul voll Schwefel und schluckte ihn herunter. Sie drehte den Kopf hin und her und dann kam, wie beim letzten Mal, ein winziges Flämmchen aus ihrem Maul herausgeschossen, etwas
kleiner als eine Streichholzflamme.
„Feuer“, sagte Wyveria zufrieden in ihren Köpfen.
„Aber kannst Du nicht eine etwas größere Flamme spucken? Diese sieht man ja kaum.“
Wyveria versuchte es, aber die zweite Flamme war eher kleiner als die erste.
„Vielleicht hilft es, wenn Du mehr Schwefel isst“, sagte Draconia und gab Wyveria noch zwei weitere große Löffel voll Schwefel, die diese gehorsam schluckte. Plötzlich verdrehte sie die Augen und gab ein lautes Rülpsen von sich, wobei Feuer und Rauch aus ihrem Rachen und auch aus der Nase schossen, dann noch einmal und noch einmal. Es waren keine richtigen Flammen, sondern nur kleine Flämmchen, die fürchterlich rauchten und nach Schwefel stanken. Netti musste husten.
„Mir ist schlecht“, beschwerte Wyveria sich, während immer weitere Feuerrülpser aus ihrem Mund herauskamen, doch die erhoffte große Flamme blieb leider aus.
„Oh weh, ich fürchte, das war keine gute Idee“, sagte Miranda.
„Ich hole dir Wasser. Vielleicht hilft das.“ Draconia ging nach draußen. Netti öffnete das Fenster, denn in der Bibliothek stank es nach Schwefel und Rauch. Wyveria drehte den Kopf hin und her und spuckte einen Feuerrülpser nach dem anderen. „Schlecht!“, klagte sie wieder.
„Ich weiß was wir machen, Du bekommst noch ein Rätsel, dann denkst Du nicht mehr an deinen Bauch“, schlug Netti vor. „Pass auf:
„Komme ich plötzlich vom Himmel
so gibt es viel Geschrei,
Doch bleibe ich lange aus
So sehnt man mich herbei.“
Tatsächlich dachte Wyveria eine Weile gar nicht an ihr Bauchweh. Wieder legte sie ihren Kopf auf die Vordertatzen und begann nachzudenken. Zwar kamen immer noch Feuerrülpser aus ihrem Maul, während sie nachdachte, aber sie schien sie kaum zu bemerken. Es war noch nicht viel Zeit vergangen, als Wyveria sich aufrichtete: „Regen“, sagte sie. „Richtig“, lobte Netti.
Da kam Draconia mit dem Wasser zurück. Wyveria trank einen großen
Schluck, dann noch einen. Sie rülpste wieder, und diesmal kam eine gewaltige
Wolke aus heißem Dampf aus ihrem Maul. „Besser“, sagte Wyveria und legte den
Kopf auf die Vordertatzen.
„He, nicht einschlafen, der Unterricht ist noch nicht vorbei“, versuchte Miranda sie wieder aufzuscheuchen, doch Wyveria rührte sich nicht mehr. „Schlafen!“, dachte sie unwillig, schloss ihre Augen und steckte den Kopf unter einen Flügel.
„Das war’s dann wohl für heute“, sagte Miranda missmutig. „Wenn das so weitergeht, dann besteht sie die Drachenprüfung niemals.“
„Vielleicht geht es morgen ja schon besser“, sagte Netti hoffnungsvoll, doch sie alle machten sich Sorgen, ob der Drachenunterricht immer so erfolglos verlaufen wurde. Missmutig flogen sie nach Hause.
Auch am nächsten Tag trafen sie sich nach der Schule in der Schulbibliothek. Wie am Tag zuvor begann der Unterricht mit dem Flugtraining – Wyveria schlug mit ihren Flügeln heftig auf und ab, und Miranda hatte das Gefühl, der Wind, der dabei entstand, sei noch heftiger als am Tag davor. „Wenn Du so weiter machst, hast Du bald genug Kraft zum Fliegen“, sagte sie.
Beim Feuerspucken waren allerdings keine Fortschritte zu verzeichnen. Nach den Erfahrungen von gestern bekam Wyveria diesmal nur einen einzigen Löffel voll Schwefel, doch die Flamme, die dabei entstand, war kein bisschen größer als zuvor.
„Vielleicht geht es besser, wenn Du die Luft anhältst, bevor Du losspuckst“, schlug Draconia vor. Wyveria versuchte es, aber es half nichts – die Flamme war und blieb nicht größer als die von einem Streichholz.
„Wir versuchen es mal mit Sprechunterricht“, sagte Miranda.
„Ich kann sprechen!“, maulte Wyveria in ihren Köpfen.
„Ja, aber ich meine mit der Stimme.“
„So ein Blödsinn.“ Wyveria sah nicht ein, wozu es gut sein sollte, mit der Stimme zu sprechen, wo sie es doch telepathisch viel besser konnte.
„Große Drachen können das, deshalb musst Du es lernen“, beharrte Miranda. Murrend fügte sich Wyveria.
„Hol tief Luft und dann versuchst Du, ein Geräusch zu machen.“
„Iiiih“, quiekte Wyveria.
„Nicht schlecht“, ermunterte Miranda sie. „Versuch es noch einmal.“
„Iiiiiiiiiiiih“, erklang es wieder, diesmal länger und lauter.
„Sehr gut. Und jetzt versuch einen anderen Laut. Vielleicht Aah?“
„Iiiiiiiiih“, machte Wyveria erneut. So sehr sie sich bemühte, ein anderes Geräusch als ‘Iiih’ kam nicht aus ihrem Mund.
Sie übten eine ganze Weile ohne Erfolg. Dann sagte Wyveria: „Ich will ein Rätsel!“
„Gut, machen wir eine Pause“, stimmte Miranda zu.
„Hier ist dein Rätsel“, sagte Netti:
„Was kalt auf der Erde liegt
Flieht schnell vor meinem Licht
Doch was grün darunter schläft
Erwacht ohne mich nicht.”
Wie immer beim Rätseln legte Wyveria ihren Kopf auf die Tatzen und schloss die Augen. Auch Miranda schloss die Augen und begann zu überlegen, was grün unter der Erde schlafen würde, aber alle Tiere, von denen sie wusste, dass sie unter der Erde in einem Loch schliefen, waren nicht grün. Nachdem sie eine Weile gegrübelt hatte, dachte sie über den anderen Teil des Rätsels nach. Etwas Kaltes, das auf der Erde liegt, das konnte eigentlich doch nur Schnee sein. ‘Schnee schmilzt im Frühling’, dachte Miranda. ‘Und im Frühling kommen die grünen Pflanzen aus der Erde hervor, weil die Samen keimen.’ „Ich hab’s!“, rief sie laut und öffnete die Augen.
Wyveria hatte die Augen ebenfalls bereits geöffnet und schaute Miranda an. „War leicht“, sagte sie dann, „Frühling.“
„Richtig“, bestätigte Netti.
Miranda seufzte. Die Pause war vorbei, nun mussten sie sich wieder mit dem Drachenunterricht befassen. „Ich verstehe nicht, warum das Sprechen nicht klappt“, sagte sie.
„Zum Sprechen braucht man doch die Zunge“, sagte Netti. „Vielleicht muss Wyveria erstmal üben, ihre Zunge richtig zu bewegen.“
„Gute Idee“, meinte Miranda. „Zeig mal Deine Zunge“, sagte Draconia.
Gehorsam streckte Wyveria ihnen ihre Zunge heraus so weit sie konnte. Sie war
lang, dünn und an der Spitze gespalten wie bei einer Schlange.
„Kein Wunder, dass Du mit so einer Zunge nicht richtig sprechen kannst“, sagte Miranda.
„Ich kann sprechen!“, maulte Wyveria schon wieder.
Draconia schaute sich auch Wyverias Mund genau an. „Du kannst ja nicht einmal Deine Lippen bewegen, die sind ja aus harten Schuppen“, stellte sie dann überrascht fest. „Ich frage mich, wie die anderen Drachen es hinbekommen, so zu sprechen, dass man sie hören kann. Die haben doch genau so ein Maul wie Wyveria.“ Doch darauf wusste niemand eine Antwort.
„Langsam mache ich mir wirklich Sorgen“, sagte Miranda niedergeschlagen, als sie nach draußen ging. „Morgen können wir es ja mit Schwimmunterricht versuchen, vielleicht klappt das besser.“ Damit waren alle einverstanden, sogar Wyveria.
Miranda saß mit Wyveria auf dem Arm in ihrem großen Sessel. Sie zitterte immer noch am ganzen Körper vor Wut, Aufregung und auch vor Angst. Der große Drache war furchteinflößend gewesen – als er vor ihr gestanden hatte, hatte sie es kaum bemerkt, weil sie nur daran gedacht hatte, Wyveria zu schützen, aber jetzt wurde ihr klar, wie gefährlich es gewesen war, ihn mit ihrem Zauberstab zu bedrohen. Wyveria kuschelte sich ganz eng an Miranda und versteckte ihren Kopf unter Mirandas Arm. Miranda streichelte über ihre Schuppen und redete beruhigend auf sie ein, so gut sie es vermochte.
Da klopfte es. Miranda schreckte zusammen, aber es waren nur Draconia und Netti, die sie besuchen wollten. Als Netti Miranda sah, sagte sie „Was ist denn mit Dir los? Du bist ja ganz blass.“
„Es ist etwas Schreckliches geschehen“, antwortete Miranda und begann zu erzählen.
Als sie fertig war, sagte Draconia: „Das klingt ja wirklich furchtbar. Von so einem grimmigen Drachen können wir Wyveria nicht großziehen lassen. Außerdem haben wir das Ei gefunden.“
„Ja, es ist einfach ungerecht“, sagte Netti.
„Natürlich ist es das“, sagte Miranda, „aber die Drachen sind viel stärker und mächtiger als wir.“
„Dann müssen wir ihr eben wirklich alles beibringen, was sie wissen muss. Wir können doch eine richtige Drachenschule gründen“, sagte Netti und lächelte ein wenig.
„Ja, schon, aber was müssen wir ihr denn beibringen?“ Auf diese Frage von Draconia wusste niemand eine Antwort. Keinen von ihnen wusste wirklich etwas über Drachenkinder und was sie normalerweise lernten.
„Am besten fliegen wir erst einmal in die Schule. In der Bibliothek stehen doch bestimmt auch Bücher über Drachen. Da muss doch drinstehen, was Drachenkinder so lernen“, schlug Draconia schließlich vor. Und so machten sie sich auf den Weg.
In der Hexenschule angekommen, fingen Miranda und Draconia damit an, alle Bücher über Drachen aus den Regalen zu sammeln. Dann setzten sie sich an den Tisch und begannen zu lesen. Leider waren keine Bücher über Drachenkinder dabei, aber die beiden hofften, dass eines der Bücher trotzdem ein paar Hinweise enthielt.
Während die beiden fleißig lasen, spielte Netti mit Wyveria. Miranda hatte ihr erzählt, was neulich in der Schule passiert war, und so hatte sie einen alten Bleistift hervorgekramt, den sie in der Hand hielt und vor Wyverias Schnauze hin- und herbewegte.
„Schnapp’ ihn Dir“, sagte sie und versuchte, den Bleistift rechtzeitig wegzuziehen, bevor Wyverias scharfe Zähne ihn packen konnten. Beim ersten Mal gelang es ihr noch gut, beim zweiten Mal war es schon ziemlich knapp und Wyverias Zähne schabten einen kleinen Holzsplitter vom Bleistift ab. Beim dritten Mal dann schnappte Wyveria so schnell zu, dass Netti die Bewegung kaum mit den Augen erkennen konnte. So sehr sie es danach auch noch einmal versuchte, Wyveria war einfach schneller.
Nachdem Wyveria den Bleistift noch ein paar Mal erwischt hatte, biss sie schließlich so fest zu, dass er zerbrach. Genüsslich kaute sie eine Weile auf den Stückchen herum, während Netti freundlich mit ihr schimpfte: „und womit sollen wir jetzt spielen? Oder denkst Du, ich habe meine ganze Tasche voller Bleistifte?“ Wyveria aber legte nur den Kopf schief, schaute Netti an, und nachdem sie den Bleistift endgültig in winzige Splitter zerlegt hatte, stand sie auf. Ihre großen schillernden Augen funkelten Netti an. „Fangen!“, hörte Netti Wyverias Stimme in ihrem Kopf, und schon ging die Jagd los.
Netti war schneller als Wyveria, immerhin hatte diese ja gerade erst Laufen gelernt, aber dafür war Wyveria kleiner und vor allem wendiger. Netti hastete hinter ihr her, doch als sie gerade Wyverias Schwanzspitze packen wollte, schlug diese einen Haken und verschwand unter dem Tisch. Auf der anderen Seite kam sie wieder hervor. Netti rannte um den Tisch herum, aber Wyveria kroch zwischen den Beinen von Mirandas Stuhl hindurch, so dass Netti wieder einen Umweg machen musste.
„He!“, rief Miranda, „muss das sein?“, denn Wyveria war gegen sie gestoßen und hatte sie beim Lesen gestört. Mit einem Seufzer wandte Miranda sich wieder ihrem Buch zu, aber kurz darauf wurde sie schon wieder unterbrochen. Wyveria war erneut um den Tisch herumgesaust und versuchte, wieder unter dem Tisch hindurch zu fliehen, als Netti ihr zu nahe kam. Wyveria änderte plötzlich die Laufrichtung und jagte andersherum wieder um den Tisch, Netti versuchte ihr zu folgen. Dabei rutschte sie ein wenig aus und konnte sich gerade noch an Mirandas Stuhl festhalten. Fast hätte sie ihn mitsamt Miranda umgerissen.
„Jetzt ist es aber genug!“, schimpfte Miranda. „Wir versuchen hier zu arbeiten. Spielt gefälligst irgendwas Leises, sonst können wir uns nicht konzentrieren.“
„Ist gut“, antwortete Netti kleinlaut, und Wyveria guckte ein wenig schuldbewusst. „Komm Wyveria, wir setzen uns hier drüben ans Fenster.“ Netti kletterte auf die Fensterbank, so dass die beiden hinausschauen konnten, aber draußen war es dunkel und es gab nicht viel zu sehen. Nach kurzer Zeit wurde es ihnen langweilig. Netti überlegte, was sie tun sollten, um sich die Zeit zu vertreiben.
„Magst Du Rätsel?“, fragte sie. Bei dem Wort „Rätsel“ schnellte Wyverias Kopf zu Netti herum. „Rätsel?“, wiederholte sie nachdenklich, so als hätte das Wort für sie einen besonderen Klang. „Was ist Rätsel?“
„Rätsel sind, naja, es sind irgendwie Sachen zum Nachdenken. Man muss sie lösen“, versuchte Netti zu erklären. Natürlich wusste sie genau, was ein Rätsel ist, aber sie wusste nicht recht, wie sie es erklären sollte. „Am besten stelle ich Dir einfach eins. Pass auf:
Niemals trinke ich,
Alles fresse ich,
Je mehr ich bekomme,
Je schneller verzehre ich,
Wenn alles gefressen ist,
Dann verhungere ich.
