In der von Werner Riess (Chapel Hill) und Martin Zimmermann (München) geleiteten Sektion „Grenzen der Gewalt – Definition, Repräsentation und Einhegung eines universalen Phänomens in antiken Kulturen” (1.10.2010) wurden überlieferte Gewaltbilder verschiedener Quellentypen der griechischen und römischen Geschichte einander gegenübergestellt. Dabei ging es nicht nur um einen Vergleich der antiken Herangehensweisen an die Gewalt und die vielfältige Auseinandersetzung mit dieser in Literatur, Kunst und weiteren Quellengattungen, Medien und Kontexten, sondern auch um die Frage, inwieweit die antiken Vorstellungen von Gewalt mit dem aktuellen „westlichen” Gewaltbegriff kompatibel sind.

Von Christian Jung

Plötzliche Konfrontation mit Gewalt

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In seinem Vortrag „Literarische Gewaltbilder als Medien moralischer, politischer und kultureller Grenzziehungen” betonte Prof. Dr. Martin Zimmermann (München) zu Beginn, dass der Mensch immer fähig sei, „physische Gewalt auszuüben, und daher auch ständig in Gefahr” sei, „sie durch andere zu erleiden”. Diese banale Grundaussage benenne zwar recht neutral die verstörende Grundbedingung der menschlichen Existenz. Doch ist nach seinen Worten die Gefahr der plötzlichen Konfrontation mit Gewalt im Denken und Handeln von Individuen und Gemeinschaften existent. Dies erklärt auch die Entwicklung von Schutzgeistern, die sich später in den christlichen Schutzengeln manifestierte.

Rausch der Gewalt im Götterhimmel als Ordnungsinitiation

Am Beispiel der irratonalen Sorge, die Gewaltbereitschaft der Gesellschaft nehme zu, und die Medienberichterstattung über Ereignisse, die mit Gewalt in Verbindung stehen, werden immer wieder diffuse Gefühle und Ängste verstärkt. Diese gefährden für Zimmermann „immer die in langen Prozessen ausgehandelten Modi der Gewaltbändigung” auf grundsätzliche Weise. Nach dieser Einführung spannte der Referent den inhaltlichen Bogen zurück zur mythischen Weltentstehung und des Pantheons, wie sie schon von Hesiod in seiner Theogonie beschrieben wird. Der seine Kinder verschlingende Uranus ist laut dem Münchener Althistoriker der erste, der im Rausch der Gewalt die „aeikieia erga”, die schrecklichen Taten vollführt und dadurch im Götterhimmel die gute Ordnung indirekt mit initiiert.

Schutz des Einzelnen gegen Gewalt

Nach zahlreichen Gewaltanwendungen schafft es dann schließlich Zeus nach langem Kampf gegen die Giganten, eine mit dem Recht in Verbindung stehende Ordnung, in der die physische Gewalt kalkulierbar wird und illegitime Formen der Gewalt „grausam und mitleidlos” bestraft werden, zu errichten. Durch die fortwährende mythische Reflexion und die Weitergabe an die folgenden Generationen kam es schließlich in den antiken Gesellschaften zu einem komplizierten Prozess, in dem der Einzelne gegen Gewalt geschützt und seine körperliche Integrität gewährleistet wurde. So ist auch zu erklären, dass bei Verstößen gegen diese mythische Ordnung Züchtigung und Todesstrafe nur durch Personen vorgenommen wurden, die man im Konsens und gemeinschaftlich zu diesem Zweck bestellte.

Antike Medien thematisierten Optionen menschlichen Handelns

Eine Aufhebung dieser Machtzustände lässt sich nach Auskunft von Zimmermann etwa „beim Tyrannenmord studieren, in dessen Umfeld Lynchjustiz verübt und sogar die sakrale Ordnung ausgesetzt wird”. Die Option des menschlichen Handelns, aber insbesondere die Aufhebung von Machtzuständen durch eine „Transgression der Ordnung” seien in damaligen Kommunikationsformen und Medien ununterbrochen thematisiert und ausgehandelt worden. „Dies geschah in performativen Akten, Ritualen, in Bildwerken und in besonders vielfältiger Art auch in den Schriften unterschiedlicher historischer Gattungen”, sagte Zimmermann und unterstrich, dass neben Tragödien und Epik insbesondere die Geschichtsschreibung und Biographie eine zentrale Rolle bei der Beantwortung der Frage gespielt habe, welche Formen von Gewalt legitim und illegitim sind.

