„If you are so smart, why aren’t you rich?” Mit diesem Satz illustrierte Jan-Otmar Hesse eine zentrale Frage der in dieser Sektion geführten Debatte: Denn was kann eine mathematisierte und theoretisierte Wirtschaftswissenschaft zur Beantwortung praktischer ökonomischer Fragen eigentlich beitragen? Zu zeigen, inwiefern diese Frage nach der Diskrepanz zwischen Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft die Geschichte der ökonomischen Disziplin durchzog, war das Ziel dieser Sektion auf dem 48. Historikertag.

Seit der Finanzkrise befinden sich die Wirtschaftswissenschaften in einer Legitimitätskrise.

Von Albrecht Franz

Wenn sich die Wirtschaftswissenschaftlerin Esther-Mirjam Sent zu Beginn ihres Vortrages mit einem Hauch von Ironie dafür entschuldigt, Ökonomin zu sein, so liegt das an der gegenwärtigen Legitimitätskrise eines Fachs, das die Finanzkrise nicht zu prognostizieren vermochte – trotz komplexer theoretisch-mathematischer Modelle, deren Geltungsanspruch oft weit über das Ökonomische hinausgeht. Auch Roman Köster, der die Sektion einleitete, kam nicht umhin, auf die Häme zu verweisen, die derzeit in Teilen der Presse über die Wirtschaftswissenschaft ausgeschüttet wird: Zu offensichtlich ist die Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Anspruch, komplexe Regeln und Mechanismen der Wirtschaft abbilden und erklären zu können, und der Unfähigkeit, fundamentale Zäsuren derselben vorherzusehen. Diese Kluft zwischen Theorie und Praxis in den Wirtschaftswissenschaften bildete den zentralen Angelpunkt der Diskussion in der Sektion „Grenzgänge zwischen Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaften”.

* Das Bild zeigt Jan-Otmar Hesse, der über den Geldtheoretiker Albert Hahn spricht (Foto: Albrecht Franz)
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Semantische Grenzbildung in den Wirtschaftswissenschaften

Auch die Wirtschaftswissenschaft hat eine Geschichte: Ihre Methoden und Ansprüche standen zu verschiedenen Zeitpunkten zur Disposition und veränderten sich. Die Debatten um die Festlegung der Grenzen des Fachs kreisten dabei maßgeblich um die Pole Theorie und Praxis. Die Geschichte dieser Diskussionen ist zugleich die Geschichte der Selbstbeschreibung und der semantischen Bestimmung einer wissenschaftlichen Disziplin. Denn eine prinzipielle personelle oder institutionelle Abgrenzung zwischen den beiden Sphären Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft gibt es nicht.

i-7da5c9483a7672015979aaa59d12b055-Ludwig_Joseph_Brentano.jpgUm diesen Prozess der Grenzziehung herauszuarbeiten und dessen Bedeutung für die Ausrichtung der Disziplin zu bestimmen, stellten die Referenten bestimmte Fälle und Personen vor, die diese Grenzen in Frage stellten oder überschritten.

Nils Goldschmidt arbeitete am Beispiel der Historischen Schule der Nationalökonomie eine wichtige Phase für die Selbstverortung der Wirtschaftswissenschaften heraus. Denn Ziel von Gustav Schmoller und Lujo Brentano (das Foto rechts zeigt Brentano im Jahr 1890) – um nur zwei der bekanntesten Vertreter zu nennen – war eine Ausrichtung der Disziplin an konkreten sozialpolitischen Fragen. Der Lösung der „sozialen Frage” sollte die Nationalökonomie dienen, politische Ziele die Ausrichtung der Wissenschaft bestimmen.

Der Historischen Schule der Nationalökonomie wurde mangelnde Systematik vorgeworfen.