Das ist das Rätsel. Du musst herausfinden, was gemeint ist.“
Wyveria schaute Netti an und ihre Augen schienen sich zu verändern, als würde sie in weite Ferne blicken. Dann legte sie den Kopf auf ihre Tatzen und rührte sich nicht mehr. Eine ganze Weile war alles still, nur ab und zu hörte man, wie Miranda oder Draconia eine Buchseite umblätterten oder enttäuscht ein Buch zur Seite legten, um das nächste zu nehmen. Nach eine Weile fragte Netti „Wyveria? Ist alles in Ordnung?“ Wyverias Antwort in ihrem Kopf klang leise und langsam, als wäre sie ganz weit entfernt: „Rätsel lösen.“ So schaute Netti wieder aus dem Fenster und betrachtete den nächtlichen Sternenhimmel.
Nachdem eine ganze Zeit vergangen war, schnellte Wyverias Kopf plötzlich in die Höhe. Ihre Augen schienen ganz groß zu sein, als sie Netti anschaute und sagte „Feuer!“
„Richtig. Du bist ganz schön klug.“
„Noch ein Rätsel!“, forderte Wyveria.
„Leider weiß ich im Moment keins mehr. Aber ich habe das Rätsel von meiner Tante, die kann mir bestimmt noch mehr Rätsel verraten. Morgen kannst Du wieder eins lösen.“
„Rätsel!“, antwortete Wyveria begeistert, und ihr Schwanz schlug aufgeregt hin und her.
In diesem Moment schob Miranda den Bücherstapel weg, der vor ihr auf dem Tisch lag und sagte „Nichts! Ich habe gar nichts über Drachenkinder gefunden, jedenfalls nichts darüber, wann sie was lernen müssen.“
„Ich auch nicht.“ Draconia klang genauso niedergeschlagen wie Miranda.
Für eine Weile sagte niemand etwas. Dann hatte Draconia eine Idee: „Ich weiß, wie wir es machen können. Wir brauchen doch nur zu überlegen, was ein erwachsener Drache alles kann. Das muss Wyveria dann lernen.“
„Das wir darauf nicht gleich gekommen sind.“ Miranda war ein wenig ärgerlich mit sich, aber doch froh, dass sie nun wussten, wie es weiterging. Sie nahm einen Stift und ein großes Blatt Papier und begann zu schreiben, wobei sie laut vorlas: „Feuer spucken. Fliegen.“
„Sprechen“, schlug Draconia vor.
„Ich kann sprechen!“, hörten sie Wyverias entrüstete Stimme in ihren Köpfen.
„Ja, aber ich meine richtig sprechen. Mit einer Stimme die man auch hört.“
„Blödsinn!“, Wyveria klang etwas mürrisch und drehte ihren Kopf weg.
„Laufen und Schwimmen“, sagte Miranda.
„Und in einem Buch stand, dass sie auch zaubern können“, fügte Draconia hinzu.
„Das ist schon ganz schön viel.“ Miranda schaute skeptisch auf ihre Liste.
„Rätsel!“, sagte Wyveria. „Ich will Rätsel lernen.“
„Rätsel?“, sagte Miranda. „Das habe ich aber nirgends gelesen.“
„Ich auch nicht“, stimmte Draconia zu. „Ich glaube nicht, dass Drachen Rätsel lernen.“
„Rätsel!“, sagte Wyveria mit energischer Stimme in ihren Köpfen.
„In Ordnung“, schlug Netti vor, „Wenn Du fleißig lernst, dann bekommst Du zur Belohnung Rätsel von mir.“
„Gut!“, sagte Wyveria. Dann legte sie ihren Kopf auf ihre Tatzen, rollte ihren Schwanz um den Körper und schlief ein. Vorsichtig nahm Miranda sie auf den Arm und sie machten sich auf den Heimweg. Morgen würden sie mit der Drachenschule beginnen.
]]>Einige Nächte waren vergangen. Es war Sonntag. Miranda spielte gerade mit Wyveria, die ein weiteres Stück gewachsen war und inzwischen mühelos laufen konnte. Miranda hielt eine Schnur hoch, damit Wyveria danach schnappen konnte, als Wyveria plötzlich innehielt. Sie schaute nach oben zur Decke, und es schien, als lausche sie.
„Jemand kommt“, sagte sie telepathisch zu Miranda, und sie klang ängstlich dabei.
„Was ist denn?“, fragte Miranda. „Wer soll kommen?“
„Jemand kommt.“ Mehr sagte Wyveria nicht. Miranda ging zum Fenster und schaute hinaus, aber niemand war zu sehen. Sie ging zurück zu Wyveria und wollte sie auf den Arm nehmen, um sie zu beruhigen.
„Jemand kommt. Ich habe Angst“, sagte Wyveria und verkroch sich hinter Mirandas Sessel. „Beruhige Dich doch“, sagte Miranda. „Ich gehe nachsehen.“ Sie öffnete die Tür und sah nach draußen. Auf der Wiese vor dem Baum war niemand zu sehen. Sie schaute in alle Richtungen, aber alles war einsam. Dann bemerkte sie einen Schatten über sich. Sie schaute nach oben und erschrak.
Ein riesiger Drache kreiste über ihrem Haus und landete dann vor dem kleinen Hügel auf der Wiese. Dabei machten seine gewaltigen Schwingen so viel Wind, dass Miranda fast das Gleichgewicht verloren hätte. Der Drache stand auf seinen vier Beinen auf der Wiese, doch er war so groß, dass sein Kopf auf einer Höhe mit Miranda war, die auf dem Hügel vor ihrem Haus stand. Der Drache war braun, und sah auf den ersten Blick Wyveria ähnlich, aber dann bemerkte Miranda auch einige Unterschiede: Sein Kopf war eckiger und schwerer gebaut als Wyverias langgestreckte Schnauze, und er hatte keine Hörner. Der Drache schaute Miranda aus seinen tiefen schwarzen Augen an, die ähnlich schillerten wie die von Wyveria.
„Ich suche ein Drachenkind“, sagte er schließlich mit tiefer Stimme. „Es muss vor kurzem hier geschlüpft sein. Hast Du es gesehen?“
Seine Stimme war so durchdringend und ehrfurchteinflößend, dass Miranda nicht einmal auf die Idee kam, ihn anzulügen. Außerdem schien der Drache ohnehin genau zu wissen, wo Wyveria war. „Ja, Wyveria ist vor einigen Tagen aus ihrem Ei geschlüpft.“
„Gut. Ich werde sie mitnehmen.“
„Mitnehmen? Aber Wyveria gehört doch zu mir.“
„Nein, sie ist ein Drache. Drachen müssen von Wesen ihrer Art großgezogen werden. Das ist Drachengesetz.“
„Aber die Hexe Medea hat das Drachenei doch so versteckt, dass es von einer Hexe gefunden wird, nicht von einem Drachen.“
„Es spielt keine Rolle, wer das Drachenei versteckt hat. Ein Drache muss von Wesen seiner Art aufgezogen werden. So lautet das Gesetz.“
Telepathisch hörte Miranda Wyverias Stimme. „Ich will bei Dir bleiben!“, rief sie kläglich.
„Wyveria will bei mir bleiben“, sagte Miranda.
„Ich habe es gehört. Aber auch das spielt keine Rolle. Das Gesetz muss beachtet werden.“
„Wenn Wyveria nicht mitgehen will, dann bleibt sie hier.“ Miranda fing an, zornig zu werden.
„Lass mich sie sehen“, sagte der Drache. „Ich glaube nicht, dass ein Mensch weiß, wie man sich um einen Drachen kümmern muss.“
Miranda ging ins Haus hinein und nahm Wyveria auf den Arm. Sie wimmerte leise, aber Miranda redete beruhigend auf sie ein. „Ich will Dich nur vorzeigen, damit der braune Drache sieht, dass es Dir bei mir gut geht. Ich lasse ihn Dich nicht mitnehmen, ganz bestimmt nicht.“ Damit ging sie wieder vor die Tür. Wyveria schaute den braunen Drachen an, dann zischte sie wütend und breitete ihre Flügel aus.
„Es ist ein Bronzedrache“, sagte der braune Drache. Seine Stimme klang erstaunt.
„Natürlich ist sie das“, sagte Miranda. „Und sie hat gesagt, dass sie bei mir bleiben will.“
„Nein. Das Drachengesetz muss erfüllt werden.“
‘Was kann ich nur tun?’ dachte Miranda verzweifelt. ‘Ich kann doch die arme Wyveria nicht mit ihm fortgehen lassen, wenn sie nicht will. Womöglich sehe ich sie nie wieder.’ Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten, doch dann fiel ihr etwas ein. „Euer Drachengesetz kann gar nicht erfüllt werden“, sagte sie dann. „Wyveria ist der Letzte der Bronzedrachen. Also kann sie gar nicht von einem Wesen ihrer Art aufgezogen werden, denn es gibt keine anderen Bronzedrachen mehr.“
„Aber sie muss trotzdem von Drachen großgezogen werden, auch wenn sie von einer anderen Art sind.“
„Nein“, sagte Miranda so energisch sie konnte. „Wenn Wyveria bei mir bleiben will, dann bleibt sie auch.“
„Du wirst sie mir jetzt übergeben“, sagte der Drache mit grollender Stimme und dann richtete er sich zu seiner ganzen Größe auf und breitete seine Schwingen aus. Sein Kopf ragte höher auf als die Spitze von Mirandas Wohnbaum und unter jeder seiner Schwingen hätte ihr ganzes Haus Platz gehabt. Dann streckte er eine seiner Vordertatzen nach Wyveria aus. Die Tatze hatte vier Zehen mit Krallen, von denen jede so lang war wie Mirandas Unterarm. Der Anblick war so furchterregend, dass Wyveria von Mirandas Arm heruntersprang und ins Haus rannte.
Auch Miranda bekam Angst, doch ein anderes Gefühl war noch stärker und sie zog ihren Zauberstab. „Was fällt Dir ein?“, schrie sie wütend. „Wyveria so zu erschrecken! Du hast wohl gar keine Ahnung, wie man mit Kindern umgeht. Von jemandem wie Dir lasse ich sie nicht großziehen. Und jetzt verschwinde, bevor ich Dich verzaubere.“ Später wusste Miranda nicht mehr, ob es mutig oder eher wahnsinnig von ihr gewesen war, den Drachen so anzuherrschen. Immerhin war er so groß, dass er sie mühelos mit einem Haps hätte verschlingen können, von seinem Feueratem, den er sicherlich hatte, gar nicht zu reden. Aber ihre Wut war größer als ihre Vernunft.
„Was tust Du?“, grollte der Drache. „Weißt Du nicht, dass Deine Zauber mir nichts anhaben können? Aber das Gesetz muss erfüllt werden, sonst kann großes Unheil entstehen. Ein Drache muss von Wesen seiner Art großgezogen werden, damit er alles lernen kann, was ein Drache wissen muss.“
„Wenn das alles ist! Ich kann ihr auch alles beibringen.“
„Kannst du das? Das glaube ich kaum. Aber gut, wir werden es prüfen: Heute in einem Monat wird der große Drachenrat einberufen werden. Komme mit Wyveria bei Sonnenaufgang dorthin, dann werden wir sie prüfen. Wenn sie beherrscht, was ein Kind in ihrem Alter gelernt haben muss, dann darf sie bei dir bleiben.“
Ohne ein Wort des Abschieds breitete der braune Drache seine Flügel aus. Er machte einen Satz in die Luft und flog mit kräftigen, langsamen Schlägen seiner Flügel davon.
Miranda ging zurück ins Haus. Ihre Knie zitterten von der aufregenden Begegnung. „Er ist weg“, sagte sie zu Wyveria, die ängstlich unter dem Schrank hervorkroch. „Immerhin, Du darfst erst einmal bei mir bleiben.“ Aber als sie Wyveria auf den Arm nahm wurde ihr klar, dass sie keine Idee hatte, was ein Drachenkind lernen musste.
]]>
Nachdem der Schulunterricht zu Ende war, begleitete Draconia Miranda nach Hause. Wie zuvor saß Wyveria auf Mirandas Arm und hatte ihren Schwanz um sie geschlungen. Sie flatterte aufgeregt mit den Flügeln herum, als ein plötzlicher Windstoß sie erfasste. Wyveria wurde ein Stück in die Höhe gezogen und flatterte noch aufgeregter.
„He, lass dass!“, rief Miranda, denn die Sicht war ihr durch die Drachenflügel versperrt. Wyveria aber hörte nicht auf.
„Vorsicht, Miranda!“, hörte sie Draconia rufen. Miranda schob den störenden Drachenflügel zur Seite und erschrak: Sie raste direkt auf einen Baum zu. Miranda legte sich in die Kurve, um den Besen vorbeizulenken. Es gelang ihr, aber die schnelle Wendung hatte Wyveria weiter aus dem Gleichgewicht gebracht, und sie fiel nach unten. Zum Glück wurde sie von ihrem Schwanz gehalten, der ja immer noch um Mirandas Arm gewickelt war, doch nun zerrte ihr ganzes Gewicht an
Miranda und der Besen begann zu trudeln. „Hilfe!“, rief Wyveria in Mirandas Kopf, denn sie konnte sich mit ihrem Schwanz nicht mehr lange halten. Miranda ließ den Besen für einen Moment los und flog freihändig. Sie beugte sich zur Seite, zog Wyveria wieder auf ihren Arm und hielt sie so fest sie konnte, während sie den Besen wieder gerade richtete. Das war gerade noch einmal gut gegangen.
„Du musst vorsichtiger sein, wenn wir fliegen“, sagte sie zu Wyveria. Diese antwortete nicht.
Kurze Zeit später waren sie am Haus angekommen. „Darf ich heute Wyveria füttern?“, fragte Draconia.
„Ich weiß nicht, ob das geht“, sagte Miranda, doch als sie Draconias enttäuschtes Gesicht sah, meinte sie, „wir können es ja versuchen.“
Miranda setzte sich mit Wyveria in ihren Sessel, während Draconia Fleisch aus der Küche holte. Sie schnitt es in kleine Stücke, ging zu Wyveria und hielt ihr ein Stück Fleisch hin. Wyveria beäugte Fleisch und Draconia misstrauisch. „Nimm ruhig“, ermutigte Miranda sie, „Draconia tut dir nichts.“
Wyveria schaute Miranda für einen Moment in die Augen, dann ruckte ihr Kopf herum und sie riss Draconia das Fleischstück aus der Hand. Beim zweiten Mal ging es schon einfacher, sie zögerte kaum noch. Und schließlich ließ sie sich von Draconia genauso füttern wie sonst von Miranda: Kleine Fleischstücke schnappte sie und schluckte sie gleich hinunter, größere Stücke hielt sie zwischen den Vordertatzen und riss selbst mit ihren Zähnen Stückchen davon ab. Schließlich aber schien sie genug zu haben und sie drehte den Kopf zur Seite.
„Ich glaube, sie ist satt“, sagte Draconia und stand auf, um das restliche Fleisch in die Küche zurückzubringen. Da hörte sie eine Stimme, die „Danke“ sagte. „Hast Du das gehört?“, fragte Draconia.
„Was denn?“, fragte Miranda.