Aufhebung der Ordnung durch Übertreibung

Das explizite Sprechen über Gewalt in der Literatur hat nach der Analyse Zimmermanns jedoch keine direkte moralisch-ethische Funktion, sondern verfolge, wie am Beispiel der Biographie Plutarchs über Cicero deutlich wird, andere Zielsetzungen. In der episch ausgeschmückten Lebensgeschichte zwingt die Frau Ciceros einen am Mord an ihrem Mann Beteiligten, sich das Fleisch von den Armen zu schneiden, dieses zu grillen und zu verspeisen. Diese in Anlehnung an den damals geläufigen Aias-Mythos aus medizinischer Sicht nicht durchführbare Handlung offenbart demnach durch die bewusst phantasievolle Schilderung als Motiv die Aufhebung der traditionellen Ordnung durch die literarische Übertreibung. In dieser wird nicht das Handeln der Ehefrau beurteilt, sondern auf einer damals für alle zugänglichen und verstehbaren Metaebene der Irrsinn als Folge des römischen Bürgerkriegs hervorgehoben, über den es nachzudenken gilt.

Erfundene Geschichten müssen analysiert werden

Auch zahlreiche Autoren der Kaiserzeit untersuchten in diesem Zusammenhang, ob der Leser durch Affekterregung oder durch klare politische Analyse zu einem Urteil geführt werden solle. Doch die Gewaltschilderungen verraten nichts über die persönlichen Meinungen der Autoren. Sie überlassen es dem Leser, wie er über Gewaltakte denkt. Moderne Historiker stehen für Zimmermann infolgedessen vor der Herausforderung, mit Bildern und Berichten konfrontiert zu werden, „die zum Zwecke der genannten Verständigung erfunden sind und nichts mit realen Vorfällen mehr zu tun haben.”

Prämissen für Gewaltbilder

Drei Prämissen für Gewaltbilder wurden in der Folge vom Referenten eingeführt: „Zum ersten wollten die Produzenten der Bilder tatsächlich über reale Gewalt berichten. Sie wählten zweitens dafür Bilder, die das Geschehen abweichend von den tatsächlichen Vorkommnissen schildern, wobei sie auf gängige Motive zurückgriffen. Zum dritten waren Bild und Text an ein Publikum gerichtet, das diese Informationen unmittelbar lesen und verstehen konnte.” Hinter den Gewaltbildern römischer Historiographie habe auch ein heftig geführter politischer Konkurrenzkampf innerhalb der Aristokratie gestanden, den die Mitglieder der Führungsschicht mit medialen Mitteln austrugen. Insbesondere bei der biographischen und historiographischen Darstellung der einzelnen Kaiser wurde ein besonderer Einfallsreichtum entwickelt, um Hinrichtungen und Selbstmorde von Mitgliedern der römischen Führungsschicht in allen Farben auszumalen.

Horrormotive eröffnen neues Verständnis für die Antike

Solche Horrorszenarien gäben jedoch keine Hinweise über reale physische Gewalt. „Dafür eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten, hinter der Erzählung stehende Absichten zu ermitteln und politische Konflikte zu diagnostizieren sowie juristische wie moralisch-ethische Aushandlungsprozesse zu beschreiben. Die Beschäftigung mit den Horrormotiven in der Geschichtsschreibung eröffnet die Chance, in ganz unterschiedlichen Feldern neue Einsichten zu gewinnen”, betonte Martin Zimmermann abschließend. Sie sind für ihn ein wichtiger Schlüssel für das Verständnis antiker Kulturen, indem durch die Gewalt-Darstellungsstrategien der Autoren die Rolle der Gewalt und die Aushandlungsprozesse von Macht und Ordnung in den jeweiligen Epochen und Gesellschaften besser analysiert werden können.

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Bilderwelt Athens im 6. und 5. Jahrhundert

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Mit dem Thema „Bilder der Gewalt – Annäherung an eine historische Interpretation medialer Gewalt” beschäftigte sich im Anschluss Prof. Dr. Susanne Muth (Berlin), die kurzfristig verhindert war und von Dr. Katharina Lorenz (Nottingham) vertreten wurde, die ihr Manuskript zusammen mit zahlreichen Bildbeispielen vortrug. Seitdem sich die Altertumswissenschaften zunehmend den Fragen nach den Kulturen der Gewalt zugewandt hätten, richte sich ihr Blick immer wieder auf die Bilderwelt Athens im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr., so Muth. Denn in der Bildwelt des archaischen und klassischen Athen gebe es den wohl aufschlussreichsten und zugleich herausforderndsten Befund, wenn es um das „Verhandeln” von Gewalt im Medium des Bildes in der griechischen und römischen Antike gehe.

