Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
Exzellenz,
sehr geehrter Herr Staatssekretär,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

als Bundesvorsitzender des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands darf ich Sie zum 48. Deutschen Historikertag ebenfalls begrüßen und herzlich willkommen heißen!

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Der Historikertag bietet uns alle zwei Jahre die Gelegenheit, Bilanz zu ziehen und zu fragen: Wie steht es um den Geschichtsunterricht in Deutschland? Die Situation in den einzelnen Bundesländern stellt sich genau so heterogen dar wie unsere gesamte Bildungslandschaft. In den meisten Bundesländern hat der Geschichtsunterricht einen akzeptablen Stellenwert im Fächerkanon; wo das nicht so zufriedenstellend vorhanden ist, zeigen sich besonders in den Abgängern der mittleren Schulabschlüsse erhebliche Defizite.

In den Jahren 2009 und 2010 ist unser Fach zwar etwas ins Gerede gekommen ob der – manchmal allerdings erschreckenden – Wissenslücken über die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, jedoch hat es keine dramatischen Einbußen erlitten, – außer in Nordrhein-Westfalen. Das ist angesichts der zahlreichen Umbrüche und Veränderungen schon bemerkenswert. Im Fazit ist es also erfreulich, dass die Notwendigkeit einer Pflege des Geschichtsbewusstseins und die hohe Einschätzung des Bildungswerts unseres Faches nach wie vor allgemeine Anerkennung findet. Besorgt sein müssen wir allerdings über die Erhaltung des Fachprofils und die kontinuierliche Belegung. Auch ist die Neigung mancher Kultusverwaltungen erkennbar, die Fächer des gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeldes zusammenzulegen oder deren Belegung alternativ zuzulassen.

Es muss deutlich gesagt werden, dass nur ein Fach Geschichte mit spezifischem Profil und in durchgängiger Belegung, mindestens 2-stündig bildungstheoretisch einen Sinn macht, eine Forderung, die der Verband der Geschichtslehrer in seiner Mainzer Erklärung vom 22. Mai 2005 ja klar formuliert hat.

Ist ferner die Betonung der Zeitgeschichte durch die beiden Beschlüsse der Kultusministerkonferenz von 2009 zu begrüßen, – was der Geschichtslehrerverband durch Kooperationen vor allem mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen und dem Mitteldeutschen Rundfunk bestrebt ist, konstruktiv mitzugestalten -, so ist immer noch eine erstaunliche Zurückhaltung in der Frage zu verzeichnen, wie unsere inzwischen recht häufigen multi-ethnisch zusammengesetzten Lerngruppen besser unterrichtet werden können, auch im Bereich Geschichte. In unserem Fach dürfte das zum Beispiel keine unlösbare Aufgabe darstellen, denn es gibt – besonders im Hinblick auf die globale Perspektive des Geschichtsunterrichts – durchaus thematische Berührungspunkte und Überschneidungen zur Geschichte anderer Kulturkreise.

Altbundespräsident Richard von Weizsäcker weist hier – über diesen Einzelfall hinausgehend – für die Erziehung insgesamt einen Weg, wenn er in seinen Erinnerungen sagt: „Es ist eine unersetzliche Hilfe, die Bedeutung der Kultur anderer Völker zu begreifen und sie achten zu lernen” und in diesem Zusammenhang die Frage stellt: „Wie lernen wir es, uns im Zeichen des erweiterten Europa und der Globalisierung aller Verhältnisse nicht abzuschotten und doch das Gefühl der eigenen Heimat zu bewahren?” Sie als eine der wichtigsten Fragen des 21. Jahrhunderts zu bezeichnen, ist sicher berechtigt.

Das Motto des diesjährigen Historikertages – „Über Grenzen” – spricht diese Thematik an. Es ist den Lebenserinnerungen Ralf Dahrendorfs entlehnt, der es als „Weltkind” liebte und Vergnügen daran fand, Grenzen in mancherlei Hinsicht, aber stets produktiv, zu überschreiten und der das Problem „Grenze” so schön auf den Punkt gebracht hat, indem er sagt: „Grenzen schaffen ein willkommenes Element von Struktur und Bestimmtheit. Es kommt darauf an, sie durchlässig zu machen, offen für alle, die sie überqueren wollen, um die andere Seite zu sehen, Eine Welt ohne Grenzen ist eine Wüste, eine Welt mit geschlossenen Grenzen ist ein Gefängnis; die Freiheit gedeiht in einer Welt offener Grenzen”.