„Wyveria hat ‘Danke’ gesagt.“
„Das ist ja toll – ich wusste gar nicht, dass sie auch mit jemandem anders als mit mir sprechen kann. Die Hexenlehrerin hat doch gesagt, Drachen sind telepathisch mit dem ersten, dem sie beim Schlüpfen begegnen.“
„Vielleicht hat sie sich geirrt – ich glaube nicht, dass die Lehrerin sehr viel Erfahrung mit Drachen hat.“
Wyveria hatte das Gespräch der beiden anscheinend mit angehört, jedenfalls war sie ihm mit ihren Augen aufmerksam gefolgt. Jetzt aber begann sie, auf Mirandas Arm herumzuzappeln. Behutsam setzte Miranda sie auf den Boden.
Wyveria machte vorsichtig ein paar Schritte, die immer sicherer wurden. Miranda staunte, wie schnell Wyveria laufen gelernt hatte, und schaute neugierig zu, was Wyveria machte. Als erstes kroch sie unter den Tisch und schaute ihn sich aufmerksam von unten an. Dann ging sie hinüber zum Schrank. Sie steckte ihren Kopf unter den Schrank und nieste, als sie etwas Staub aufwirbelte. Sie ging weiter, auf den Ofen zu. Neferti, die dort lag und vor sich hin döste, öffnete ihre Augen und schaute sie argwöhnisch an. Wyveria machte noch einen Schritt und steckte ihre Schnauze in Neferti’ Futternapf. Das wollte sich die Katze nun doch nicht gefallen lassen. Sie sprang auf und fauchte Wyveria böse an. Wyveria schaute zu Neferti hinüber und blickte ihr in die Augen. Für eine Weile beäugten sich die beiden stumm, dann ging Wyveria zurück zu Miranda.
„Die ist komisch. Die denkt ganz anders als du.“
„Ja, das ist eine Katze, die sind anders als Menschen.“
„Bin ich auch ein Mensch?“
„Nein, Du bist ein Drache.“
„Warum ist dann meine Mutter kein Drache?“
„Doch“, sagte Miranda, „Deine Mutter ist schon ein Drache. Aber ich bin nicht wirklich Deine Mutter.“
Miranda erklärte, dass Wyverias Mutter, die ihr Ei gelegt hatte, nicht mehr da sei. Sie war ein wenig besorgt, dass Wyveria traurig werden würde, aber diese ging ruhig zu ihr und ließ sich auf den Arm nehmen, während Miranda begann, die Geschichte von Medeas Schatz zu erzählen, den sie, Netti und Draconia nach langer Schatzjagd in einem Vulkan gefunden hatten, ohne zu ahnen, dass der Schatz ein Drachenei sein würde. Doch sie war noch nicht sehr weit gekommen, als sie merkte, wie Wyveria auf ihrem Arm immer ruhiger wurde. Kurze Zeit später war sie eingeschlafen.
]]>Ein paar von Euch scheinen die Geschichten um Miranda und ihre Freundinnen ja gern zu lesen, also gibt es jetzt das zweite Buch – es zeigt sich, dass es gar nicht so leicht ist, ein Drachenkind großzuziehen.
Es war Mittag. Die kleine Hexe Miranda lag friedlich in ihrem Bett und schlummerte. Am Tag zuvor erst war das Drachenbaby Wyveria aus seinem Ei geschlüpft. Miranda hatte aufregende Stunden verbracht, um Wyveria zu pflegen und zu füttern und war sogar mit ihr in der Schule gewesen. Nach all der Anstrengung war sie nun eingeschlafen – auf der einen Seite an Wyveria, auf der anderen an Neferti, ihre Katze, gekuschelt.
Ein lautes Heulen riss Miranda aus dem Schlaf. „Hunger!“, hörte sie Wyverias Stimme in ihrem Kopf. Miranda setzte sich auf. Wyveria war wach und schaute sie aus ihren großen, schillernden Drachenaugen an. „Hunger!“, wiederholte sie wieder. Neferti schlug ein Auge auf und warf den beiden einen vorwurfsvollen Blick zu, dann rollte sie sich wieder ein und schlief weiter. Miranda kletterte aus dem Bett, Wyveria auf dem Arm haltend, und ging mit ihr in die Küche. Wie in der Nacht zuvor fütterte sie Wyveria mit Fleischbrocken. Auch diesmal hielt Wyveria das Fleisch zwischen ihren Vordertatzen und biss große Stücke heraus. Miranda hatte das Gefühl, dass sie sich dabei schon geschickter anstellte als gestern.
Nach einer Weile drehte Wyveria den Kopf weg. Das war ein sicheres Zeichen dafür, dass sie satt war. Doch noch bevor Miranda das Fleisch zur Seite räumen konnte, hörte sie schon wieder Wyverias telepathische Stimme: „Durst!“, beklagte sie sich diesmal. Miranda goss etwas Milch in eine Schale. Am Tag zuvor hatte Wyveria die Milch zwar abgelehnt, aber da war sie ja auch hungrig gewesen, nicht durstig. Sie hielt Wyveria die Schale hin, doch die schnupperte nur einmal daran und drehte dann den Kopf weg. „Durst!“, sagte sie erneut.
Miranda goss die Milch in den Ausguss und spülte die Schale mit Wasser aus. Wyveria, die immer noch auf ihrem Arm saß, drehte den Kopf herum und steckte ihre Zunge ins Waschwasser. „Ach so, Du magst Wasser“, sagte Miranda und füllte die Schale mit Wasser voll. Wyveria schlabberte das Wasser auf, wobei sie einiges verschüttete. Das war nicht überraschend, schließlich war es ja das erste Mal in ihrem Leben, dass sie etwas trank, und sie musste natürlich erst üben.
Als sie sich satt getrunken hatte, begann Wyveria, auf Mirandas Arm herumzuzappeln. Miranda setzte sie vorsichtig auf den großen Tisch, und Wyveria versuchte aufzustehen. Anders als am Tag zuvor gelang es ihr, wenn auch etwas wacklig, sofort. Dann nahm sie vorsichtig einen Fuß nach oben und versuchte einen Schritt zu machen. Natürlich verlor sie sofort das Gleichgewicht und kippte nach vorn. Sie wäre auf die Nase gefallen, wenn sie sich nicht mit einem Flügel abgestützt hätte, den sie schnell ausbreitete als wäre er ein weiteres Bein. Dann stellte sie sich wieder gerade hin und versuchte es erneut. Auch beim zweiten und dritten Mal schaffte sie es nicht, einen Schritt zu machen, doch sie versuchte es wieder und wieder, bis es schließlich klappte. Wyveria stakste auf dem Tisch einige Schritte vorwärts und wäre beinahe über die Tischkante gestolpert – Miranda konnte sie gerade noch festhalten. Als sie wieder sicher auf dem Tisch war, breitete Wyveria ihre Flügel aus und schlug ein paar Mal auf und ab. Sie machte viel Wind, aber sie erhob sich nicht in die Luft. Eine Weile amüsierte sich Wyveria auf diese Weise, dann faltete sie ihre Schwingen wieder ein. Sie lief zu Miranda und krabbelte auf ihren Arm. Dort angekommen gähnte sie einmal herzhaft und war schon wieder eingeschlafen. Auch Miranda gähnte. Immerhin war es mitten am Tag, also Schlafenszeit für alle Hexen. Sie kletterte die Leiter wieder nach oben und schlief gleich wieder ein.
Als Miranda wieder aufwachte, wurde es draußen bereits dunkel. Zeit, aufzustehen und sich für die Schule fertig zu machen. Sie reckte sich und sah, dass sie allein im Bett lag. Ein Schreck durchfuhr sie. Dass Neferti aufstand, um anderswo weiterzuschlafen, war nicht ungewöhnlich, aber wo war Wyveria? ‘Ist sie aus dem Bett gefallen?’ dachte Miranda ängstlich und schaute nach unten, doch auch dort keine Spur eines Drachenbabys. Miranda schaute sich suchend im Zimmer um, und als sie Wyveria nirgends sehen konnte, wurde sie immer ängstlicher. Dann sah sie einen kleinen Hügel unter der Decke am Fußende des Bettes. Vorsichtig schaute sie darunter. Tatsächlich, es war Wyveria, die sich dort zusammengerollt hatte.
Miranda kletterte aus dem Bett und machte Spätstück für sich und Neferti. Als sie sich gerade an den Tisch setzte, um ihren Hexentee zu trinken, hörte sie ein Geräusch von ihrem Bett. Wyverias Kopf schaute über die Brüstung des Bettes nach unten ins Zimmer. „Hunger!“, hörte Miranda schon wieder. „Du bist wirklich ein kleiner Vielfraß!“, lachte Miranda und hob Wyveria vom Bett herunter, um sie zu füttern. Nachdem sie selbst zu Ende gefrühstückt hatte, machte sie sich auf den Weg in die Schule.
Als Miranda mit Wyveria vor der Hexenschule landete, scharten sich die anderen Kinder sofort um sie. Alle wollten Wyveria aus der Nähe betrachten und drängten sich so dicht wie möglich an Miranda heran.
„Darf ich sie streicheln?“
„Kann ich mal ihre Flügel sehen?“
„Hat sie wirklich so schöne Augen?“ Alle fragten und redeten wild durcheinander. Wyverias Kopf schnellte von einer Seite zur anderen, dann zischte sie böse. „Geht doch ein bisschen zurück. Ihr erschreckt sie ja“, bat Miranda und versuchte Wyveria zu beruhigen. Als die Kinder etwas mehr Abstand hatten, hörte Wyveria auf zu zappeln und zu zischen und ließ sich von den Kindern betrachten. Dann klingelte es.
Wyveria saß während der Unterrichtsstunde auf Mirandas Arm und schaute sich wieder neugierig um. Als Miranda etwas aufschreiben musste, setzte sie Wyveria neben sich auf den Tisch und nahm ihr Schreibzeug heraus. Kaum hatte sie ihren Bleistift in die Hand genommen und begonnen, zu schreiben, schoss Wyverias Kopf nach vorn. Mit ihren Zähnen packte sie den Bleistift und zog daran. „Lass das!“, sagte Miranda leise und versuchte, den Bleistift festzuhalten. Doch Wyveria schien das für eine Art Spiel zu halten und zog ebenfalls stärker. „Gib doch her“, sagte Miranda leise, „ich muss doch schreiben.“ Aber Wyveria hörte nicht auf.
„Gib Deinem Drachen den Bleistift und nimm Dir einen neuen“, mischte sich die Hexenlehrerin ein. Also ließ Miranda ihren Bleistift los und kramte einen anderen heraus. Während Miranda mit dem neuen Stift schrieb, kaute Wyveria auf ihrem Stift herum. Mit ihren scharfen Zähnen dauerte es nicht lange, bis sie ihn in der Mitte durchgebissen hatte. Sie biss und kaute weiter auf den Bruchstücken herum, so dass schließlich nur noch Holzspäne übrig waren.
In der großen Pause kam Draconia zu Miranda und Wyveria. Sie schaute Wyveria genau an und meinte dann: „Ich glaube, sie ist gewachsen.“
„Meinst Du?“, fragte Miranda und schaute dann selbst hin. Tatsächlich, jetzt, wo sie darauf achtete, kam es ihr auch so vor, als wäre Wyveria etwas größer geworden. ‘Wie groß sie wohl werden wird?’, fragte Miranda sich im Stillen.
„Groß“, hörte sie plötzlich Wyverias Stimme. Miranda schreckte zusammen. Ohne etwas zu sagen, dachte sie ‘Kannst Du hören, was ich denke?’
„Natürlich! Du denkst laut.“
‘Ui,’ dachte Miranda. ’Wie groß wirst Du denn nun werden?’, fragte sie dann. „Groooß!“, antwortete Wyveria langsam, und dann hörte Miranda etwas, das wie ein leises Lachen klang.
Wyveria döste ein, so dass Miranda sich auf den Unterricht konzentrieren konnte. Die Stunde war etwa halb vergangen, als ihre Stimme wieder in Mirandas Kopf war: „Ich habe Hunger.“ Miranda war verblüfft – anscheinend konnte Wyveria schon viel besser sprechen als noch am Tag zuvor. ‘Gleich,’ dachte sie im Stillen, ‘der Unterricht ist ja bald zu Ende’. „Gut“, lautete die Antwort. Wie es aussah, hatte Wyveria nicht nur besser Sprechen, sondern auch etwas Geduld gelernt.
Schließlich kam die zweite große Pause. Miranda ging mit Wyveria in die Küche der Hexenschule.
„Dürfen wir zusehen, wie Du sie fütterst?“
„Ja, bitte.“
„Ich will auch zugucken.“ Wieder riefen alle Kinder durcheinander.
„Ich will aber nicht, dass sie sich wieder erschreckt“, sagte Miranda. „Am besten gucken jede Pause nur zwei von Euch zu.“ Miranda wählte zwei ihrer Klassenkameradinnen aus, die anderen gingen etwas enttäuscht auf den Schulhof. Wie zuvor fütterte Miranda Wyveria mit Fleisch und Wasser. Und wie zuvor wurde Wyveria danach unruhig und wollte auf den Boden gesetzt werden. Sie machte ein paar Schritte, die schon viel sicherer wirkten als beim letzten Mal, dann nahm sie den Kopf hoch und machte ein Geräusch, das klang, als würde sie niesen.
„Ich will Schwefel!“, hörte Miranda sie telepathisch. „Schwefel?“ fragte sie verblüfft.
„Ich will Schwefel!“, wiederholte Wyveria. Schwefel gehörte natürlich zu den Dingen, die in einer Hexenschule leicht zu bekommen waren. Miranda holte etwas Schwefel aus den Vorräten für die Hexentränke und hielt Wyveria einen Löffelvoll hin. Diese nahm zwei Maulvoll, schluckte den Schwefel herunter und nahm wieder ihren Kopf zurück. Erneut kam das Niesgeräusch, aber diesmal schoss eine winzig kleine Flamme aus ihrem Maul, viel kleiner noch als eine Streichholzflamme. Man konnte sie kaum erkennen, aber Miranda war trotzdem begeistert. „Du bist ja ein richtiger Drache! Du kannst ja Feuer spucken!“, rief sie.
„Natürlich!“, lautete Wyverias Antwort, und sie klang sehr zufrieden dabei.
Nachdem Wyveria eingeschlafen war, konnte Miranda Draconia ausführlich erzählen, wie Wyveria geschlüpft war. Noch einmal betrachteten sie sie ganz in Ruhe: Ihre Schnauze war spitz, ihre Augen, die jetzt fest geschlossen waren, groß und rund, und am Ende des Kopfes saßen zwei kleine Hörner. Ohren konnte man keine erkennen. Für einen Moment fragte Miranda sich, ob sie dann überhaupt hören konnte, aber dann fiel ihr ein, dass man auch bei Vögeln oder Eidechsen keine Ohren sehen kann. Wyverias Hals war lang und hatte Zacken auf der Oberseite, die sich auch auf Rücken und Schwanz fortsetzten. Ihre vier Beine hatte Wyveria eingeklappt, ebenso wie die beiden Flügel, die oben am Rücken saßen und die Miranda vorher gar nicht richtig bemerkt hatte. „Ob sie irgendwann fliegen kann?“, fragte Miranda.