Grundsätzliche Möglichkeiten der historischen Interpretation

„Entsprechend hat sich dieser Befund der attischen Bilder schnell zu einem Schlüsselbefund etabliert – in verschiedener Hinsicht: einerseits, was unsere Fragen betrifft, die wir als Historiker und Archäologen an derartige Bilder der Gewalt herantragen können und müssen; und andererseits, was die Methoden betrifft, mittels derer wir diese Bilder der Gewalt in ihrer historischen Aussagekraft zu entschlüsseln versuchen”, sagte Susanne Muth. Die attischen Bilder hatten eine große Vorbildfunktion, so dass die Gewaltdarstellung konsequent auch auf andere Bildbefunde der antiken Kulturen übertragen und für die dortigen Diskussionen um das Phänomen der Gewalt wiederum angewandt werden konnten. Die Bildbefunde müssten in diesem Zusammenhang nicht nur als historische Quellen für die Kultur des archaischen und klassischen Athens befragt werden, sondern dienten ebenso als Fallbeispiel, um hier die grundsätzlichen Möglichkeiten, aber auch die Problematik und die Grenzen einer historischen Interpretation medialer Gewalt zu diskutieren.

Vom Befund zur Interpretation

Aus dieser Zielsetzung heraus ergab sich der weitere Rahmen des Vortrags. Zunächst ging es um den Befund der attischen Bilder und die Qualität, wie in diesen Bildern Gewalt verhandelt wird, um zentrale Phänomene darzustellen, auf denen alle weiteren interpretatorischen Fragen basierten. In einem zweiten Schritt wurden dann die geläufigen Ansätze beleuchtet, die an diese Bildbefunde bislang herangetragen wurden. Die kritische Diskussion dieser Ansätze führte in einem dritten Schritt zu den grundsätzlichen Möglichkeiten einer methodisch angemessenen Interpretation solcher Bildbefunde und der Frage, in welcher Weise die Gewaltabbildungen als historische Quellen überhaupt benutzt werden können; und in einem letzten und vierten Schritt wurden die Konsequenzen in den Blick genommen, welche sich aus der Betrachtung des Fallbeispiels für die Interpretation medialer Gewalt allgemein ergeben.

Schmerzhaftes Sterben wird visualisiert

Am Beispiel der attischen Luxuskeramik zeigte Muth, wie künstlerische Gewaltdarstellungen zu Beginn des 5. Jahrhunderts plötzlich immer wieder auf neue Weise Gewalttätigkeit und Aggressivität formulierten, und die Bildwelt Athens mit einem regelrechten „Blutrausch” überzogen wurde. Bildmotive wie etwa der Tod des Minotauros fingen in einer völlig unbekannten Nahsichtigkeit das Opfer in seinem schmerzhaften Sterben oder aber in seinen psychischen Qualen im Anblick des ihm drohenden Schicksals ein – und brachten damit aggressives Töten und brutale Gewalttätigkeit in einer bisher unbekannten Qualität zur Darstellung.

Leid wird aus der Opferperspektive geschildert

Ein anderes Beispiel war in diesem Zusammenhang ein Vasenbild, auf dem die Eroberung Troias, die Ilioupersis, mit dem Überfall des Neoptolemos auf den greisen König Priamos dargestellt wird. In der Szene ist der König kurz vor dem tödlichen Schlag zu sehen, er hält seine Hände vor das Gesicht, da er den Anblick seines brutal erschlagenen Enkels, der auf seinem Schoß liegt, nicht erträgt. Für Susanne Muth ist diese Darstellung ein eindrückliches Beispiel der Tragödie, die sich bildlich auf ihren Höhepunkt zuspitzt. Das visualisierte Leid wird aus der Opferperspektive geschildert und offenbart neben der Ohnmachtskategorie der Schwäche (Minotauros) insbesondere die der Verzweiflung, durch die die Gewalt im Spiegel der Auswirkung präsentiert wird.

Metaebene der Gewalt-Fantasie

In der untersuchten Periode nehmen somit Pathos und Dramatik bei den jüngeren Bildern zu, das schmerzhafte Sterben und psychische Qualen kommen in der Gewaltikonographie zum Vorschein. Vor 500 und nach 490 überwiegen „normale” Kampfszenen, die aber nur starke oder schwache Protagonisten zeigen, nicht aber auf deren Leiden und Sterben verweisen. Somit stellte sich für die Wissenschaftlerin die Frage, weshalb gerade in der untersuchten Dekade die Gewalt in expliziter Weise in der Vasenmalerei mit vielen Waffen, Blut und den leidenden Opfern im Moment des Sterbens gezeigt wurde. Im Gegensatz dazu wurde ab 470 verstärkt eine „gedämpftere” Gewaltikonographie favorisiert, eine implizite Gewalt, deren Folgen für die Betrachter auf einer Metaebene der Fantasie verlagert wurden. Denn die Gewaltanwendung wird hier nur angedeutet.