Auch dies ein Gedanke, der uns leiten kann. Er schlägt sich ja auch in diesem Kongress nieder, der sich in seiner Vielfältigkeit der Themen und Fragestellungen wie in der Offenheit gegenüber Fachgrenzen und Nachbardisziplinen, nicht zuletzt auch in seiner angestrebten Internationalität als zeitgemäßer Reflexionsraum erweist und überzeugend darstellt. Bei allem Pragmatismus und Erfolgsdenken, das uns leitet und das das Handeln in vielen Bereichen der Gesellschaft bestimmt, müssen wir gerade in dieser Situation mehr und mehr Freiraum für das Nachdenken über Möglichkeiten, Formen, aber auch – vor allem ethische – Grenzen unseres Tuns schaffen. Die Geschichte als umfassender Erfahrungsschatz menschlichen Handelns bietet hierzu eine Fülle von Anregungen und Beispielen, die dem genannten Bemühen eine zeitliche Tiefendimension verleiht. Diesen Schatz ausgiebig zu nutzen zur Gestaltung unserer Gegenwart sollten wir nicht versäumen. Aber das brauche ich ja hier in diesem Kreise nicht zu betonen.

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Für einen guten Unterricht bedarf es nun aber auch gut ausgebildeter Fachlehrer. Mit Sorge beobachten wir, wie sich in den letzten Jahren die Lehrerausbildung entwickelt, wie zum Beispiel die Fragmentierung historischer Wissens in der universitären Ausbildung weiter zunimmt, ein Gesamtüberblick über die Epochen kaum mehr vermittelt wird, zudem die fehlende Einheitlichkeit in den Ausbildungsgängen der Länder die Situation noch unübersichtlicher macht und erschwert. Da diese Gefahren nach meinem Eindruck aber erkannt worden sind, ist zu hoffen, dass es sich dabei um ein vorübergehendes und beherrschbares Problem handelt. Was das Auseinanderdriften der Länderlösungen bezüglich der Lerninhalte betrifft, so könnte es – nicht nur für das Fach Geschichte – hilfreich sein, sich auf einen gemeinsamen Kernbestand von Bildung zu verständigen und ein bundesweites Kerncurriculum zur Grundlage der Ländercurricula zu machen. Ein solcher Kernbestand ist etwa in unserem Fach durchaus vorhanden, – bei aller Unterschiedlichkeit der didaktischen Zugänge. Als Voraussetzung für diesen kühnen Schritt müssten die Länder aber erst einmal die Notwendigkeit dieser längst überfälligen Reform erkennen und zu entsprechenden Maßnahmen bereit sein. Angesichts dieser und vieler anderer Probleme im Bildungsbereich frage nicht nur ich mich, ob die Form eines derart ausgeprägten Bildungsföderalismus, die wir heute in Deutschland haben, noch zeitgemäß und effektiv – und vielleicht nicht allzu historisch bedingt, um nicht zu sagen: anachronistisch – ist.

Hochkonjunktur in der Bildungspolitik hat immer noch die Formulierung von Bildungsstandards und Kompetenzen. Ist es ein nicht nur bei den Kultusverwaltungen, sondern auch in der Öffentlichkeit sehr berechtigter Wunsch, die Ergebnisse von Lernprozessen ausgewiesen und realisiert zu sehen, und ist es – im Fach Geschichte – sehr berechtigt, historische Urteilsfähigkeit höher zu schätzen als reines Faktenwissen, so ist doch Folgendes zu bedenken: Historische Urteilsfähigkeit entsteht bekanntlich nicht im luftleeren Raum, sondern bildet sich an Hand konkreter Inhalte aus – und wird auch in dieser Verbindung, d.h. an Hand von Wissenselementen, aktualisiert. Deshalb ist parallel zur Förderung der Urteilsfähigkeit auch der Erwerb von exemplarischem Wissen erforderlich, d.h. die Erkenntnissen und Einsichten, die erreicht werden sollen, müssen sich auf ein verbindliches Faktengerüst stützen, neben einer Formulierung von Kompetenzen ist also zusätzlich ein wissensbasiertes Kerncurriculum erforderlich. Der Weg, den Hessen hier eingeschlagen hat, macht keinen Sinn und führt in die Irre. In diesem Zusammenhang wird unser Verband hier in Berlin auch wieder Vorschläge in dieser Frage zur Diskussion stellen.

Erste Ergebnisse in der Anwendung der Standards haben nun aber, wenn ich es recht sehe, keine überzeugenden Resultate hinsichtlich der Intensivierung des Unterrichts und dessen Ergebnisse gebracht. Im Übrigen bin ich nach wie vor skeptisch, ob sich Bildung mit quantifizierenden Methoden überhaupt und auf administrativem Wege allein hinreichend sichern lässt. Wir brauchen ein allgemeines Lernumfeld, das Bildung schätzt, dabei alle am Bildungsprozess Beteiligten – Schüler, Lehrer und Eltern – in der jeweiligen Weise fördert und zugleich fordert. Der Bildungsgipfel, den Sie – Frau Bundeskanzlerin – im Jahre 2008 initiierten und auf dem Sie den Aufbruch in die „Bildungsrepublik Deutschland” ankündigten, hat leider bis heute noch nicht die gewünschte Neuausrichtung gebracht. Die Zielsetzung ist aber sehr zu begrüßen und sollte keinesfalls aufgegeben werden. Deutschlands Zukunft liegt ganz entscheidend in der Bildung!

Ich wünsche dem 48. Deutschen Historikertag einen guten Verlauf und uns allen spannende und ertragreiche Tage hier in Berlin!

(Fotos: CJ)