„Ich weiß nicht“, sagte Draconia. „In den Geschichten können Drachen fliegen, aber wie es bei echten Drachen ist…?“
Miranda gähnte. Immerhin hatte sie ja heute noch nicht geschlafen, und nach all der Aufregung war sie nun müde geworden. Sie lehnte sich im Sessel zurück und schlief mit Wyveria auf den Arm ein.
Als es Abend wurde, klopfte es an der Tür. Draconia öffnete. Netti war als Ablösung gekommen. Ihr Blick fiel auf Miranda und Wyveria, die immer noch im Sessel saßen, und vor Staunen blieb ihr Mund offen stehen und ihre Augen wurden kugelrund. Draconia erzählte ihr leise, was passiert war.
Kurz darauf weckten sie Miranda, denn es war Zeit, sich für die Schule fertigzumachen. Sie spätstückten – da Hexen abends munter werden, kann man bei ihnen ja nicht von Frühstücken reden – und Wyveria fing wieder an, sich zu beklagen: „Hunger!“ Also fütterten sie sie mit dem Rest des Bratens, den sie gierig auffraß. „Wir müssen nachher im Dorfladen unbedingt Fleisch besorgen“, sagte Miranda.
„Komm, wir müssen los“, sagte Draconia.
„Dann gebe ich Dich jetzt an Netti weiter“, sagte Miranda und wollte Wyveria in Nettis Arme legen. Ängstlich klammerte sich Wyveria an Mirandas Arm fest, mit allen vier Beinen und auch mit dem Schwanz, den sie um Mirandas Unterarm wickelte. „Nicht allein!“, schrie ihre Stimme in Mirandas Kopf.
„Ich glaube, sie hält Dich für ihre Mutter“, meinte Netti. „Ich denke nicht, dass ich sie nehmen kann.“
„Dann musst Du sie mit zur Schule nehmen“, sagte Draconia. „Anders geht es nicht.“
Miranda hängte sich ihre Schultasche um und sie gingen nach draußen. Wyveria, die sich wieder beruhigt hatte, als sie merkte, dass sie bei Miranda bleiben durfte, schaute sich mit ihren großen Augen neugierig um. Sie drehte den Kopf in alle Richtungen, um die Welt draußen genau zu betrachten. Miranda stieg auf ihren Besen und flog los. Kaum waren sie in der Luft, da begann auch Wyveria, mit ihren kurzen Flügeln auf und ab zu schlagen, so, als wollte sie ebenfalls fliegen. Dabei zappelte sie wild herum und rutschte plötzlich ab. Miranda griff nach ihr, doch das war nicht so einfach, denn sie musste ja noch den Besen lenken. Zum Glück aber hatte Wyveria ihren Schwanz immer noch um Mirandas Arm geschlungen. Für einen Moment baumelte sie, wild zappelnd und um sich schlagend, nach unten, dann konnte Miranda sie wieder hochziehen.
Natürlich kamen sie zur spät in der Schule an. Der Unterricht hatte bereits begonnen, als Miranda und Draconia das Klassenzimmer betraten. Die Hexenlehrerin schaute die beiden streng an: „Ihr kommt spät“, sagte sie vorwurfsvoll. Dann bemerkte sie, das Miranda etwas auf dem Arm trug. „Was hast Du denn da?“, fragte sie überrascht.
„Es ist ein Drachenbaby“, antwortete Miranda. „Draconia, Netti und ich haben ein Drachenei gefunden, und heute morgen ist es geschlüpft.“ Die drei Hexenkinder durften erzählen, wie sie das Drachenei gefunden hatten. Die Hexenlehrerin schien sehr beeindruckt zu sein von allen Abenteuern, die sie erlebt hatten.
„Soweit ich weiß, kommt es nur sehr selten vor, dass ein Drache nicht von anderen Drachen aufgezogen wird. Du hast da eine große Verantwortung auf Dich genommen“, sagte die Lehrerin zu Miranda, nachdem alle ihre Erzählung beendet hatten.
„Ich?“, fragte Miranda. „Wir alle sind doch für Wyveria verantwortlich.“
„Aber du warst dabei, als sie geschlüpft ist, und ich glaube, deshalb hast du ein besonderes Verhältnis zu ihr. Du hast es schon gemerkt, denn Du kannst Dich mit ihr verständigen. Man nennt das ‘Telepathie’, und anscheinend sind Drachenkinder telepathisch mit der Person, die dabei ist, wenn sie schlüpfen.“
„Ich verstehe“, sagte Miranda, und ihr war ein bisschen mulmig zumute. Würde sie es wirklich schaffen, ein Drachenkind großzuziehen? Dann fiel ihr Blick wieder auf Wyveria, die sie voller Vertrauen aus ihre großen schillernden Augen ansah, und sie wusste, dass sie alles für Wyveria tun würde.
Schließlich ging der Unterricht weiter. Miranda war natürlich nicht so aufmerksam wie sonst, sondern schaute immer wieder auf Wyveria. Diese saß auf dem Tisch neben Miranda, ihren Schwanz um Mirandas Oberarm geschlungen, und schaute aufmerksam zu. Immer wenn jemand etwas sagte, ruckte ihr Kopf zur Sprecherin herum.
Nach einer Weile wurde Wyveria unruhig. Sie rutschte auf ihrem Platz hin und her – gehen konnte sie ja noch nicht –, dann sah sie Miranda an. „Hunger!“, hörte Miranda ganz deutlich in ihrem Kopf. „Ich kann jetzt nicht“, sagte Miranda so leise sie konnte. „Du musst bis zur Pause warten.“
„Hunger!“, ertönte Wyverias Stimme wieder in Mirandas Kopf. Miranda streichelte sie, um sie zu beruhigen, doch es half nichts.
„HUNGER! HUNGER!“, dröhnte die telepathische Stimme. Miranda seufzte. Dann meldete sie sich und bat um Erlaubnis, ihr Drachenkind füttern zu dürfen. Die Hexenlehrerin erlaubte es ihr.
Zum Glück hatte die Hexenschule auch eine Küche, und dort fand Miranda sogar ein Stück Schinken, mit dem sie Wyveria füttern konnte. Als Wyveria satt war, rollte sie sich auf Mirandas Arm ein und schlief wieder ein. Miranda ging zurück ins Klassenzimmer.
Nach der Schule flog Miranda mit Draconia nach Hause. Wyveria schlief immer noch auf ihrem Arm. Zu Hause angekommen wollte Miranda in die Küche gehen, um sich ums Essen zu kümmern. „Vielleicht kann ich Wyveria ja doch einmal zur Seite legen“, dachte sie, denn ihr Arm wurde vom Gewicht des Drachenkindes inzwischen lahm und müde. Vorsichtig legte sie Wyveria auf den Sessel und schlang ihren Schwanz von ihrem Unterarm, ohne Wyveria aufzuwecken. In der Küche fiel ihr wieder ein, dass ihre Fleischvorräte aufgebraucht waren. Draconia machte sich auf den Weg ins Hexendorf, um einzukaufen, während Miranda anfing zu kochen. Sie hatte gerade damit begonnen, Kartoffeln zu schälen, als sie einen entrüsteten Schrei hörte: „Allein!“, rief Wyverias telepathische Stimme, und aus dem Wohnzimmer kam ein wütendes Drachenzischen.
„Ist ja schon gut, ich komme“, seufzte Miranda und ging zurück um Wyveria auf den Arm zu nehmen. So gut sie konnte, versuchte sie weiterzumachen, aber es war schwierig, mit Wyveria auf dem Arm eine Kartoffel festzuhalten, und sie kam nur langsam voran. Wyveria, die nun ganz wach war, schaute aufmerksam auf das Schälmesser, und Miranda machte sich Sorgen, dass sie danach schnappen und sich verletzen würde.
Da klopfte es zum Glück an der Tür. Netti war gekommen. „Gut, dass du da bist“, begrüßte Miranda sie. „Mit Wyveria auf dem Arm kann ich kaum etwas machen.“ Also ging Netti in die Küche und übernahm das Kochen – sie war zwar noch recht klein, aber Hexenkinder beginnen mit dem Kochen Lernen bereits kurz nachdem sie laufen können.
Draconia kam aus dem Hexendorf zurück. Sie hatte drei große Braten gekauft. Als sie mit dem Fleisch in die Küche kam, ruckte Wyverias Kopf zu ihr herum. Sie schnupperte einmal, dann sagte sie „Hunger!“. Draconia schnitt mit einem Messer ein Stück Braten ab und hielt es ihr hin. Wyveria schaute auf den Braten, dann fauchte sie und drehte ihren Kopf zu Miranda. „Hunger!“, beschwerte sie sich wieder.
„Ich glaube, ich muss sie füttern“, sagte Miranda seufzend. Sie ließ sich von Draconia das Fleischstück geben und hielt es Wyveria hin. Wyverias Kopf schnellte vor und sie riss das Stück aus Mirandas Hand. Mit den Vordertatzen hielt sie es fest und biss einen Happen nach dem anderen ab. Als sie satt war, erwartete Miranda, dass sie nun wieder einschlafen würde, doch das tat sie nicht. Stattdessen zappelte sie auf Mirandas Arm herum und versuchte, ihre Beine zu strecken. Schließlich wurde Miranda das Gezappel zu viel und sie setzte Wyveria auf den Boden.
Wyveria streckte ihre Beine erneut, erst die Vorderbeine, dann eines der Hinterbeine. Dabei geriet sie aus dem Gleichgewicht und fiel um. Sie versuchte es erneut. Wieder verlor sie fast das Gleichgewicht, schlug heftig mit den Flügeln und schaffte es dann, für einen Moment auf vier Beinen zu stehen. Dann kippte sie wieder um. Beharrlich versuchte sie es von Neuem. Schließlich gelang es ihr aufzustehen und stehenzubleiben. Ihre Beine schienen noch etwa wackelig, aber sie stand da und schaute sich stolz um. Dann legte sie sich wieder auf den Boden und schaute Miranda auffordernd an. Diese nahm sie wieder auf den Arm, wo Wyveria sich zufrieden wieder einrollte und einschlief.
Nachdem sie alle etwas gegessen hatten, überkam auch Miranda eine tiefe Müdigkeit. Sie verabschiedete sich von ihren Freundinnen und machte sie sich bettfertig so gut es mit dem Drachenkind auf dem Arm eben ging. Schließlich aber lag sie in ihrem Hochbett. Neferti kam angelaufen und sah, dass Wyveria neben Miranda im Hochbett lag, genau an der Stelle, an der sie sonst zu liegen pflegte. Sie fauchte Wyveria eifersüchtig an. „Tut mir Leid, Neferti, aber Wyveria ist noch ein Baby.“ Miranda streichelte Neferti über den Kopf, um sie zu trösten, dann legte Neferti sich auf Mirandas andere Seite und kuschelte sich dort ein. Miranda schloss die Augen. War es wirklich erst am vergangenen Morgen gewesen, dass Wyveria geschlüpft war? Sie konnte es kaum glauben. ‘Wie es wohl wird, wenn Wyveria größer geworden ist?’, überlegte sie und stellte sich vor, welche Abenteuer sie mit Wyveria noch erleben mochte. Dann schlief sie zufrieden ein.
Tja, und damit endet diese Geschichte. Wenn unser (nicht immer ganz zuverlässiges) Klickzählsystem recht hat, dann liest hier eigentlich niemand mehr mit, oder? Falls ich mich irre und doch jemand wissen will, wie es weitergeht, dann hinterlasst doch einen Kommentar oder schreibt mir auf Twitter (@Drachenblog).
]]>Für die Hexenkinder begann eine Zeit des Wartens. Reihum hielten sie bei dem Ei Wache – tagsüber wechselte sich Miranda mit Draconia ab, nachts übernahm Netti die erste Wache, bis Miranda und Draconia aus der Schule kamen. Jede Stunde kontrollierten sie die Temperatur, aber bisher war der Wassertropfen noch immer nach einem kurzen Moment verdampft, das Ei hatte also immer noch die richtige Temperatur. Miranda fand es erstaunlich, dass die Lava so lange heiß blieb, aber vielleicht hatte Gneis ihnen ja eine ganz besondere Lavasorte gegeben.
Jedesmal, wenn Miranda wieder an der Reihe war, schaute sie sich das Ei genau an, und jedesmal waren die goldenen Flecken auf der Schale etwas größer als zuvor. Im Pflegebuch stand, dass das Drachenkind erst schlüpfen würde, wenn die ganze Schale golden geworden war, und das konnte noch eine ganze Zeit lang dauern.
Eines Tages, nachdem etwa eine Woche vergangen war, merkte Miranda, dass die Lava nun doch abgekühlt war. Der Wassertropfen, den sie auf die Eischale tropfte, tanzte auf der Schale herum und wurde nur noch sehr langsam kleiner. Miranda hatte längst bis zehn gezählt, aber der Tropfen war immer noch da. Sie überlegte, wie sie die Lava aufheizen sollte. Sie nahm glühende Kohlen aus ihrem Ofen und legte sie auf die Lava, doch die Kohlen strahlten immer noch weniger Hitze aus, als es die Lava tat. So ging es jedenfalls nicht. Miranda überlegte weiter. Dann fiel ihr etwas ein: Wenn Drachen ihre Eier ausbrüteten, dann taten sie es bestimmt mit ihrem Feuer. Gewöhnliches Feuer reichte anscheinend nicht aus, um die Lava genügend aufzuheizen, aber vielleicht war ja Drachenfeuer heiß genug?
Sie kramte eine Weile in ihren Zauberbüchern herum, dann wurde sie endlich fündig. Es gab tatsächlich einen Zauberspruch, mit dem sie Drachenfeuer zaubern konnte. Sie trat neben die Lava-Schale und probierte den Spruch aus. Die Spitze ihres Stabes begann zu leuchten. Schnell wurde das Licht heller und heller, so gleißend, das Miranda nicht hineinsehen konnte. Dann schoss ein gewaltiger Feuerstrahl aus dem Stab und hüllte die Lavaschale und das Drachenei ein. Miranda zuckte vor Schreck zusammen und ließ den Stab beinahe fallen. Schnell beendete sie den Zauber und schaute besorgt auf die Lava. Sie glühte heller als zuvor und strahlte auch wieder viel mehr Hitze aus. Ängstlich ließ Miranda wieder einen Wassertropfen auf das Ei fallen – hatte sie es überhitzt? Doch zum Glück dauerte es einen kleinen Moment, bis der Wassertropfen verdampft war. „Das war knapp“, dachte Miranda erleichtert.
Zwei weitere Wochen vergingen. Die Hexenkinder wechselten sich bei der Ei-Pflege ab, und gelegentlich wurde die Lava wieder neu aufgeheizt. Das einzige, was ansonsten passierte, war, dass die goldenen Flecken langsam immer weiter wuchsen, bis sie das ganze Ei überzogen, das nun golden im Lavalicht schimmerte. Als das letzte Stück der grau-braunen Schale unter dem Gold verschwunden war, hatten sie alle ungeduldig neben dem Ei gesessen und darauf gewartet, dass das Drachenkind schlüpfte, doch nichts war passiert.
