In einem Buch des Mennoniten Johannes Walch (1551-1623)  werden einige interessante Verschlüsselungstechniken beschrieben. Ich hoffe, meine Leser können mir helfen, diese etwas besser zu verstehen.

Die Kryptologie-Bücher der frühen Neuzeit (es gab einige davon) sind ein faszinierendes Thema. Die damaligen Autoren kannten bereits so manches gute Verschlüsselungsverfahren, ließen sich aber auch allerlei Kurioses und Unbrauchbares einfallen. Man spürt, dass die Kryptologen schon damals eine Menge Spaß mit diesem Thema hatten. Die beste Quelle zu alten und neuen Krypto-Büchern ist die hervorragende Krypto-Bibliografie von Tobias Schrödel.

Leider sind die meisten Kryptologie-Bücher der frühen Neuzeit in Latein oder (altem) Italienisch verfasst. Für einen Informatiker wie mich sind sie daher nur schwer zu lesen. Dies gilt auch für ein Buch des Mennoniten Johannes Walch (1551-1623) aus dem Jahr 1609, das zu den weniger bekannten seiner Art gehört (sogar in Tobias Schrödels Bibliografie taucht es nicht auf, obwohl dort nicht weniger als 538 Krypto-Bücher aufgelistet sind). Es heißt Decas fabularum humani generis.

Decas fabularum humani generis ist genau genommen kein Kryptologie-Buch, sondern eine Art Technik-Kompendium. Es gibt darin jedoch ein ausführliches Kapitel (Fabulum 9) zur Kryptologie. In diesem Kapitel finden sich einige interessant aussehende Abbildungen, die steganografische Verfahren illustrieren. Leider reichen meine Latein-Kenntnisse (kleines Latinum) nicht aus, um die zugehörigen Texte zu lesen. Vielleicht können mir meine Leser weiterhelfen (auch ohne Sprachkenntnisse lässt sich sicherlich das eine oder andere Kryptogramm lösen).

Das Buch Decas fabularum humani generis gibt es online (bereitgestellt von der Bayerischen Staatsbibliothek). Die folgenden Bilder finden sich etwa zwischen den Seiten 231 und 242 (gemeint sind die Reader-Seiten, nicht die aufgedruckten Seitenzahlen). Das erste Bild könnte eine steganografische Kodierung sein, die dem Apfelbaum ähnelt, über den ich vor einem Jahr gebloggt habe:

Johannes-Walch_Seite_232

Das zweite Bild könnte einen ähnlichen Code enthalten (steht jede Ecke für einen Buchstaben?):

Johannes-Walch_Seite_234

Das dritte Bild sieht ähnlich aus:

Johannes-Walch_Seite_236

Und noch ein Bild (Nummer 4) von dieser Sorte:

Johannes-Walch_Seite_235

Und noch eines (Nummer 5):

Johannes-Walch_Seite_237

Im nächsten (sechsten) Bild dürfte der Abstand zwischen zwei Punkten jeweils einen Buchstaben markieren:

Johannes-Walch_Seite_242

Ist in der folgenden Schnecke eine Nachricht (Nummer 7) versteckt?

Johannes-Walch_Seite_243

Und was hat es mit dieser Figur (Nummer 8) auf sich?

Johannes-Walch_Seite_245

Und was bedeuten diese Punkte im neunten Bild:

Johannes-Walch_Seite_249

Und zum Schluss noch ein Bild, das nicht im Krypto-Kapitel steht (Seite 29 im Reader). Gerüchteweise enthält es dennoch einen Code, der mit dem Apfelbaum vergleichbar ist. Dabei müssten die Augen der Menschen und Tiere die Funktion der Äpfel einnehmen.

Johannes-Walch_Seite_029

Jetzt bin ich auf die Reaktionen meiner Leser gespannt. Sachdienliche Hinweise nehme ich gerne entgegen.

Zum Weiterlesen: Versteckte Nachricht im Indie-Popsong

Kommentare (28)

  1. #1 Joe
    Berlin
    14. Juni 2016

    Bild 6 und 9.
    Wurde mit einem Chiffrierzirkel gearbeitet?

    • #2 Klaus Schmeh
      14. Juni 2016

      Das könnte sein. Ein Chiffrierzirkel hat für jeden Buchstaben einen anderen Radius, In Dresden ist irgendwo einer ausgestellt. Leider finde ich online kein Bild davon.