Schmutzige und saubere Gewalt

Bei der „blutrünstigen” Periode sowie der nachfolgende Phase der „Gewaltdämpfung” war man bisher – basierend auf modernen Erfahrungen im Umgang mit medialer Gewalt – davon ausgegangen, dass diese Darstellungen mit dem Erleben realer Gewalt in den Perserkriegen zu tun haben. Doch können diese Phänomene in der attischen Kunst für Susanne Muth keineswegs mit modernen Gewaltauffassungen und -theorien erklärt werden, die in der Regel zu einer polarisierenden Reaktion führen: Denn der Rezipient neuzeitlicher Gewaltdarstellungen ergreift meist Partei für den Stärkeren/Sieger oder schlägt sich auf die Seite des Opfers. Besonders explizite Gewalt soll verurteilt werden, zumal das Leiden des unschuldigen Opfers eindrücklich gezeigt wird („schmutzige Gewalt”). Wenn die Gewalt dagegen nicht verurteilt werden soll, darf beim Betrachter kein Mitleid entstehen, damit nicht die „falsche Seite” berücksichtigt wird („saubere Gewalt”). „Die Ikonographie unserer heutigen Gewaltbilder funktioniert also eindeutig wertend, ihre Differenzierungsmöglichkeiten werden zur Distinktion verschieden bewerteter Gewaltarten eingesetzt; – und die jeweilige Gewaltikonographie dient folglich dazu, die Parteinahme des Betrachters zu steuern und seine polarisierende Reaktion zu unterstützen”, betonte Muth.

Gewalt als nicht wertendes Bildmotiv

Die attische Gewaltikonographie funktioniere jedoch im Gegensatz zu neuzeitlichen Gewaltdarstellungen themenunabhängig und sei damit auch bewertungsneutral. So könne der Perspektivenwechsel zur expliziten Gewalt in der Vasenmalerei nur bedingt etwas mit den Perserkriegen zu tun haben, da die verwendeten Formen der Gewalt keine inhaltliche Bewertung durchführen (zumal die ikonographischen Phänomene auch schon früher aufkommen). Die starken ikonographischen Schwankungen bei thematisch gleichen Bildern sowie die ikonographischen Ähnlichkeiten bei inhaltlich unterschiedlich bewerteten Bildern lassen sich nach Muth nur so deuten, dass die Bildmotive deskriptiv, nicht aber wertend funktionieren. Die auftauchenden und teils aus dem Mythos entstammenden Figuren werden dabei in ihrem Kräfteverhältnis zueinander charakterisiert, so dass Tapferkeit, Stärke und Macht an Gewicht gewinnen. Die Darstellung des leidenden und sterbenden Opfers ist hierbei zentraler Bestandteil in der bildgetragenen Charakterisierung des Stärkeren, erst hierdurch können der außergewöhnliche Held und der normale Krieger voneinander unterschieden werden. Gewalt ist somit kein „Bildthema”, sondern nur ein „Bildmotiv” und muss als dezidiert „mediales Phänomen” angesehen werden, das kein unmittelbares Zeugnis für die wirklichen damaligen Auffassungen und Denkschulen zur Gewalt abbildet. „Thema der Bilder ist der Diskurs um Macht und soziales Ansehen, beziehungsweise die spezifischen Leistungen und Tugenden, wie Stärke oder Tapferkeit, aus denen soziales Ansehen resultiert”, betonte Muth abschließend.

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Aushandelbarer Charakter jeglicher Gewaltdefinition

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Im Anschluss sprach Prof. Dr. Werner Riess (Chapel Hill) über „Ritualisierungen von Gewalt im Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr.” Dabei betonte er zu Beginn, dass „Gewalt für jede Gesellschaft die Transgression gültiger Normen” bedeute. Wo jedoch die jeweiligen Grenzen zwischen noch akzeptablen und inakzpetablen Verhaltensmustern verliefen, sei ebenso wie die Art und Weise, in der diese definitorischen Grenzziehungen erfolgen, kulturspezifisch. „Da diese Grenzziehungen alles andere als statisch sind, betonen Kulturwissenschaftler heute verstärkt den aushandelbaren Charakter jeglicher Gewaltdefinition. Sie wird dabei als dynamisches Konstrukt verstanden, das von sozialen, kulturellen und politischen Faktoren determiniert wird. In der Tat sind in den antiken Quellen explizite wie implizite Grenzziehungen zwischen legitimem und illegitimem Verhalten (Gewalt) auszumachen”, sagte Riess, der in seinem Vortrag Gewaltakte zwischen athenischen Bürgern analysierte.