Auch das war schon einige Tage her. Es war Morgen, Miranda saß in ihrem Sessel und döste vor sich hin, während sie ab und zu auf die Uhr sah um zu sehen, wie lange es noch dauern würde, bis Draconia kam, um sie abzulösen. Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Sie schreckte hoch – da war das Geräusch wieder. Als sie in die Lava-Schale blickte, sah sie, dass das Ei leicht wackelte. Gespannt schaute Miranda auf das Ei. Es wackelte wieder, und Miranda erwartete schon, dass es jetzt aufbrechen würde, doch dann war es wieder still.
Miranda wartete noch einen Moment, dann setzte sie sich wieder in den Sessel. Doch kaum hatte sie das getan, da wackelte das Ei wieder, diesmal noch stärker. Ein feiner Riss, wie ein dünner Bleistiftstrich, durchzog die Schale, dann noch einer, und ein weiterer, bis die ganze Eierschale aussah, als hätte jemand ein Spinnennetz darauf gezeichnet. Miranda hielt vor Spannung den Atem an.
Mit einem Knacken zerbarst die Eierschale in zwei große und viele kleine Bruchstücke. Das Drachenbaby purzelte aus der Schale heraus und wäre beinahe in die Lava gefallen, doch Miranda streckte geistesgegenwärtig ihre Hände aus und fing es auf. Vor Schreck hätte sie es fast wieder fallen lassen, denn das Drachenkind fühlte sich sehr warm an, fast heiß. Ihr Herz klopfte wie wild, als sie auf das Drachenbaby schaute. Es hatte einen schlanken Körper, etwa so lang wie ihr Unterarm, vier Beine, einen langen Schwanz und einen langen Hals, der in einem gehörnten Kopf endete.
Das Drachenbaby drehte sich auf ihrem Arm hin und her, und der Drachenkopf auf dem langen Hals wandte sich Miranda zu. So sah Miranda zum ersten Mal in die Augen eines Drachen. Sie waren groß und dunkel, wie ein tiefer Brunnen, und gleichzeitig schillerten sie in allen Farben. Miranda vergaß alles um sich herum, die ganze Welt schien zu verschwinden, während sie nur noch in diese wundersamen Augen schaute. Sie schienen ihr das schönste zu sein, das sie je gesehen hatte. Ihr dunkles Schillern ließ Miranda spüren, dass sich hinter ihnen eine große Drachenseele verbarg.
Lange saß sie so da, schweigend in die Drachenaugen schauend. Dann sagte sie mit leiser, zärtlicher Stimme: „Hallo Drachenbaby. Ich bin Miranda.“ Ein Moment verging, und zu ihrer Verblüffung hörte Miranda eine leise, weiche Stimme, die sagte „Wyveria.“
„Ist das Dein Name? Wyveria?“, fragte sie.
„Wyveria“, sagte die Stimme wieder. Das Drachenkind hatte seinen Mund nicht bewegt, und Miranda wurde klar, dass sie die Stimme nicht mit den Ohren gehört hatte, sondern dass sie auf irgendeine magische Weise direkt in ihrem Kopf zu ihr sprach.
Miranda setzte sich in ihren Sessel, das Drachenbaby auf dem Schoß. Mit einem Finger strich sie vorsichtig über seine Schuppen. Sie schillerten, fast wie Gold, nur waren sie dunkler. „Du bist ein echter Bronze-Drache, nicht wahr?“, sagte sie. Die Drachenschuppen unter ihrer Hand fühlten sich glatt und hart an, ein wenig wie Fingernägel, nur noch viel glatter. Das Drachenbaby streckte sich unter Mirandas Streicheln, und sie hatte das Gefühl, dass es ihm gefiel. Dann, ganz plötzlich, hörte Miranda wieder die Drachenstimme in ihrem Kopf: „Hunger“ sagte sie.
„Warte, ich hole dir etwas zu essen“, sagte Miranda stand auf und wollte Wyveria auf den Sessel legen, damit sie in die Küche gehen konnte. „Nicht allein!“, schrie die Drachenstimme in ihrem Kopf entsetzt. „Ja, gut“, sagte Miranda und nahm Wyveria auf den Arm. Sie ging mit ihr in die Küche und goss etwas Milch in eine Schale. Wyveria schnupperte an der Milch und drehte dann den Kopf zur Seite. „Hunger!“, klagte ihre Stimme wieder. „Hmm, was könntest Du denn mögen?“, überlegte Miranda. Sie versuchte es mit Brot, dann mit Käse, doch beides wurde nur mit einem verächtlichen Wegdrehen des Kopfes quittiert. Als Miranda Wyveria einen Apfel hinhielt, riss diese ihr Maul auf und stieß ein leises Zischen aus. Dabei sah Miranda ihre Zähne – scharfe, spitze Zähne wie die einer Katze. „Du frisst bestimmt Fleisch“, wurde ihr klar. Sie kramte herum, doch alles was sie fand, war ein Würstchen. „Hier“, sagte sie und hielt Wyveria das Würstchen hin. Wieder riss diese ihr Maul auf, dann schnappte sie nach dem Würstchen und biss ein großes Stück heraus. Sie kaute kurz darauf herum, dann fraß sie das nächste Stück. Es dauerte nicht lange, und das Würstchen war aufgefressen.
„Hunger!“, klagte Wyveria wieder. Miranda suchte weiter in der Küche herum, bis sie eine Dose mit Katzenfutter sah. „Vielleicht magst Du ja das?“, fragte sie und versuchte, die Dose zu öffnen, was mit einem Drachenbaby auf dem Arm gar nicht so einfach war, zumal Wyveria immer stärker herumzappelte. „Sei doch ruhig“, bat Miranda und schob Wyverias Kopf zur Seite, mit dem diese an der halboffenen Dose schnupperte. Als die Dose endlich offen war, hielt sie sie Wyveria hin. Hungrig riss Wyveria ihr kleines Maul auf und begann zu fressen. Es dauerte nicht lange, und die Dose war leer.
„Hunger!“, beschwerte Wyveria sich erneut. „Ich habe aber nichts mehr“, sagte Miranda verzweifelt. Sie ging durch die Küche und überlegte, ob es noch etwas gab, das sie Wyveria anbieten konnte. Da hörte sie ein Geräusch an ihrer Tür. Draconia war gekommen, um die nächste Ei-Wache zu übernehmen. Miranda rannte zur Tür.
„Ist das Baby schon geschlüpft?“, fragte Draconia und klang gleichzeitig aufgeregt und enttäuscht.
„Sie heißt Wyveria“, sagte Miranda und erzählte Draconia kurz, was passiert war. „Hunger!“, unterbrach Wyveria sie wieder. „Hast Du gehört?“ fragte Miranda. „Wir müssen dringend mehr Fleisch besorgen.“
„Was soll ich gehört haben?“, fragte Draconia.
„Wyveria hat ‘Hunger’ gesagt. Hast Du das nicht gehört?“
„Ich höre gar nichts“, antwortete Draconia, gerade als Miranda wieder Wyverias Hungerschrei hörte.
„Anscheinend kann nur ich sie hören“, wunderte sich Miranda. „Wir brauchen auf jeden Fall mehr Fleisch.“
„Am besten fliege ich nach Hause“, sagte Draconia, „Ich glaube, ich habe noch ein Stück Braten.“
Kurze Zeit später war Draconia wieder zurück. Sie trug einen Topf mit einem kleinen Braten darin. Mit einem Messer schnitt sie ein Stück Fleisch ab und hielt es Wyveria hin. Diese aber riss ihr Maul auf und zischte wieder. Dann sah sie Miranda vorwurfsvoll an. „Ich glaube, Du musst sie füttern“, sagte Draconia. Aus Mirandas Hand nahm das Drachenkind das Fleisch gern entgegen. Wyveria fraß noch eine Weile, dann drehte sie plötzlich ihren Kopf zur Seite rollte sich auf Mirandas Arm ein und schloss ihre Augen. Kurz darauf war sie fest eingeschlafen.
]]>Heute gucken wir, wie man mit einem Löffel und einer Tasse heißen Kaffee oder Tee zeigen kann, dass die klassische Physik nicht in der Lage ist, Metalle korrekt zu beschreiben.
Metalle und Elektronen
Metalle leiten ja bekanntlich Strom ziemlich gut – deswegen nehmen wir ja beispielsweise Kupfer oder Aluminium als Werkstoffe für Drähte. (Im Alltag nehmen wir meist Kupfer, aber Aluminium leitet Strom zwar etwas schlechter, ist aber auf der einen Seite billiger und auch wesentlich leichter – in Flugzeugen z.B. nimmt man deswegen auch Kabel aus Aluminium.)
Bereits kurz nach der Entdeckung des Elektrons Ende des 19. Jahrhunderts kam man auf die Idee, dass Metalle Strom leiten, weil sich in ihnen die Elektronen frei bewegen können. In einem einfachen Modell der klassischen Physik (Drude-Modell genannt) sieht das etwa so aus (lobend hervorzuheben, dass in diesem Bild Elektronen blau und positive Ladungen rot sind, wie sich das gehört, jede andere Farbkombination ist falsch!):
Von User:ARTE – Eigenes Werk, Gemeinfrei, Link
Hier seht ihr die blauen Elektronen, die um die positiven Ladungen herumflitzen. Man stellt sich vor, dass jedes Atom ein (oder auch zwei) Elektronen hat, die nur lose gebunden sind und die sich deshalb vom Atom lösen können. Zurück bleibt ein Ion – ein Atom, dem eine negative Ladung fehlt.
Wenn das so ist (so die Überlegung von Drude), dann sollten die Elektronen nicht nur Strom gut leiten können, sondern auch Wärme. Heizt man ein Ende eines Metalldrahts auf, dann werden die Elektronen dort schneller (Wärme ist ja nichts als ungeordnete Bewegung von Teilchen) und weil sie frei sind, flitzen sie dann durch das Metall und leiten die Energie weiter. Nach dieser Logik sollten also elektrische Leitfähigkeit und Wärmeleitung gekoppelt sein – Metalle, in denen die Elektronen sich besonders leicht frei bewegen können, sollten also nicht nur Strom gut leiten, sondern auch Wärme.
Und siehe da – so ist es auch. Die elektrische und die Wärmeleitfähigkeit hängen eng zusammen, das ist das sogenannte Wiedemann-Franzsche Gesetz.
Also kann man die elektrische Leitung und die Elektronen in Metallen mit den Mitteln der klassischen Physik beschreiben?
Nein, das kann man nicht. Um das zu widerlegen, braucht ihr nur eine Tasse Kaffee oder Tee zu nehmen und einen Löffel reinzustellen. (Beim Kaffee ist das eh praktisch, um Zucker umzurühren – wenn ihr Zucker in euren Tee tut, dann ist das barbarisch…) Jedes Atom in eurem Löffel sollte so etwa ein Elektron für die elektrische Leitung zur Verfügung stellen, und jedes dieser Elektronen sollte ein bisschen Wärme aus eurem Heißgetränk entziehen, wobei der Löffel wärmer wird. Die Energiemenge, die man braucht, um ein Material zu erwärmen, ist die sogenannte Wärmekapazität. Wenn jedes Elektron etwas Energie aufnehmen könnte so wie ein freies Teilchen in einem Gas und wenn jedes Atom so etwa ein Elektron abgibt, dann sind das sehr viele freie Elektronen auf relativ kleinem Raum.
Rechnet man die Wärmekapazität unter dieser Annahme aus, dann bekommt man einen Wert, der Hundert mal größer ist als der, den man bei Metallen tatsächlich misst. Euer Löffel würde dem Heißgetränk sehr viel Wärme entziehen und dabei selbst nur wenig wärmer werden und in kurzer Zeit hättet ihr nur noch ein Lauwarmgetränk.
Wir haben also einen klaren Widerspruch: Einerseits sind die Elektronen in Metallen frei und sorgen dafür, dass Strom und Wärme geleitet werden können, aber andererseits können diese freien Elektronen irgendwie nicht die Wärmemenge aufnehmen, die man eigentlich erwartet, sondern nur einen Bruchteil davon.
Das Bändermodell
Ich habe ja neulich schon erklärt, dass Elektronen in Atomen nur ganz bestimmte Werte der Energie haben können. Das ändert sich allerdings, wenn man viele Atome zusammenbringt und daraus einen großen Materialklotz macht – einen “Festkörper”. Jedes Atom bringt sozusagen seine eigenen Energieniveaus mit, aber weil die Elektronen sich ja auch zwischen den Atomen bewegen können (beispielsweise von einem zum nächsten hüpfen können), verschieben sich die Energieniveaus. Wir haben neulich schon gesehen, dass sich zum Beispiel beim Wasserstoff aus zwei einzelnen Atomorbitalen ein energetisch günstiges (bindendes) und ein energetisch ungünstiges (anti-bindendes) Orbital bildet. Wenn man jetzt viele Atome zusammenschließt, dann bildet sich eine ganze Bandbreite an Orbitalen mit unterschiedlichen Energien, die sehr dicht beieinander liegen.
Dieses Bild zeigt schematisch, wie sich die Energien ändern, wenn man die Atome zusammenschiebt (Hinweis für die ganz Genauen: schematisch deshalb, weil in Wahrheit die s- und p-Orbitale hybridisieren müssten und sich die Bänder dadurch komplizierter verschieben):
(Aus meinem Buch “Funktionswerkstoffe”)
In der linken Seite des Bildes seht ihr, wie sich Bänder ausbilden, je dichter man die Atome zusammenschiebt (“Kernabstand” ist der Abstand der Atomkerne). Sind sie weit weg, gibt es getrennte Energieniveaus, je dichter sie zusammensind, desto breiter werden die Energiebänder. Die gestrichelte Linie zeigt den Abstand, den die Atome tatsächlich haben; rechts im Bild sieht man dann die zugehörigen Energiebänder, also die Energien, die für die Elektronen bei diesem Kernabstand möglich sind. (Dabei hat im rechten Bildteil die horizontale Richtung keine Bedeutung, die ist nur, damit man schöne Bänder malen kann.)
In diesem (vereinfachten) Modell kann man jetzt schon mal verstehen, warum es Metalle und Nicht-Metalle gibt. Wir besetzen jetzt die Energiebänder mit Elektronen. Dabei gilt wie beim letzten Mal das Pauli-Prinzip: Jedes einzelne Energieniveau hat nur Platz für zwei Elektronen. Wir füllen also die Bänder von unten angefangen (bei den energetisch günstigsten Zuständen) auf, bis alle Elektronen einen Platz in einem Energieniveau gefunden haben. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten:
(Aus meinem Buch “Funktionswerkstoffe”)
Entweder in einem der Bänder sind alle Zustände gefüllt, im darüber liegenden Band keiner. Dann gibt es eine klare Lücke zwischen den gefüllten und den freien Energiebändern. Oder ein Band ist nur teilweise gefüllt so wie rechts im Bild. (Noch ein Hinweis: Die Begriffe Valenz- und Leitungsband sind meines Wissens in Metallen nicht immer ganz einheitlich definiert, man kann das halb-besetzte Band auch als Leitungsband bezeichnen, ich glaube ich habe beide Varianten schon gesehen. Oder gibt es da inzwischen ne einheitliche Definition?)