Allerdings scheiterten die Vertreter der „Historischen Schule” gemessen an diesem Anspruch an ihrem Fach. Zu wenig systematisch sei sie, wurde ihr alsbald von einer jüngeren Generation von Ökonomen vorgeworfen. Deren Gegenentwurf folgte einer anderen Logik: Wenn es gelänge, die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten auf theoretischem Wege zu entschlüsseln und in Modelle zu verwandeln, habe man auch die Techniken zu deren Steuerung in der Hand.

Roman Köster vermochte dieses Bild weiter zu differenzieren, indem er den Blick auf diejenigen Nationalökonomen richtete, die in der Weimarer Zeit Theorielosigkeit und Methodenpluralismus als ernsthaftes Problem ihres Faches identifizierten. Konsequent wurden diese „Missstände” in der Folgezeit beseitigt, die Tendenz zur Modellbildung mit Hilfe mathematischer Methoden setzte sich durch. Ziel dieser Maßnahmen war jedoch durchaus eine stärkere Praxisorientierung – ein nur scheinbares Paradoxon, glaubte man doch, durch die Beherrschung der Modelle auch über ordnungspolitische Techniken zu verfügen.

Personale Grenzüberschreitungen

Jan-Otmar Hesse und Jeff Fear richteten in ihren Beiträgen den Blick auf bestimmte Personen, welche sich über den Graben zwischen Theorie und Praxis hinweg bewegten. So war der Geldtheoretiker Albert Hahn als Bankier zwar eher den Praktikern zuzuordnen; gerade dieser Umstand scheint ihm jedoch in den krisenhaften 1920er-Jahren Legitimität verliehen zu haben, denn seine Geldtheorien wurden in der Wissenschaft durchaus rezipiert. Demgegenüber zeigte der Ökonom Jeff Fear am Beispiel des Wirtschaftswissenschaftlers Eugen Schmalenbach, wie eine an den unternehmerischen Realitäten orientierte Wissenschaft mit dem Stigma der Praxisnähe behaftet sein kann. Bis heute ist die von Schmalenbach vor allem seit den 1930er- Jahren vorangetriebene Betriebswirtschaftslehre dem Vorwurf ausgesetzt, nicht „wissenschaftlich” zu sein: ein klarer Fall von „Ausgrenzung” einer Teildisziplin.

Die Grenze hin zur Praxis überschritt der von Esther-Mirjam Sent vorgestellte US-Ökonom Thomas Schelling auf ganz andere Weise. Als ein wichtiger Vertreter der Spieltheorie entwickelte er im Kontext des Kalten Krieges im Auftrag der Politik Modelle der „rationalen”, „begrenzten” Kriegsführung, welche beim Ausbruch des Vietnamkriegs angewandt – und mit dessen Eskalation auch gleich eindrücklich widerlegt wurden. Anhand dieses Falls wurde zweierlei noch einmal deutlich: der universelle Anspruch, den die ökonomische Wissenschaft ihren Modellen zeitweise zugemessen hat, und zugleich die engen Grenzen, die deren theoretischen Annahmen in der Praxis gesetzt sind. Dennoch, so Sent, habe die Ökonomie im historischen Verlauf die Orientierung an praktischen Fragen – seien es unternehmerische, soziale oder politische – weitgehend aufgegeben.

Wirtschaftskrisen zwingen das Fach zur Thematisierung ihrer Methoden und des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis.

Theorie und Praxis bilden – in diesem Punkt waren sich die Referenten einig – ein zentrales Gegensatzpaar der wirtschaftswissenschaftlichen Selbstbeschreibung. Gegensätze freilich, die häufig eher eine Grenze semantischer Art darstellten. Die Neudefinition oder Überschreitung dieser Grenze zwischen der Wirtschaft und der Wissenschaft geschah punktuell und folgte bestimmten Konjunkturen. Dabei scheinen Wirtschaftskrisen, wie etwa die der Weimarer Jahre, eine wichtige Rolle zu spielen. In Ihnen wird das Verhältnis von Theorie und Praxis verstärkt thematisiert, sie sorgen für Debatten um die entsprechenden Methoden, wie die Reaktion auf die gegenwärtige Krise nur allzu deutlich zeigt. Diese – vom Publikum offenbar unterschätzte – Sektion bot einen spannenden Blick auf historische Prozesse, die von höchster Aktualität sind.