Der physische Akt der Gewalt

Für Riess kommt es in einem kulturwissenschaftlichen Sinne besonders darauf an, die symbolische Bedeutung von Gewalt im athenischen Sozialgefüge herauszuarbeiten. Wie es Athen ohne reguläre Polizeikräfte schaffte, Gewalt so zu reduzieren beziehungsweise verstehbar zu machen, dass die Polis im 4. Jahrhundert stabiler als viele andere griechische Stadtstaaten war, zählte zum erweiterten Erkenntnisinteresse des Vortrags. Bei der Interpretation der athenischen Quellen legte Riess dabei einen engen Gewaltbegriff zugrunde: „Ich verstehe unter Gewalt einen physischen Akt, mit dem ein Mensch einen anderen schädigt oder die Absicht hat, dies zu tun.” Wenn man sich frage, wie Sinn konstituiert und bestimmten sozialen Praktiken zugeschrieben würde, und welches die Bedeutungsträger seien, vor allem in vormodernen, semi-oralen Gesellschaften, so stoße man unweigerlich auf die Bedeutung von Ritualen. „Meiner Studie liegen somit die Ritual- und Performanzstudien zu Grunde.” Mit diesem methodischen Ansatz könne man die heterogenen Quellen des 4. Jahrhunderts kombinieren und integrieren. Bei den herangezogenen Quellengattungen handelte es sich um die attischen Gerichtsreden, die Fluchtäfelchen und die Alte Komödie des Aristophanes. „Sie alle führten ursprünglich einen Gewaltdiskurs, der rituell eingebettet war, performativ auf”, unterstrich der Althistoriker.

Die Diffamierung des Gerichtsgegners als politisches Statement

Zunächst arbeitete Riess den Gewaltdiskurs, der in allen öffentlichen Veranstaltungen von den Gerichtshöfen über das Rathaus und die Volksversammlung bis hin zum Drama performativ inszeniert wurde, am Beispiel der attischen Gerichtsreden heraus: „Obgleich wir keinen Zugriff auf die tatsächlichen Geschehnisse haben, können wir sehr wohl erkennen, wie der Gewaltdiskurs bei den Rednern strukturiert ist. Die Bedeutung von Gewalt wurde dichotomisch definiert oder, ritualdynamisch gesprochen, dichotomisch konstruiert. In diesem dynamischen Prozess wurde die Interpretation dessen, was Gewalt darstellte und bedeutete, rhetorisch und damit stark standpunktabhängig verhandelt”, sagte Riess. Der Sprecher, unabhängig davon, ob er als Angeklagter oder als Verteidiger sprach, suchte seinen Widersacher immer als unverantwortlichen Schuldigen zu delegitimieren und zu diffamieren, ihn als das diametral Andersartige darzustellen, als Anti-Bürger. Er tat den ersten Schlag, er fügte schlimme Wunden zu und versuchte in Extremfällen Mord zu verüben. Einige Oppositionspaare hätten dabei beiderseits Verwendung finden können: Einen Gewaltakt öffentlich oder im Geheimen auszuführen, in der Nacht oder bei hellem Tageslicht, nüchtern oder betrunken, als alter oder als junger Mann, hätte vom Sprecher sowohl negativ als auch positiv in Anspruch genommen werden können. Somit gäbe es in Bezug auf die Gewalt keine festen Tatbestandsmerkmale, so Riess.

Transgressive Qualität der Hybris

In diesem Zusammenhang machte es der flexible Gewaltbegriff möglich, die Gewalt des jeweiligen Gegners, wie schwerwiegend auch immer sie war, rhetorisch im Gerichtsverfahren als derart sozial schädlich zu brandmarken, dass sie den Konflikt eskaliert zu haben schien. Trotz oder gerade wegen der fehlenden Tatbestandsmerkmale, die Gewalt definiert hätten, glaubten die Athener an die Mehrheitsentscheidung der Richter im Gemeinschaftsurteil. Die friedensstiftende Funktion des Justizwesens bestand also nicht so sehr in der endgültigen Lösung von Konflikten – wir wissen, dass viele Streitigkeiten nach einem Gerichtsurteil weiterverfolgt wurden -, sondern auf der rituellen, symbolischen Ebene, insofern als die Athener sich tagtäglich im Ritual des Gerichtsgangs ihrer ganzen Definitions- und Handlungsmacht bewusst wurden. Gewalt, deren Tatbestandsmerkmale also erst vor Gericht und dort stets aufs Neue verhandelt und festgelegt wurden, wurde unter diesen Umständen zum rituellen Konstrukt. Besonders deutlich ist dies bei der Grenzen verletzenden, anmaßenden Gewalt der Hybris zu sehen, die dem Gerichtsgegner zugeschoben wurde und neben ihrer transgressiven Natur auch eine performative Qualität aufwies. Sie umfasste verbale Beleidigungen, tätliche Angriffe, Vergewaltigung, Ehebruch und auch Verführung. Mittels der semantischen Breite dieses umfassenden Begriffs konnte man den Gegner sogar auf einer politischen Dimension angreifen. Der Hybristes war immer auch ein Barbar und Tyrann und damit ein Anti-Demokrat, von dem man sich diametral absetzen konnte. „Die eigene Gewalt hingegen war akzeptabel, anti-hybristisch, demokratisch und daher anti-tyrannisch und anti-barbarisch, also zivilisatorisch im Sinne des Schutzes und der Aufrechterhaltung der Demokratie.” Riess geht davon aus, dass der performativ inszenierte Gewaltdiskurs in den Gerichten auch jenseits der gefällten Urteile eine Wirkung auf den athenischen Alltag ausübte und dort somit für jeden klar war, welche Formen der Gewalt akzeptabel waren und welche nicht.