Im linken Fall ist es also so, dass alle Zustände in einem Band besetzt sind. Wenn wir einem Elektron ein klein wenig Energie zuführen, dann kann es mit dieser Energie nichts anfangen, weil es keinen Zustand gibt, in den es gehen könnte. Man kann deshalb die Elektronen nur mit sehr hohem Energieaufwand in andere Zustände bringen; Dinge wie schwache elektrische Felder reichen dafür nicht aus. Deshalb ist so ein Material ein Isolator: Elektronen können sich nicht bewegen, weil es keine passenden Zustände gibt, in die sie durch ein elektrisches Feld gehoben werden könnten.
Bei den Metallen sieht es ganz anders aus: Hier können wir auch mit geringer Energiezufuhr Elektronen in andere Zustände bringen, damit können sie sich frei bewegen und Strom und Wärme leiten. (Wie genau diese Zustände aussehen, gucken wir uns heute nicht an, das wäre relativ aufwändig.)
Mit dem Bändermodell in dieser einfachen Form können wir also schon einmal verstehen, warum es überhaupt Metalle und Isolatoren gibt – ohne Dinge wie Energieniveaus und das Pauli-Prinzip ginge das so nicht, auch hier bestimmt also die Quantenmechanik unseren Alltag.
Wärmeenergie
Also: Im Bändermodell sehen wir, dass wir Elektronen auch mit wenig Energie in andere Zustände bringen können – beispielsweise solche, bei denen sie Strom leiten. Das klappt aber nicht für alle Elektronen: Ein Elektron ganz unten im Band (bei sehr niedriger Energie) hat ja über sich erst mal jede Menge besetzte Zustände. Um dieses Elektron in einen anderen Zustand zu bringen, bräuchten wir also ziemlich viel Energie:
Wenig Energie brauchen wir dagegen, wenn ein Elektron schon eine relativ hohe Energie hat und knapp unterhalb der Grenze sitzt, die die besetzten von den unbesetzten Zuständen trennt. (Vornehm sagt man “Das Elektron sitzt an der Fermi-Kante”, weil diese Grenzenergie “Fermienergie” heißt, aber das müsst ihr euch nicht merken.)
Wenn wir unseren Löffel in das Heißgetränk stecken, dann wird Wärmeenergie auf die Elektronen übertragen. Wärmeenergie ist gewissermaßen “zufällig verteilte Energie”, je heißer es ist, desto größer ist die mittlere Energie, die man durch Wärme bekommt. Bei handelsüblichen Raum- oder Kaffee-Temperaturen ist diese Energie klein verglichen mit dem, was oben im Bild “viel Energie” heißt. Ein Elektron weit unten im Energieband kann also mit thermischer Energie nichts anfangen – die Eintrittskarte in den unbesetzten Bereich ist ziemlich teuer und ein paar Cent zu spendieren hilft da nicht.
Elektronen mit höherer Energie knapp unterhalb der Grenzenergie dagegen brauchen nur noch wenig zusätzliche Energie, um in einen unbesetzten Zustand zu kommen. Diese Elektronen können deshalb die thermische Energie aufnehmen (sie haben quasi schon 99,50€, und mit 50 cent können sie sich die 100€-Eintrittskarte leisten). Für die Wärmekapazität, also die Frage, wie viel thermische Energie unser Metall aufnehmen kann, sind nur diese Elektronen relevant.
Mit ein paar Formeln und ein bisschen Rechnerei kann man auch abschätzen, wie groß der Anteil der Elektronen ist, die Wärmeenergie aufnehmen können. (Das habe ich mit hinreichend viel Hinführung und Einzelschritten sogar mal als Klausuraufgabe in meiner Vorlesung rechnen lassen.) Und heraus kommt, dass etwa jedes 100te Elektron so dicht an der Grenze sitzt, dass es Wärmeenergie aufnehmen kann, also ist die Wärmekapazität nur ein Hundertstel so groß wie man nach der klassischen Theorie erwarten würde, wo alle Elektronen Wärme aufnehmen.
Elektrische Leitung und Wärmeleitung
“Aber Moment”, sagt jetzt die aufmerksame Leserin, “wenn das so ist, warum sind dann Metalle trotzdem gute elektrische Leiter? Denn dann können doch auch in einem elektrischen Feld nur sehr wenige Elektronen Energie aus dem Feld aufnehmen und in höhere Zustände kommen, wo sie Strom tragen? Also müssten Metalle doch nur mäßig gute Leiter sein?”
Gut gedacht. Um das zu verstehen, muss man sich die unterschiedlichen Zustände nochmal angucken, aber ich gehe hier nicht ins Detail (sonst kann ich gleich mein Buch abschreiben…). Elektronen kann man ja als Wellen beschreiben. (Details in meiner Schrödingergleichungs-Serie bei den Artikelserien.) Ein Elektron mit hoher Energie knapp unterhalb oder knapp oberhalb der Grenzenergie hat eine vergleichsweise kurze Wellenlänge. Zu einer kurzen Wellenlänge gehört aber eine hohe Geschwindigkeit (bzw. ein hoher Impuls, wenn ihr es physikalisch korrekter ausdrücken wollt [wenn es noch korrekter sein soll, müsste man vom Gitterimpuls reden…]). Diese Geschwindigkeit ist viel höher, als man es nach der klassischen Physik erwarten würde. Wenn wir also nur wenige Elektronen in leitende Zustände heben, dann haben diese wenigen Elektronen extrem hohe Geschwindigkeiten und können deshalb auch viel Strom transportieren. (Ein ganz analoges Problem habe ich mal in diesem Weihnachts-Artikel diskutiert.)
Wir haben also in der klassischen Physik sehr viele Elektronen, die alle Strom tragen, aber relativ langsam unterwegs sind. In der Quantenphysik dagegen tragen nur wenige Elektronen den Strom, die sind aber viel schneller (ungefähr hundert mal), und das kompensiert, dass es so wenige sind, die gesamte getragene Strommenge ist etwa dieselbe.
Die Überlegungen der klassischen Physik waren also sozusagen doppelt falsch: Die Zahl der Elektronen, die den Strom tragen, wurde um den Faktor 100 überschätzte, aber die Geschwindigkeit wurde um den Faktor 100 unterschätzt, und diese beiden Fehler kompensieren sich und führten dazu, dass das Drude-Modell sehr vernünftige Vorhersagen machen konnte.
Fazit
Auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht, als könne man das Verhalten von Metallen mit der klassischen Physik verstehen – schaut man genauer hin, merkt man, dass nur die Quantenphysik tatsächlich korrekte Vorhersagen machen kann. Quanten sind eben überall.
]]>Im hellen Mondlicht vor der verborgenen Höhle hatten die Drei endlich Gelegenheit, sich die Kiste näher anzusehen. Wie die Kästchen, die sie bisher gefunden hatten, war sie aus Holz, schön gefertigt aber ohne Zeichen oder eine Inschrift auf der Oberfläche. Sie hatte auf jeder Seite und auf dem Deckel eine kleine Vertiefung.
Noch etwas hatte die Kiste mit den Kästchen gemeinsam: Sie ließ sich nicht öffnen. „Vielleicht müssen wir wieder etwas draufschreiben“, überlegte Draconia.
„Ja, aber was? Wir haben doch alle Buchstaben im Namen Medea aufgebraucht.“
„Vielleicht müssen wir den ganzen Namen draufschreiben“, sagte Draconia. Sie probierte es, aber es half nichts. Die Kiste blieb verschlossen.
„Ich wette, die fünf Vertiefungen haben etwas damit zu tun“, überlegte Draconia schließlich. Sie versuchte, ihre Hand so weit zu spreizen, dass sie in jede der Vertiefungen einen Finger legen konnte, aber dafür war die Kiste zu groß. Sie versuchte es mit beiden Händen. Nun gelang es ihr zwar, aber die Kiste war immer noch verschlossen.
„Meint Ihr, dass es Zufall ist, dass es genau fünf Vertiefungen sind? Wo wir doch auch fünf Kästchen gefunden haben?“, fragte Netti.
„Das ist es!“, rief Draconia begeistert. „Ich wette, wir müssen die fünf Edelsteine hineinstecken.“ Draconia nahm die fünf Steine und schaute sich die Vertiefungen an. Jetzt sah sie, dass jede von ihnen eine etwas andere Form hatte, genau passend zu den Edelsteinen. Sie probierte eine Weile herum, dann hatte sie den Diamanten in die Vertiefung auf dem Deckel gesteckt. Für einen Moment leuchtete er auf.
„Weiter, wir sind auf dem richtigen Weg!“, drängelte Netti. Draconia steckte einen Edelstein nach dem anderen in die Kiste, und jedes Mal leuchtete der neu eingebaute Stein kurz auf. Dann hatte sie es geschafft: Als sie den Rubin an der Rückseite eingesetzt hatte, gab es ein leises Klicken und der Deckel der Kiste sprang auf.
Alle vier drängten sich um die Kiste um hineinzusehen. Oben in der Kiste lag weicher Stoff, fast wie Watte. Zwischen der Watte lag ein aufgerolltes Stück Papier, das die Drei zur Seite legten – diese Schriftrolle war sicher nicht der Schatz, den sie suchten. Draconia begann, den Stoff herauszunehmen und sah, dass darin eingebettet eine seltsame, eiförmige, grau-braune Kugel mit goldenen Flecken lag.
„Ist das ein Edelstein?“, fragte Netti.
„Glaube ich nicht. Er sieht nicht besonders schön aus“, meinte Draconia.
„Mir gefällt er“, sagte Miranda mit träumerischer Stimme. Die goldenen Flecken schillerten leicht im Mondlicht, und Miranda fand diesen Anblick faszinierend.
„Aber wenn es kein Edelstein ist, was ist es dann?“
„Keine Ahnung. Ist sonst noch etwas in der Kiste?“, fragte Miranda.
Draconia nahm die Kugel heraus und gab sie Miranda, die sie neugierig ansah und auf die goldenen Flecken starrte. Draconia nahm den Stoff heraus, aber darunter war nichts mehr. „Das ist also ein Schatz von unermesslichem Wert?“, fragte sie enttäuscht.
„Vielleicht steht etwas in der Schriftrolle?“, meinte Netti. Die Rolle hatten die anderen schon vollkommen vergessen. Draconia nahm sie in die Hand und entrollte sie.
„Hier steht: ‘In dieser Kiste findest Du das letzte Ei der Bronzenen Drachen.’ “
Für einen Moment schauten sich alle nur an. „Meint Ihr, das ist wirklich ein Drachenei?“, fragte Netti.
„Keine Ahnung“, sagte Miranda. „Aber es sieht schon ein bisschen wie ein Ei aus, findet ihr nicht?“
„Was ist denn ein Bronzener Drache?“, fragte Netti.
„Bronze ist eine Farbe, so ähnlich wie Gold, nur etwas dunkler und ein bisschen rötlich“, erklärte Miranda. „ Was steht denn sonst noch da?“, wandte sie sich dann wieder an Draconia.
Draconia hatte inzwischen weitergelesen. „Nicht mehr viel. Das ist eine Anleitung, wie man das Ei ausbrüten kann. Hier steht, man muss es in eine Schale mit Vulkanlava legen, die immer heiß genug sein muss. Und es steht, wie man die Temperatur prüfen kann, damit das Ei nicht zu heiß oder kalt wird. Wenn es schlüpft, darf das Drachenkind nicht in die Lava fallen.“
„Vulkanlava! Deshalb hat Gneis gesagt, wir sollen nicht so weit weggehen! Am besten gehen wir noch einmal in die Höhle.“
Also machten sie sich wieder auf den Weg in die Höhle. Gneis, der Steintroll, saß immer noch in seiner Höhle und schlug mit der Faust Felsbrocken aus der Wand.
„Hallo“, sagte Miranda. „Da sind wir wieder. Wir brauchen ein bisschen Vulkanlava.“
Gneis lachte sein tiefes, rumpelndes Lachen. „Dann habt Ihr die Kiste wohl geöffnet?“, sagte er. Er stand auf und ging hinaus. Nach kurzer Zeit kam er mit einer steinernen Schale wieder, in der rote Lava schimmerte. In seinen riesigen Händen sah die Schale ziemlich klein aus, aber als er sie Miranda und Draconia gab, merkten sie, dass sie fast so groß war wie Mirandas Waschzuber. „Die ist aber schwer“, sagte Miranda.
„Das ist meine kleinste Nachtischschale“, sagte Gneis, „Eine kleinere habe ich nicht, tut mir Leid.“
„Das macht nichts“, erwiderte Draconia. Sie zauberte, wie schon in der Pyramide, ihren Kraftzauber und nahm die Schale hoch als wöge sie gar nichts. „Wir müssen jetzt gehen. Und vielen Dank für alles“, sagte Miranda zum Abschied. Dann gingen sie zurück.
Der Rückflug nach Hause war nicht so einfach wie der Hinflug. Netti musste hinter Draconia auf dem Besen sitzen, während Miranda die Lavaschale vor sich auf ihrem Besen balancierte. Sie flog langsam und vorsichtig, damit die heiße Lava nicht überschwappte. Während des Rückfluges überlegten sie, wie sie das Ei ausbrüten sollten.
„In der Schriftrolle steht, wir müssen jede Stunde die Temperatur kontrollieren und das Ei drehen“, sagte Draconia.
„Jede Stunde? Selbst am Tag?“, fragte Netti.
„Ja, so steht es hier. Am besten teilen wir uns die Arbeit.“
„Aber wir müssen doch wieder zur Schule“, sagte Miranda.
„Ist doch kein Problem. Ich kann doch in der Zeit aufpassen“, schlug Netti vor. Sie beschlossen, dass sie das Ei in Mirandas Haus ausbrüten würden, da dieses am nächsten an der Hexenschule lag, und dass sie sich mit der Ei-Wache abwechseln würden.
Schließlich kamen sie an Mirandas Haus an. Sie trugen die Lava-Schale in Mirandas Zimmer und stellten sie auf den Ofen, wo es am wärmsten war. Dann legten sie das Ei vorsichtig in die Lava.
Draußen wurde es bereits hell. Netti flog nach Hause. „Wenn Du willst, übernehme ich die erste Wache“, schlug Miranda Draconia vor. Also legte sich Draconia in Mirandas Hochbett, während Miranda sich in ihren Sessel setzte und die Schriftrolle las.
Laut der Anweisung musste sie das Ei jede Stunde einmal drehen. Da es jetzt, wo es in der Lava lag, zu heiß war, um es anzufassen, nahm sie eine lange Zange, mit der sie sonst Holzscheite in ihrem Ofen hantierte. Vorsichtig griff sie mit der Zange das Ei und drehte es herum. Dann musste sie die Temperatur kontrollieren. Dazu tropfte sie einen Wassertropfen auf die Eierschale. Es zischte, der Tropfen tanzte einen Moment auf der Schale herum und war dann verdampft. Das bedeutete, dass die Temperatur genau richtig war – wäre der Tropfen sofort verdampft, dann wäre die Lava zu heiß, wäre er noch nicht verdampft, bis sie bis zehn gezählt hatte, dann wäre er zu kalt gewesen.
Viel mehr galt es beim Ausbrüten des Eis nicht zu beachten. In einer Stunde musste sie das Ei wieder drehen, bis dahin aber hatte sie nichts zu tun. So setzte sich Miranda in ihren Sessel und wartete.
]]>Als sich die vier in der nächsten Nacht trafen, waren sie schon sehr ungeduldig. Eigentlich musste diese Kiste ja die letzte sein, denn die Buchstaben des Namens „Medea“ waren ja nun aufgebraucht. Ungeduldig schauten sie Draconia über die Schulter, als diese das „A“ auf den Kistendeckel schrieb.