  2. #3 David Wilson
    14. Juni 2016

    In the ninth image, the lowest number of dots is zero (0), and the highest number of dots is twenty-six (26). Could the number of dots correspond to letters? (7 dots = T, etc.)

    • #4 Klaus Schmeh
      14. Juni 2016

      Makes sense.

  3. #5 Thomas
    14. Juni 2016

    Zu dem Schema in Bild 8 bringt Daniel Schwentner in seiner “Steganologia und Steganographia aucta” eine Erläuterung: https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb11081558_00283.html

  4. #6 Thomas
    14. Juni 2016

    Bei Bild 1 – 5 müsste wohl unten eine Schablone mit dem Alphabet angelegt werden, um dann die (Eck-/Kreuzungs-)Punkte von oben nach unten abzulesen, s. die Beispiele bei Wilkins, der auf Walch Bezug nimmt (https://books.google.de/books?id=H0wsAQAAMAAJ&pg=PA93)

  5. #7 Thomas
    15. Juni 2016

    Zu der Spirale (Bild 6) liefert Gustavus Selenus (i.e. August II. von Braunschweig-Wolfenbüttel) in “Cryptomenytics …” die Erklärung. Im Original auf Latein (dort S. 298 – ich finde es bei Google Books gerade nicht wieder) ist eine ähnliche Spirale mit einer gebogenen Alphabet-Skala darunter zu sehen. Hier die englische Übersetzung von Augusts Erläuterung: https://archive.org/stream/TheCryptomenyticsAndCryptographyOfGustavusSelenusInNineBooks/Cryptomenytics#page/n431/mode/2up

  6. #8 Thomas
    15. Juni 2016

    In dem Werk von Gustavus Selenus findet man noch Ausführungen zu weiteren Methoden Walchs, so in der englischen Übersetzung (Link unter #7) auf Seite 425 zu Seite 295 bei Walch (entsprechend Bild 8 nach Klaus´ Nummerierung). Man müsste Augusts “Cryptomenytics”, Wilkins´ Werk und Schwenters “Steganologia..” mal eingehender durchsehen, bevor man Walch aus dem Lateinischen übersetzt.

  7. #9 Jerry McCarthy
    England, Europa...
    15. Juni 2016

    Nr 7. Ich mag, dass “Domiporta” (eine Kreatur, die sein Haus trägt) eine Schnecke ist 🙂

  8. #10 Thomas
    15. Juni 2016

    Nachtrag zu #7:
    Die Abbildung der Spirale mit der gebogenen Alphabet-Skala bei Selenus: https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb11057746_00344.html

  9. #11 Klaus Schmeh
    15. Juni 2016

    Thomas: Vielen Dank für die Hinweise. Man sieht, dass die Krypto-Autoren damals ausführlich voneinander abgeschrieben (bzw. einander zitiert haben). Toll finde ich, dass diese Bücher inzwischen fast alle online verfügbar sind. Das war vor einigen Jahren noch nicht der Fall.

  10. #12 Armin
    16. Juni 2016

    In der Spirale (#6) codiert der Winkel zwischen 2 aufeinanderfolgenden Punkten den Buchstaben. Aussen beginnend erhält man den Beginn des Gedichtes, das auf der nachfolgenden Seite im Buch erscheint:

    Die Welt die rent der Hellen zu,
    sie will ins Loch, da ist kein Ruh.

    Ich vermute, dass die Lösungen der anderen Kryptogramme (zumindest teilweise) ebenfalls schon im lateinischen Text aufgeführt sind:

    Paucis natus est, qui suae tantum aetatis homines cogitat.
    Ars inimicum non habet, nisi ignorantem: Indocto niliniquius.
    Homines sumus: Humani nihil à nobis putemus alienum.
    Maxima mysteria latent in oculo: laus Deo opifici mirabili.

    • #13 Klaus Schmeh
      16. Juni 2016

      Vielen Dank, damit wäre dieses Rätsel gelöst.

  11. #14 Thomas
    16. Juni 2016

    Die Lösung zu dem Bild mit den Strahlen (Nr. 9) gibt Walch auf Seite 216 an:

    “Dwelt wend an dingen(l statt i?) was sie kan/
    Dwarheit nems nit vergebens an”

    • #15 Klaus Schmeh
      16. Juni 2016

      Danke, noch eine Lösung.