Magie und Flüche zum Prozessauftakt

Um ihren Gegnern zu schaden, griffen Athener aller Schichten im 5. und 4. Jahrhundert auch auf den Einsatz von Schwarzer Magie zurück, indem sie Flüche auf kleine Bleitafeln schrieben und diese auf rituelle Art und Weise in Gräbern und Quellen deponierten. Ungefähr 270 solcher Täfelchen aus dem 4. Jahrhundert sind überliefert. Die meisten sind Prozessflüche. Sie kamen gegen Gerichtsgegner zum Einsatz, bevor ein Prozess stattfand. „Aus dieser Perspektive scheint es, als ob jemanden vor Gericht zu bringen und ihn zu verfluchen, zwei komplementäre soziale Praktiken waren.” Werner Riess stellte in diesem Zusammenhang die These auf, dass die realen und imaginären Handlungsträger der magischen Rituale kulturelle Praktiken des athenischen Gerichtswesens widerspiegeln und sogar in Analogie zu diesem angesehen werden können. Er wandte sich außerdem gegen die herrschende Forschungsmeinung, nach welcher der Grad der Gewalt, der auf den Täfelchen zum Ausdruck kommt, nur gering war. „Meine Lesart hinterfragt diese Meinung und zeigt auf, dass das im Bindezauber ausgedrückte Gewaltpotential höher war als die Forschung bislang angenommen hat.” Bezeichnend sei wieder die Offenheit des zugrundeliegenden Gewaltbegriffs, so Riess. Das Fluchwort „katad(e)o” (ich binde hinab) reicht vom Wunsch, den benachbarten Handwerker zu schädigen bis hin zur Tötungsabsicht. Im Ritual der Niederlegung der Tafel wird den angerufenen Gottheiten die endgültige Entscheidung über die Art der Schädigung des Opfers überlassen.

Theatralisch inszenierter Diskurs

Desweiteren analysierte Riess Aristophanes’ Komödien unter den Gesichtspunkten Hybris, Slapstick und gewaltsame Umzüge im privaten Festkontext („kômoi”) in ihrem Gewaltpotential. Auch die Aufführung eines Theaterstücks im Kontext der religiösen Feste der Lenäen und der Großen Dionysien war rituell, d.h. räumlich und situativ gerahmt, so dass die Theateraufführung als Ganzes als Ritual betrachtet werden kann. Riess zeigte auf, dass Hybris bei Aristophanes die gleiche Bedeutungsoffenheit wie bei den Rednern zeige. Die indirekte Problematisierung der Gewalt auf der Bühne als tyrannisch, barbarisch und hybristisch sei am Ende so wirkungsvoll in der Alten Komödie wie die Stigmatisierung des Gegners entlang ähnlicher Linien in den Gerichtsreden. Obgleich der Slapstick immer komisch bleibe, verstand es Aristophanes, so Riess, ihn mit einem gewissen Problembewusstsein aufzuladen. Einmal mehr offenbart sich die diskursive und semantische Offenheit der aristophanischen Komödie, so dass man in Analogie zur offenen Textur des athenischen Rechtes durchaus von der offenen Textur der Alten Komödie sprechen könne. Die meisten aristophanischen Stücke enden mit einem sogenannten „Kômos”, dem schwärmenden Umherziehen Trunkener, das den Beginn eines Festes oder einer Hochzeit symbolisiert. Der Referent wies darauf hin, dass einige Komödien, allen voran die „Wespen”, exzessives komastisches Verhalten zeigten und damit ebenso die Gefahren offenbarten, die auch mit der komischen Freiheit verbunden seien. „So problematisch und unangenehm der komische Held ist, so problematisch und unangenehm ist auch sein gewalttätiges Verhalten”, so Riess, das den demokratischen Anti-Rache-Diskurs, der in den Gerichten gesprochen wurde, nur umso deutlicher hervorhob.