Im Inneren der Kiste fanden Sie wieder einen Edelstein, diesmal einen klaren Diamanten. Daneben lag ein Zettel: „In der verborgenen Höhle des Vesuv findest Du meinen Schatz, bewacht von Gneis.“
„Das ist alles?“, fragte Draconia enttäuscht.
„Wieso alles?“, erwiderte Netti. „Da steht doch, dass wir den Schatz dort finden. Also sind wir schon ganz kurz vorm Ziel. Was meint Ihr, was für einen Schatz wir dort finden?“
„Vielleicht noch mehr Edelsteine und Gold und Juwelen?“
„Oder ein besonderer Zauber? Oder ein Zauberbuch?“
Die vier rätselten eine Weile herum. Dann sagte Draconia „Aber wenn wir den Schatz finden wollen, müssen wir erstmal herausfinden, wo dieser Vesuv liegt.“
„Und wer ist eigentlich ‘Gneis’? “, wollte Miranda wissen.
Wie bisher machten sich die Hexenkinder nach dem Schulunterricht auf den Weg in die Bibliothek. Es dauerte eine Weile, aber dann hatten sie alle Informationen gesammelt, die sie benötigten:
„Also, der Vesuv ist ein Vulkan in Italien“, sagte Draconia, die in einem Atlas blätterte.
„Aber das hier ist merkwürdig“, meinte Miranda. „Hier steht, dass Gneis eine besondere Art von Gestein ist. Wie kann denn Gestein einen Schatz bewachen?“
Alle fanden das in der Tat seltsam, aber sie fanden keine Lösung dieses Rätsels. Da sie alle ungeduldig waren, beschlossen sie, sich bereits in der nächsten Nacht auf den Weg zu machen.
Der Weg nach Italien führte sie wieder nach Süden, über das große Gebirge hinweg. Danach flogen sie an der Meeresküste entlang, bis sie vor sich einen großen Vulkankegel erkannten.
„Das muss der Vesuv sein“, sagte Draconia, die sich ein Bild des Berges gut eingeprägt hatte. Sie flogen näher heran und Miranda nahm ihre Kristallkugel heraus und zauberte ihren üblichen Zauber.
Sie flog langsam um den Vulkan herum und schaute dabei durch die Kristallkugel. Eine Stelle an der Seite des Berges leuchtete schwach. „Da ist es“, sagte Miranda. Es war nicht einfach, an der Bergflanke zu landen, denn sie war schräg und der Boden war rau und uneben. Draconias Füße rutschten unter ihr weg, als sie unglücklich auf einem Fels aufkam, der unter ihrem Gewicht wegrutschte. Sie strauchelte, aber konnte sich am Besen festhalten, der immer noch in der Luft schwebte. Miranda und Netti kletterten vorsichtig vom Besen herunter.
Miranda schaute wieder durch die Kristallkugel. „Die leuchtende Stelle ist da vorn.“ Vor ihr lag ein fast senkrechtes Stück Bergwand, von dem das Leuchten ausging. Sie ging darauf zu und legte ihre Hand gegen den Berg, um nach einer Tür oder etwas Ähnlichem zu tasten. Zu ihrer Überraschung aber fuhr ihre Hand durch die Bergwand hindurch. Netti schrie verblüfft auf, denn Mirandas Hand war nicht mehr zu sehen – ihr Arm schien mitten in der Felswand zu enden.
„Alles in Ordnung“, sagte Miranda. „Ich glaube, die Wand ist nicht wirklich, nur eine Illusion.“
„Du meinst, sie ist gar nicht echt?“
„Genau. Ich spüre jedenfalls nichts. Es ist wie ein Bild oder so etwas. Sollen wir hindurchgehen?“
Miranda zauberte ein Hexenlicht, und die drei Hexenkinder traten auf die Felswand zu. Es kostete sie etwas Überwindung, gegen die Felswand zu laufen, die vollkommen echt aussah. Netti schloss die Augen und trat dann durch die Felswand hindurch.
Vor ihnen lag ein langer Gang. Die Luft um sie herum war warm und etwas stickig, und es roch nach Schwefel. Sie gingen vorsichtig den Gang entlang, und waren noch nicht sehr weit gekommen, als sie plötzlich ein Rumpeln hörten. Es klang, als würden große Felsbrocken aufeinander schlagen.
„Wir müssen vorsichtig sein, ich glaube, da vorn ist ein Steinschlag oder so etwas“, sagte Miranda. „Achtet auf die Decke über Euch.“
Die drei schauten sich gründlich um und gingen dann weiter. Es rumpelte erneut. Dann noch einmal. Das Rumpeln erklang sehr regelmäßig – es rumpelte, dann eine Pause, dann wieder rumpeln, dann wieder eine Pause.
„Ein Steinschlag oder so etwas ist das nicht“, sagte Miranda.
„Vielleicht ein Tier oder sowas?“, überlegte Draconia.
„Das muss aber ein Riesentier sein. Seid Ihr sicher, dass wir weitergehen sollen?“ Netti klang etwas ängstlich.
„Natürlich müssen wir weitergehen, aber leise“, sagte Miranda. „Ihr beide könnt ja hier warten. Ich schleiche voraus und gehe nachsehen.“ Mit diesem Vorschlag waren alle einverstanden.
Ganz leise schlich Miranda sich vorwärts. Sie dämpfte ihr Hexenlicht so weit es überhaupt ging. Es schien jetzt so schwach, dass sie gerade noch den Gang und den Boden direkt vor sich sehen konnte.
Sie war noch nicht sehr weit gekommen, als sie einen schwachen, rötlichen Lichtschein vor sich sah. Das Rumpeln war immer lauter geworden, und jetzt hörte sie außerdem noch etwas anderes. In den Pausen zwischen den lauten Krachgeräuschen gab es ein leises Knirschen und Mahlen, so als würde jemand große Steine aneinander reiben.
Auf Zehenspitzen schlich sie weiter und löschte ihr Licht völlig, da der Lichtschein vor ihr jetzt hell genug war, um den Boden des Ganges sehen zu können. Dann erweiterte sich der Gang vor ihr zu einer großen Höhle.
Der Lichtschein kam von einem kleinen Lavasee, der an einer Seite der Höhle lag, doch Miranda beachtete ihn kaum. Ihr Blick wurde gefangengenommen von etwas anderem: Ein gewaltiges Ungeheuer saß auf dem Höhlenboden. Es war größer als ein Elefant und hatte einen runden Kopf mit einem sehr breiten Maul. Das Ungeheuer saß aufrecht auf seinem dicken Hinterteil, die Hinterbeine von sich gestreckt, und schlug mit seinen zwei riesigen Pranken gegen die Höhlenwand. Mit einem lauten Krachen brach ein Stück Fels aus der Wand heraus. Das Ungeheuer steckte es in sein Maul und begann, genüsslich darauf herumzukauen. Daher kamen also die seltsamen Geräusche. Miranda hörte nun noch ein drittes Geräusch: Während das Ungeheuer kaute, stieß es ein leises, sehr tiefes Brummen aus, so, als würde es sich sehr wohl fühlen.
Miranda schaute ihm einen Moment lang zu, dann schlich sie wieder zurück zu den anderen und erzählte ihnen, was sie gesehen hatte.
„Ich glaube nicht, dass wir so ein Ungeheuer besiegen können“, meinte Draconia.
„Meint Ihr etwa, wir sollen mit dem Monster kämpfen?“, fragte Netti besorgt.
„Weiß ich nicht“, sagte Miranda. „Eigentlich sah es ja friedlich aus.“
„Friedlich? So ein Riesenmonster? Hast Du nicht gesagt, sein Maul sei so groß, dass es uns alle mit einem Haps verschlingen könnte?“, rief Netti.
„Schon. Aber eigentlich schien es ganz zufrieden damit, Steine zu fressen.“
„Trotzdem. Ich würde da nicht einfach hereinspazieren. Vielleicht wird es wütend, weil wir es gestört haben.“
Alle überlegten eine Weile, was sie tun sollten. „Ich hab’s!“, sagte Miranda. „Ich verwandele mich in eine Fledermaus und fliege in die Höhle. Wenn das Ungeheuer gefährlich wird, kann ich ihm davonfliegen. Und Fledermäuse gibt es hier in den Höhlen sicher öfter.“
Miranda nahm ihren Zauberstab und verwandelte sich. Als Fledermaus brauchte sie kein Licht, um sich zurechtzufinden, denn Fledermäuse können sich auch in völliger Dunkelheit zurechtfinden, weil sie auch mit ihren Ohren „sehen“ können. Miranda flatterte den Gang entlang. Obwohl sie sich den anderen gegenüber sehr zuversichtlich gezeigt hatte, klopfte ihr Herz heftig, als sie schließlich die große Höhle erreichte.
Das Ungeheuer war gerade wieder dabei, mit seiner Faust gegen die Wand zu schlagen, um weitere Steine herauszubrechen. Als sein Blick auf Miranda fiel, sagte es mit sehr tiefer, brummender Stimme: „Nanu? Wie kommst Du denn hier herein?“ Miranda hatte sich nicht nur in eine Fledermaus verwandelt, sondern auch gezaubert, dass sie selbst als Fledermaus noch sprechen konnte. So antwortete sie mit piepsender Stimme: „Ich habe mich verflogen.“
„Hmmmmm“, brummte das Ungeheuer, „da musst Du dich aber gründlich verflogen haben. Die Höhle ist doch verschlossen. Weißt Du“, fügte es hinzu, beugte sich nach und sprach mit etwas leiserer Stimme, „ich soll hier nämlich einen Schatz bewachen. Deshalb ist der Eingang zu dieser Höhle verschlossen worden. Hat man mir jedenfalls gesagt.“ Das Ungeheuer legte seinen Kopf in beide Hände und schien nachzudenken.
‘Eine bessere Gelegenheit bekomme ich nie,’ dachte Miranda. „Was denn für ein Schatz?“, fragte sie.
„Es ist ein Hexenschatz. Hexen sind so eine Art Menschen, weißt Du. Da war mal eine Hexe hier, die hat mich gebeten, auf ihren Schatz aufzupassen. Ich sollte ihn erst herausgeben, wenn eine andere Hexe kommt und mich danach fragt und mir die Zeichen zeigt. Ist aber schon ziemlich lange her, und bisher ist noch nie eine Hexe hier aufgetaucht. Vermutlich haben die Hexen den Schatz längst vergessen.“
„Ach so. Ja wenn das so ist.“ Miranda nahm ihren ganzen Mut zusammen und verwandelte sich zurück. Das Ungeheuer stieß einen lauten Schrei aus und schreckte zurück. Dabei stieß es gegen die Felswand, so dass es laut durch die ganze Höhle dröhnte.
„Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte Miranda. „Ich bin eine Hexe, weißt Du, und ich komme wegen des Schatzes.“
„Das hättest Du ja auch gleich sagen können, statt mich so zu erschrecken“ brummte das Ungeheuer.
Miranda hörte Schritte den Gang entlangkommen. Kurz darauf schauten ihre Freundinnen um die Ecke. „Miranda, alles in Ordnung?“, rief Netti. „Wir haben einen fürchterlichen Krach gehört.“
Miranda konnte ihre Freunde beruhigen. Dann wandte sie sich wieder dem Ungeheuer zu. „Ich bin Miranda, und dass sind meine Freundinnen, Netti und Draconia. Wir suchen den Hexenschatz von Medea.“
„Heißt Du Gneis?“, fragte Netti plötzlich.
Das Ungeheuer lachte. „Ja, das ist mein Name. Alle Steintrolle heißen nach einer Gesteinsart.“
„Kannst Du uns den Schatz geben?“, fragte Miranda.
„Nur, wenn Ihr die Erkennungszeichen dabei habt. Es müssen fünf sein.“
„Die Steine!“, rief Draconia. Sie kramte in ihrer Tasche, in der sie die Steine aufbewahrte, und hole sie heraus. Dann ging sie mutig auf den Steintroll zu. Als sie direkt vor ihm stand, um sie ihm zu zeigen, sah sie erst, wie riesig er wirklich war, denn sie reichte ihm nicht einmal bis zur Hüfte. Gneis beugte sich nach vorn und schaute auf Draconias Hand. Langsam streckte er seine riesige Hand aus und berührte die fünf Steine mit der Spitze seines dicken Fingers. Er schloss die Augen und stand einen Moment lang ganz still.
„Das sind sie“, sagte Gneis. „Wartet hier.“ Er stand auf und verschwand durch einen anderen Ausgang der Höhle. Sie hörten seine schweren Schritte leiser werden, dann kamen sie wieder näher.
Als Gneis die Höhle wieder betrat, sahen sie, dass er in einer Hand eine Kiste trug. Zwischen seinen gewaltigen Fingern sah sie winzig aus, aber als er sie auf den Boden stellte, sahen sie, dass sie etwas größer war als die Kästchen, die sie bisher gefunden hatten, ungefähr so groß wie ein Schuhkarton.
„Danke!“, sagte Miranda und schaute sich mit den anderen die Kiste an. Sie war ebenfalls aus Holz. „Mach sie doch auf“, sagte Draconia ungeduldig. „Ich bin schon gespannt, ob Edelsteine drin sind.“
Gneis lachte ein dröhnendes Lachen, das so laut war, dass sich die Hexen die Ohren zuhalten mussten. „Edelsteine!“, rief er.
„Weißt Du denn, was in dem Schatz ist?“, fragte Netti.
„Natürlich weiß ich das, aber ich darf es euch nicht verraten.“
Die vier Hexen scharten sich um die Kiste, die sich aber nicht öffnen ließ. „Bestimmt ist wieder ein Trick dabei.“ sagte Draconia. „Vielleicht nehmen wir sie erst mal mit nach draußen“, meinte Miranda.
„Aber geht nicht zu weit weg vom Vulkan“, sagte Gneis zu ihrer Überraschung. Doch er wollte nicht sagen, warum.
]]>Diesmal war es nicht schwer, zu erraten, was mit dem Hinweis gemeint sein konnte – es mussten die Pyramiden in Ägypten sein, da waren sich alle ganz sicher. Da es nach Ägypten ziemlich weit war, beschlossen sie, wieder bis zum Wochenende zu warten. In der Zwischenzeit überlegten sie, was sie für ihre Expedition brauchen würden.
„Ich wette, in der Wüste ist es ganz schön heiß. Am besten nehmen wir ganz dünne Sachen mit“, überlegte Miranda.
„Hmm“, sagte Draconia. „Ich habe mal gelesen, dass es nachts in der Wüste ganz kalt sein soll. Vielleicht brauchen wir doch auch warme Sachen.“
„Wenn die Pyramide verschüttet ist, dann brauchen wir Sachen zum Graben“, sagte Netti, „Schaufeln und so.“
„Und natürlich was zu Essen“, sagte Draconia.
„Und Wasser. Viel Wasser“, meinte Miranda schließlich. So kam nach einer Weile eine ziemlich lange Liste zusammen.