(Redaktion: KP/MS/CJ)

Kommentare (4)

  1. #1 Ulrich Berger
    Oktober 5, 2010

    Bis heute ist die von Schmalenbach vor allem seit den 1930er Jahren vorangetriebene Betriebswirtschaftslehre dem Vorwurf ausgesetzt, nicht „wissenschaftlich” zu sein: ein klarer Fall von „Ausgrenzung” einer Teildisziplin.

    Mag sein, aber zumindest teilweise zu Recht. Der BWL fehlt eine einheitliche Theorie und in großen Teilen ist sie eine Methodensammlung.

  2. #2 kamy
    Oktober 6, 2010

    Ich denke, man muss zwischen Beschreibung eines Zustandes oder eines wirtschaftlichen Prozesses und der Prognostik unterscheiden. Man kann das durchaus mit dem Wetter oder Klima vergleichen: es ist leichter einen gegenwärtigen Zustand bis in die kleinste Details zu erforschen, als Prognosen bis zur nächsten Woche zu erstellen. Das Problem ist die Generalisierbarkeit der gefundenen Modelle.
    Ich kann mich noch erinnern, dass ich mit Kollegen schon in den 90ern die hohe private Verschuldung in den USA diskutiert habe. Es war absehbar, dass es irgendwann “knallt”, aber wann und vor allem, was dann am Ende der auslösende Moment ist, kann ähnlich schwer prognostiziert werden, wie das Entstehen eines Tornados – die Großwetterlage kann auf ein Unwetter hindeuten, nur wann und wo die Katastrophe zuschlägt kann man auch in der Wirtschaftswissenschaft noch nicht wirklich gut beschreiben. … ist aber in Arbeit 😉
    Es ist vielleicht auch oft ein wenig unfair, den Leuten schlechte Prognosen vorzuwerfen. Stellt euch mal vor, ihr hättet in den Achtzigern eine Bevölkerungsprognose erstellen müssen – tja, und dann kam die Wiedervereinigung. Seid ihr dann ein schlechter Prognostiker gewesen, weil ihr mit eurer Prognose so weit daneben gelegen habt? (Sorry, für das simple Beispiel). Oder: eure Prognose verändert den Lauf der Entwicklung, wenn ihr zum Bsp. Berater seid.
    Ich glaube, an die Güte von Prognosen werden zu hohe Erwartungen gestellt. Auch wirtschaftliche Entwicklungen sind chaotisch, aber die Wiwi’s müssen immer das “Weihnachtswetter” korrekt vorhersagen. Seufz.

  3. #3 Christian Jung
    Oktober 6, 2010

    @kamy
    An Deinen Ausführungen zeigt Du, weshalb Historiker nicht unbedingt versuchen sollten, die Zukunft vorauszusagen. Auch wenn die Geschichte immer den sog. “Wellenbewegungen” folgt, können die wenigsten Ereignisse vorausgesagt werden.

  4. #4 miesepeter3
    Oktober 7, 2010

    Die Wirtschaftswissenschaften kann man auch als Komprimat aller Wissenschaften bezeichnen. Man untersucht etwas, stellt eine gewisse Regelmäßigkeit fest und erhebt diese zum Naturgesetz. Das geht immer so lange gut, bis ein nicht regelkonformes Ereignis stattfindet. Dann wird das “Naturgesetz” zur widerlegten Theorie. Nur geht das bei den Wirtschaftswissenschaften um einiges schneller als in den Naturwissenschaften.
    Wie heißt es so schön? “Irre sind menschlich”.