Fazit: Öffentlicher Diskurs über Gewalt war Angelegenheit der Oberschichten

Das Aushandeln des Gewaltbegriffes und die Beantwortung der Frage nach legitimer Gewaltanwendung wurden in Athen in rituell abgegrenzten Räumen unter Anwesenheit eines realen oder imaginären entscheidungsfindenden Publikums durchgeführt. Die Vergleichbarkeit von Gerichtsreden, Fluchtafeln und Komödien besteht in der performativen Qualität ihres ursprünglichen Aufführungskontextes und damit im jeweils theatralisch inszenierten Diskurs über Gewalt. Der öffentliche Diskurs über Gewalt war vor allem eine Angelegenheit der Oberschichten. Als Richter oder Zuschauer im Theater waren aber auch die Unterschichten an der Bildung eines gesellschaftspolitischen Basiskonsenses in Blick auf die Gewalt beteiligt, der wiederum die konkrete Einhegung von Gewalt begünstigte.

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Argumentationsmuster für Kriege

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Über „The Shifting Boundaries of Violence: Five Cultural Models for Going to War (and Not Going to War) in Greek and Roman Antiquity” sprach abschließend Prof. Dr. Jon E. Lendon (Charlottesville / Heidelberg). In bestimmten Generationen hat es nach seiner Darstellung immer wieder unterschiedliche Argumentationsmuster für den Beginn eines Krieges oder dessen Abwendung gegeben. Wenn man vom „Wahrheitsgehalt” einer von einem antiken Historiker oder Redner getroffenen Behauptung absieht, ist es möglich, eine Fülle von Aussagen darüber zusammenzustellen, warum ein Krieg geführt oder nicht geführt werden sollte, und damit eine Geschichte des diachronen Wandels hinsichtlich der dominanten Motive zu schreiben, aus denen heraus Griechen und Römer in den Krieg zogen – Motive, die jede Generation als eindeutig legitim betrachtete. Es versteht sich dabei von selbst, dass in jeder Epoche die diesbezüglichen Entscheidungen von multiplen und sich auch überschneidenden Faktoren determiniert wurden.

Rache als wichtigstes Motiv für Kriegsbeginn

Mit zahlreichen Beispielen stellte Lendon seine These vor, dass für die klassischen Griechen das höchste Motiv für einen Krieg die Rache war und dass die dazugehörigen Argumentationsmuster „eine aus den homerischen Pfaden der Überlieferung gewachsene Tradition” sei. „Die Ilias präsentierte den Trojanischen Krieg als eine Auseinandersetzung der Vergeltung, und wie wir von Herodot wissen, akzeptierten die späteren Griechen diese Diagnose”, sagte Lendon. Weil der Trojanische Krieg als mythischer Beispielskrieg den Griechen immer als Orientierung diente, sei es nicht verwunderlich, dass die Rache infolgedessen das wichtigste Motiv war, um einen Krieg zu beginnen.

Tapferkeit als römische Traditionslinie

Die Römer der republikanischen Zeit hatten dagegen nach Lendons Darstellung in diesem Zusammenhang zwei implizit voneinander abweichende Sichtweisen. „Die erste können wir bei Caesar ausmachen, der meinte, ein Krieg müsse von Männern mit Tapferkeit geschlagen werden, um die Tapferkeit von anderen zu übertreffen.” Cicero und Livius meinten dagegen, eine kriegerische Auseinandersetzung sollte von der Verteidigung der eigenen Person, der Verbündeten und der Ehre an sich geleitet sein. Beide Begründungsmuster hätten den griechischen Vergeltungsgedanken abgeworfen. Selbstverständlich spiele die Verteidigung der Ehre aber auch bei vielen attischen Rednern schon eine enorme Rolle. Lendon stellte die Hypothese auf, dass die nach Tapferkeit suchende Mentalität der Republik eine alte römische Tradition gewesen sein könne und die defensive Herangehensweise an einen Krieg – nicht zuletzt in den Augen vieler Römer – ein Resultat des griechischen Einflusses gewesen sein mag.