  12. #16 Thomas
    16. Juni 2016

    Walch bringt im seinem Text keine konkreten Erläuterungen zu den einzelnen (geometrischen) Verschlüsselungen. Vielmehr nennt er die Klartextsprüche ( s. Armin #12) und gibt dem Leser auf, die jeweilige Methode herauszufinden. Die abgebildeten Instrumente geben hier Hinweise, wie die Klartextbuchstaben ersetzt sind:
    In Bild 1 durch Abstände zwischen den Punkten, die mit dem jakobsstabartigen Instrument mit der Maßskala gemessen werden können (Klartext: Foeliciter ceßit res, perge ut jußi, caute tracta negocium.)
    In Bild 2 durch Strecken, die mit dem Zirkel abgegriffen werden.
    In Bild 4 ist wohl unten eine Alphabetskala anzulegen und mit einem Lineal der jeweilige Punkt nach unten zu verlängern (s. oben Post #6).
    In Bild 5 durch Winkel (Winkelmesser).

  13. #17 Klaus Schmeh
    16. Juni 2016

    Damit sind die meisten Rätsel gelöst. Ich frage mich allerdings noch, was es mit der Schnecke auf sich hat.

  14. #18 Thomas
    17. Juni 2016

    Schnecke: barocke Emblematik – klar (Haus und Langsamkeit wie bei Schildkröte als Gegensatz zur (Außen-)Welt, die ihrem Unglück entgegenrennt); kryptologisch bei mir Fehlanzeige

  15. #19 Thomas Ernst
    Latrobe
    18. Juni 2016

    Das Konzept von Walchs Chiffren stammt nicht von ihm; es entwickelte sich aus einer Überlagerung von Akrostika (Hrabanus) und Schablonnenchiffren (Cardano) und wurde am schönsten, ja poetischsten – “tout le monde n’est qu’un chiffre”- , wenn nicht gar zuerst (?) von Blaise de Vigenère im “Traicté des chiffres […]”, 1586, f. 257r – 262r erläutert; das wußte auch Herzog August (“Cryptomenytices […]”, 338-341), obwohl dieser Walch ausführlicher zitierte. – Für Vigenères “Sternenchiffre” und eine “Lorbeerchiffre” (nur die Lorbeeren zählen, nicht die Blätter) gilt: in einer Außenspalte werden die Buchstaben des Klartextalphabets angeben (bei Vigenère übereinandergestellte Alphabethälften), dann werden pro Spalte je fünf Buchstaben angezeigt. Vigenères Klartext für die Sternenchiffre ist Psalm 19, “Les cieux en chacun lieu […]”. Das gesamte Bild ist in insgesamt 16 x 20 Quadrate unterteilt, von denen pro Spalte je fünf signifikant sind; für Klartexte über 100 Buchstaben also ungeeignet. Jedes Quadrat hat fünf Positionsanzeiger. Bei der Sternenchiffre gilt: Stern links oben in einem Quadrat = erster Klartextbuchstabe aus der linken Spalte, Stern rechts oben = zweiter Klartextbuchstabe, Stern Mitte = dritter Klartextbuchstabe, Stern unten links = vierter Klartextbuchstabe, Stern unten rechts = fünfter Klartextbuchstabe. Für die Lorbeerchiffre ändert Vigenère die Verteilung analog zur Bekreuzigung: oben Mitte = 1, Mitte links = 3, “Mitte Mitte” = 5, Mitte rechts = 4, unten Mitte = 2. Nun muß der Korespondent – sollte es ihn geben – natürlich die Abfolge der Klartextbuchstaben kennen, des weiteren die Fünferverteilung innerhalb eines Quadrats, wissen, welche Symbole im Bild zählen – Sterne oder Wölkchen, Lorbeeren oder Blätter – und möglichst eine entsprechende Schablone zur Hand haben (obwohl man sich die in manchen Fällen selbst zurechtschustern kann). Im zweiten Beispiel bezeichnet Vigenère die Lorbeerblätter als Nullen: “les fueilles n’y sont adioustees que pour ornement, comme si c’estoit pour seruir de nulles […]” (“Traicté”, f. 260r). – Der übergreifende Bildinhalt, z. b. geometrische Figuren oder ein Feld voller Kaninchen, ist rein steganographisch.

    • #20 Klaus Schmeh
      18. Juni 2016

      >Vigenères Klartext für die Sternenchiffre
      Die Sternenchiffre wird in der Literatur mehrfach beschrieben, aber nie mit genauem und verständlichem Lösungsweg. Daher habe ich die Sternenchiffre als Rätsel bei Mystery Twister C2 eingereicht (https://www.mysterytwisterc3.org/images/challenges/mtc3-schmeh-08-steganographie-de.pdf).
      Tatsächlich sind (innerhalb von vier Jahren) inzwischen etwa zehn korrekte Lösungen eingegangen. Dies ist nicht gerade viel. In meinem Buch “Versteckte Botschaften – Die faszinierende Geschichte der Steganografie”, das ich gerade aktualisiere, werde ich daher den Lösungsweg etwas ausführlicher beschreiben.