Schließlich war es soweit. Das Wochenende war gekommen und kurz nach Sonnenuntergang machten sie sich auf den Weg. Netti saß wieder hinter Miranda, neben ihnen flog Draconia. Sie flogen eine Weile über Felder, Wälder, Wiesen und Flüsse, bis sie an ein großes Gebirge kamen. „Die Alpen“, erklärte Miranda, die alles auf ihrer Landkarte mitverfolgte. Nun waren sie froh über die warmen Sachen, denn sie mussten ziemlich hoch fliegen, um über die Berge zu kommen, und hier war die Luft schon ganz schön frostig. Kurze Zeit später waren sie dann über dem Meer.
„Dahinter kommt Ägypten“, sagte Miranda, „dort stehen die Pyramiden.“ Nach einer Weile sahen sie tatsächlich Land vor sich. Sie folgten einem großen, breiten Fluss, bis sie schließlich nach einiger Zeit am Horizont die Pyramiden sahen. Sie sahen wirklich aus wie spitze Berge, und als sie näher kamen sahen sie, wie riesig sie waren. Zwar waren sie nicht so hoch wie der Eiffelturm, dafür aber viel breiter und aus schweren, hellen Steinen gebaut.
Sie flogen über die Pyramiden hinweg, aber nirgends gab es einen Hinweis auf eine vierte Pyramide. Miranda spähte wieder durch die Kristallkugel, aber auch das half nichts.
„Vielleicht ist die vierte Pyramide ein Stück weit weg“, sagte Draconia. „Am besten, wir teilen uns auf, dann können wir schneller alles absuchen.“
Gesagt, getan. Miranda flog mit Netti, während Draconia in die andere Richtung unterwegs war. Angestrengt spähten Miranda und Netti nach unten, doch sie konnten keinen Hinweis auf eine Pyramide sehen.
„Wie sollen wir denn die Pyramide finden können, wenn sie total mit Sand zugeschüttet ist?“, fragte Netti.
„Weiß ich auch nicht.“ Miranda überlegte. Dann hatte sie eine Idee: „Hör mal. Die Pyramiden sind ja ganz schön groß, stimmt’s? Wenn man so eine Pyramide mit Sand zuschüttet, dann würde man doch so eine Art Berg oder Hügel sehen. Am besten suchen wir einen Hügel, der so groß ist, dass eine Pyramide drunterpassen würde.“
Sie hielten Ausschau nach einem passenden Hügel, und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis sie einen fanden. Sie landeten.
Netti spazierte im Sand herum und schaute sich um. „Und wie sollen wir rauskriegen, ob hier tatsächlich eine Pyramide drunter ist?“, fragte sie. „Mit den Schaufeln brauchen wir bestimmt Hundert Jahre.“
„Ganz einfach“, antwortete Miranda und zog ihren Zauberstab. Sie sagte einen Zauberspruch auf, zeigte mit dem Stab zuerst auf Netti, dann auf sich, und einen Moment später schon waren zwei kleine Wüstenspringmäuse dabei, sich in den Sand des Hügels zu graben.
Miranda und Netti, die beiden Springmäuse, buddelten so schnell sie konnten. Mit ihren Vorderbeinen konnten sie gut graben, und so wuchs und wuchs ihr kleiner Tunnel in die Tiefe. Nach einer Weile ging es nicht mehr weiter, ihre Mäusekrallen stießen auf eine harte, glatte Wand. Sie gruben ein Stück an der Wand entlang, bis sie sicher waren, dass es nicht bloß ein Stein war, sondern eine richtige Mauer.
„Das muss die Pyramide sein“, piepste Netti. „Komm, wir holen Draconia.“
„Nein, warte noch. Lass uns erst den Eingang suchen.“
Sie gruben sich weiter an der Steinmauer entlang, bis sie schließlich eine Öffnung fanden. Dann krabbelten sie zurück durch den Tunnel an die Oberfläche.
Neben dem Besen stand Draconia, die sich suchend umschaute. Als Miranda sich und Netti zurückverwandelte, zuckte sie erschreckt zusammen. „Da seid Ihr“, sagte Draconia. „Ich habe euch schon überall gesucht.“
„Wir haben die Pyramide gefunden“, sagte Netti stolz und zeigte auf ihren kleinen Tunnel.
„Toll. Sollen wir uns alle in Wüstenspringmäuse verwandeln?“, fragte Draconia.
„Lieber nicht“, meinte Miranda. „Denk ans letzte mal als wir es als Käfer versucht hatten. Das hat auch nicht geklappt. Als Wüstenspringmäuse sind wir zu klein, um die Kristallkugel oder das Kästchen zu tragen.“
„Außerdem sollten wir lieber unsere Sachen dabei haben. Wer weiß, was wir da unten brauchen“, überlegte Draconia. „Wir können doch versuchen, einen richtigen Tunnel zu zaubern. Ich habe letzte Woche in der Bibliothek nach Erdzaubern gesucht, damit müsste es eigentlich klappen.“
Draconia kletterte den Hügel ein Stück hinunter, weil ihr Tunnel zum unteren Ende der Pyramide führen sollte, dorthin, wo der Eingang war. Dann hob sie ihren Zauberstab und sagte einen Zauberspruch auf. Sand flog in die Luft, während sich langsam ein Tunnel bildete. Eine richtige Sandfontäne flog aus der Tunnelöffnung heraus, während sich der Tunnel, von Draconias Zauberkraft getrieben, tiefer und tiefer in den Sand bohrte. Dann aber wurde die Sandfontäne kleiner. Draconia stand der Schweiß auf der Stirn. „Meine Zauberkraft reicht nicht aus. Ihr müsste mir helfen!“
Die anderen stellten sich neben sie und nahmen ihre Zauberstäbe. Mit den Spitzen ihrer Stäbe berührten sie Draconias Stab. Auf diese Weise konnten sie Draconia von ihrer Zauberkraft etwas abgeben. Die Sandfontäne wurde wieder größer, der Tunnel bohrte sich weiter vor und dann, plötzlich, hörte der Sand auf, aus dem Tunnel zu schießen.
„Geschafft“, sagte Draconia, und vor Erschöpfung setzte sie sich auf den Boden. Auch die anderen fühlten sich etwas schwach. „Am besten, wir machen eine kleine Pause und essen etwas.“ Mit diesem Vorschlag von Netti waren alle einverstanden, und so saßen sie im Sand und aßen von ihren Vorräten.
„Mir wird kalt“, sagte Netti schließlich. Das war auch kein Wunder: vom Graben und Zaubern war sie etwas verschwitzt gewesen, und der Wüstenwind, der tatsächlich genauso kalt war wie Draconia es gesagt hatte, ließ sie jetzt vor Kälte zittern.
„Mir auch. Am besten gehen wir los. Ich habe mich sowieso genug ausgeruht“, sagte Miranda und stand auf. Die anderen folgten ihr. Am Tunneleingang zauberte Miranda ein Hexenlicht, und sie gingen in die Tiefe.
Kurze Zeit später standen sie am Ende des Tunnels vor der Öffnung der Pyramide. Hier war Sand ins Innere der Pyramide gefallen. Mit etwas Mühe konnten sie über den großen Sandhaufen klettern und waren im Inneren der Pyramide.
„Wartet!“, sagte Draconia. „Wir müssen sehr vorsichtig sein. Ich habe letzte Woche viel über Pyramiden gelesen – meist gibt es in ihnen irgendwelche Fallen, damit niemand einbrechen kann. Passt genau auf, wohin ihr tretet.“
Nach dieser Warnung gingen sie langsam los. Sie gingen durch einen Gang, der breit genug war, dass sie alle nebeneinander Platz hatten, und Miranda leuchtete mit ihrem Hexenlicht. Rechts und links an den Wänden sahen sie viele Bilder. Einige von ihnen waren groß und zeigten Menschen und Tiere, aber es gab auch Stellen, an denen waren viele, viele Bilder neben- und untereinandergezeichnet. „Das sind Hieroglyphen“, erklärte Draconia. „Das ist so eine Art Schrift.“
Netti schaute sich die Hieroglyphen genau an. „Hier sind Vögel, und Wellenlinien, und das hier könnte ein Schiff sein. Das ist aber eine komische Schrift, oder?“ Netti konnte zwar noch nicht lesen, aber dass normale Schrift ganz anders aussah, wusste sie trotzdem.
Nachdem sie ein Stück gegangen waren, kamen sie an eine Abzweigung. „Gehen wir links oder rechts?“, fragte Draconia.
„Keine Ahnung“, meinte Miranda, „sieht alles gleich aus.“ Sie beschlossen, nach rechts zu gehen, aber bevor sie das taten, nahm Draconia ein Stück Kreide aus ihrem Rucksack und zeichnete einen Pfeil an die Wand, der zum Ausgang zeigte. Darüber schrieb sie eine große „1“.
„Was machst Du denn da?“, wollte Netti wissen.
„Damit wir nachher den Ausgang wiederfinden. Der Pfeil zeigt in die Richtung, aus der wir gekommen sind, und die Eins sagt uns, dass es die erste Kreuzung ist, an der wir waren.“
„Tolle Idee“, lobte Miranda, „dann können wir uns wenigstens nicht verirren.“
Nachdem sie eine ganze Weile durch die Pyramide gegangen waren, waren sie froh über Draconias Idee, denn die Gänge verzweigten sich immer und immer wieder, und niemand von ihnen hätte noch den Rückweg finden können. Langsam wurden sie müde, und ihre Schritte wurden langsamer. Nettis Füße schlurften über den Boden.
„Halt!“, rief Miranda plötzlich. Alle blieben schlagartig stehen. „Schaut mal da auf den Boden.“ Als sie nach unten sahen, konnten sie es alle erkennen: Eine kleine Fuge lief über den Boden, wie ein kleiner Riss. Miranda beugte sich nach vorn und tastete den Stein auf der anderen Seite der Fuge ab. „Der Stein lässt sich nach unten drücken, glaube ich.“ Sie nahm ihren Zauberstab und drückte damit den Stein kräftig nach unten. Über ihnen ertönte ein rumpelndes Geräusch. Mit einem Satz sprangen sie alle nach hinten, gerade noch rechtzeitig, denn vor ihnen krachte ein gewaltiger Steinquader von der Decke auf den Boden. Netti kreischte auf.
„Wenn wir da drunter gestanden hätten, dann wären wir jetzt plattgequetscht“, meinte Draconia, die ganz bleich geworden war. „Gut dass Du aufgepasst hast.“ Nachdem sie einen Moment verschnauft hatten und ihre Beine nicht mehr so zitterten, kletterten sie vorsichtig über den Stein und gingen weiter. Jetzt achteten sie noch genauer darauf, wohin sie traten.
„Wie lange sind wir eigentlich schon hier drinnen?“, wollte Draconia nach einer ganzen Weile wissen.
„Keine Ahnung. Vermutlich schon ein paar Stunden“, sagte Miranda.
„Müssten wir nicht langsam mal irgendwo ankommen?“
Kaum hatte Draconia dies gefragt, da sagte Netti plötzlich „Oh nein!“, und zeigte auf die Wand an der Wegkreuzung, vor ihnen. An die Wand war ein Kreidepfeil gemalt, über dem eine große „3“ stand.
„Wir sind wieder fast am Ausgang! Wir sind vermutlich immer nur im Kreis oder Zickzack herumgelaufen. So ein Mist!“ Draconia wurde richtig ärgerlich.
„Und meine Füße tun langsam weh“, sagte Miranda.
„Meine erstmal. Meint ihr, wir finden den Schatz noch?“ Nettis Stimme klang ganz verzweifelt, und Miranda, die sie gut kannte, konnte hören, dass sie den Tränen nahe war. Da hatte Miranda eine Idee: „Die Kristallkugel!“, rief sie. „Vielleicht finden wir damit einen Hinweis.“
Miranda holte ihre Kristallkugel heraus, zauberte ihren Spruch und schaute durch die Kugel auf die Wände. Zuerst sah sie nichts besonderes, doch dann fiel ihr etwas auf: Einige Hieroglyphen leuchteten, wenn sie sie durch die Kristallkugel ansah. Es waren diejenigen, die aussahen wie Vögel. Allerdings nicht alle von ihnen, sondern nur die, deren Köpfe nach rechts zeigten. Schnell erklärte sie den anderen, was sie gesehen hatte. „Das muss der Wegweiser sein. Wir müssen nach rechts gehen, wo die Köpfe hinzeigen.“
Aufgeregt folgten sie der Spur der Hieroglyphen, aber Draconia bremste sie, denn sie mussten immer noch vorsichtig sein, um in keine Falle zu laufen. An jeder Kreuzung spähte Miranda wieder durch die Kristallkugel, um die Richtung zu bestimmen, während Draconia ihre Kreidepfeile malte.
Es dauerte nicht mehr lange, und die drei standen in einer großen Kammer, in der der Weg endete. Die Kammer hatte besonders bunt bemalte Wände und in den Ecken standen steinerne Statuen. Auf dem Boden in der Mitte der Kammer lag eine große Steinplatte, ansonsten war sie leer.
„Das war bestimmt die Schatzkammer“, sagte Draconia „Nur ist sie jetzt ausgeraubt.“
„Hoffentlich haben die Räuber nicht auch Medeas Schatzkästchen mitgenommen.“ Besorgt schaute Miranda durch ihre Kristallkugel. Sie sah, dass die Steinplatte in der Mitte leuchtete. Als sie es den anderen gesagt hatte, stürzten sie alle dorthin, um mit den Händen zu tasten, ob das Kästchen dort unsichtbar verborgen war. Leider aber fanden sie nichts. Nach einer Weile sagte Miranda traurig, „Ich glaube, das Kästchen ist doch weg.“
„Vielleicht ist es ja unter der Steinplatte“, schlug Netti vor. Die drei versuchten, die Platte anzuheben, doch sie war viel zu schwer. Zum Glück fiel Draconia ein passender Zauber ein, mit dem sie sich stark zaubern konnte. Nachdem sie ihn gesprochen hatte, konnte sie die schwere Steinplatte an einer Seite anheben. Netti, die ja die kleinste war, zwängte sich darunter. Sie tastete eine Weile herum.
„Beeil’ Dich!“, rief Draconia. „ich weiß nicht genau, wie lange der Zauber hält.“
„Hier ist eine Vertiefung!“ Netti tastete sich vorwärts. „Ich hab es.“ Schnell krabbelte sie wieder hinaus und zeigte den anderen stolz das Kästchen. Draconia ließ die Steinplatte los, die mit einem ohrenbetäubenden Knall zu Boden krachte.
Alle waren viel zu müde, um sofort in das Kästchen zu sehen. Sie wollten nichts anderes, als endlich aus der Pyramide herauszusein. So machten sie sich auf den Weg nach Draußen.
Zu ihrer Überraschung war es dunkel. „Kein Wunder, dass wir so müde sind“, meinte Draconia, „wir waren den ganzen Tag in der Pyramide.“
„Aber wir sollten nach Hause fliegen. Ich habe keine Lust, hier in der Wüste zu übernachten.“ Also machten sie sich müde auf den Heimweg.
Als sie endlich zuhause ankamen, wollten sie nur noch in ihre Betten. Sie nahmen sich nicht einmal mehr die Zeit, das Kästchen zu öffnen. Draconia verabschiedete sich, während Miranda und Netti in Mirandas Haus gingen und sich beide im Hochbett einkuschelten.
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