Auch wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analysen im römischen Kriegsdenken

Zu Beginn des römischen Imperiums sei noch ein neues Leitmotiv zur den nach Tapferkeit suchenden und defensiven Argumentationsmustern hinzugekommen: Besonders bei griechischen Autoren der Kaiserzeit gebe es eine Gegnerschaft zu weiteren römische Expansionen, da diese in einer finanziellen Kosten-Nutzen-Analyse kritisch dargestellt wurden. So werde kommuniziert, Britannien würde mehr kosten, wenn man es halte, als es an Einnahmen überhaupt einbringen könne. „Die Herkunft dieses Gedankengangs, so angewandt in der Außenpolitik, liegt im Dunkeln. Er spielt weder in der griechischen noch in der vorherigen römischen Tradition eine Rolle”, betonte Lendon. Diese Form der Außenpolitik habe eher mit dem Denken von Händlern und Schiffskapitänen zu tun, die eine der Quellen des griechischen Wissens über Geographie waren. Bei der Beherrschung von Ländern und kriegerischen Auseinandersetzungen spielten somit immer wieder unterschiedliche Rechtfertigungsstrategien eine Rolle, die sich die Akteure je nach Bedarf durch den Rückgriff auf variable Kriegsdiskurse zusammenstellen konnten.

Vergleich zwischen Städten und Regionen

Abschließend fügte Lendon hinzu, dass im Laufe der Römischen Weltherrschaft eine spezifische Sichtweise auf die Landschaft, die in der rhetorischen Theorie gründete und über Generationen hinweg durch die rhetorische Ausbildung der griechisch-römischen Eliten tradiert wurde, einen zunehmenden Einfluss auf das römische Denken über Krieg und Außenpolitik ausübte. Die Schule der Rhetorik verlangte von ihren Schülern, Orte nach ihrer vergleichenden „Superlativität” in Rangstufen zu gliedern, d.h. zu vergleichen, was in einem Land oder in einer Stadt in Relation zu anderen Ländern oder Städten außergewöhnlich war. Geographen beschreiben Dinge dann ausführlich, wenn sie im Vergleich zu anderen gleichen Typs bemerkenswert scheinen, und Orte werden danach gemessen, wie viel Außergewöhnliches sie vorzuweisen haben. Vor allem Städte werden in Blick auf ihre Geschichte, ihre Bauten, ihre Feste, ihre öffentlichen Gebäude, ihre Bevölkerung, ihren Reichtum, ihre Örtlichkeiten, die Sitten ihrer Einwohner und die Gelehrsamkeit ihrer Intellektuellen in Konkurrenz zueinander gesetzt. Die Folgen dieses Denkens, das vor allen Dingen die nach Tapferkeit strebende Mentalität der Republik ablöste, bestand einerseits darin, die Römer weniger aggressiv zu machen (da sie bereits das meiste besaßen, das nach ihrem Verständnis einzigartig auf der Welt war), andererseits die noch verbliebene römische Aggressivität nach Osten abzulenken, der nach dem Verständnis der Redelehrer so viele Superlative mehr aufzuweisen hatte als die rhetorisch wenig prononcierten Einöden nördlich der Grenzen des Imperiums.

Historischer Wandel der Kriegsrechtfertigung

Die Gründe, in einen Krieg zu ziehen, haben also eine Geschichte. Sie waren im Verlauf der klassischen Antike historischem Wandel unterworfen, wobei kulturelle Erklärungs- und Rechtfertigungsmodelle einander ablösten. Die treibenden Faktoren dieser Geschichte sollten nicht im idiosynkratischen Erleben von Diplomatie und Krieg gesucht werden, sondern zunächst in den spezifischen Erziehungsmodellen und kulturellen Erwartungen der Entscheidungsträger, von den von Homer besessenen Griechen des 5. Jahrhunderts v. Chr. bis hin zu den rhetorisch geschulten Römern des 4. Jahrhunderts n. Chr.

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Zusammenfassung

Als Ergebnis der Sektion sind zwei Befunde festzuhalten, zum einen die grundsätzliche Alterität des antiken von unserem heutigen Gewaltbegriff. Während Gewalt in modernen westlichen Gesellschaften grundsätzlich negativ konnotiert ist, scheint der Gewaltbegriff in der Antike sehr viel bedeutungsoffener gewesen, ja Gewalt oftmals sogar „neutral” gesehen worden zu sein. Zum anderen bedingte jedoch gerade dieses flexible Verständnis von Gewalt zahlreiche komplexe Aushandelungsmechanismen, die, oftmals ritualisiert durchgeführt, es den Zeitgenossen sehr wohl auch erlaubten, Gewalthandlungen richtig einzuschätzen und darauf angemessen zu reagieren. Während in modernen westlichen Demokratien Gewalt also a priori per Gesetz definiert ist, unterlag das Gewaltverständnis antiker Menschen einem ständigen Perspektivenwechsel, der sich, für uns noch heute greifbar, in diversen Ritualen und Medien niedergeschlagen hat, die es weiter zu erforschen und kulturwissenschaftlich fruchtbar zu machen gilt.


(Fotos: CJ)