  16. #21 Thomas Ernst
    Latrobe
    18. Juni 2016

    Bei der Schnecke werden die Positionen der Innenstrichelungen des Gehäuses à zwei und drei für Buchstaben stehen, also insgesamt – wenn ich das richtig gezählt habe – 24 Buchstaben. Das würde längenmäßig ungefähr einer von Walchs Verszeilen entsprechen.

    • #22 Klaus Schmeh
      18. Juni 2016

      Das klingt plausibel. Allerdings sind die einzelnen Striche kaum voneinander zu unterscheiden. Vielleicht wird es für immer Walchs Geheimnis bleiben, was er damit gemeint hat.

  17. #23 Thomas Ernst
    Latrobe
    18. Juni 2016

    Walch ergeht sich ab S. 190 über kryptologische Methoden. Unsichtbare Tinte. Steganographische, jedoch unverstandene Briefe à la Trithemius, dessen “Steganographia” (Zweitauflage 1608) er imitiert, jedoch nicht versteht (sogar den Bostius-Brief aus den “Polygraphia”-Auflagen ab 1550 kennt er). Folgen Scherzchen wie “Cahrnci […]” für “Cras hora noctis […]”. Dann, unten 198, beschreibt er Vigenères Sternenchiffre, Schablonen, sogar die – auseinandergefaltet – links und rechts stehenden Klartextalphabete; natürlich ohne Quellenangabe. Aber wo Vigenère erklärt – siehe # 19 – , nix dergleichen bei Walch. Da sollen Punkte und wer weiß was eben für Text stehen, aber er erklärt ja nichts. Gemahnt mich doch sehr an Caramuels “Erklärung” von Trithemius’ “Steganographia”, eines der irrsinnigsten Bücher der gesamten kryptologischen Literatur. Kryptologische Hochstapelei im Sinne von: jetzt bedeutet dies mal das. Eben wie Caramuel.

    • #24 Klaus Schmeh
      18. Juni 2016

      >“Steganographia”, eines der irrsinnigsten Bücher der gesamten kryptologischen Literatur
      Ein Hinweis für die Leser: Dass wir die “Steganographia” heute richtig verstehen, liegt an Thomas Ernst, der dieses Buch in den neunziger Jahren buchstäblich entschlüsselt hat.
      Hier gibt es mehr dazu: https://texperimentales.hypotheses.org/84
      Das zugehörige Buch: Ernst, T.: 1996, ‘Schwarzweiße Magie. Der Schlüssel zum dritten Buch der Steganographia des Trithemius’, Daphnis (25), 1–205.

  18. #25 Thomas
    18. Juni 2016

    Wo wir bei den “Urquellen” sind: Als Erfinder der Nr. 8 nennen Walch und andere Autoren den Rechenmeister Stephan Brechtel. Den Titel seines entsprechenden Werkes konnte ich weder im Verzeichnis vonTobias Schrödel noch an anderer Stelle finden. Weiß jemand dazu Näheres?

  19. #26 Thomas Ernst
    Pittsburgh
    18. Juni 2016

    Nachschlag Vigenère, Caramuel, obwohl es die achte Todsünde ist, beide Namen überhaupt zusammen zu nennen.
    1) Vigenères “Traicté” ist bei gallica digitalisiert: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k73371g. Vigenère ist ein schlauer Fuchs, schweift aber gerne ab, bedient sich keiner Kapitel oder klarer Unterabteilungen, bietet keinen Index, gleitet auf leisen Sohlen von einem Thema zum anderen – “Ainsi soit-il”, wie er sein Buch beschließt. Er ist der wirkliche Poet unter den kryptologischen Schriftstellern, und er schreibt nach dem Prinzip “Suche, und du wirst finden”. Seine eigentliche Darstellung der Sternen- und Lorbeerchiffre setzt mit dem Anfang von Psalm 19 unten auf 256v ein, den er als Klartext für die Sternenchiffre verwendet. Das erste carré mit Fünferpositionen – es ist eher ein hochstelltes Rechteck – folgt auf 257, dann 258v-259r das Sternenbild (auch der Mond beschaut sich die Sache), das zweite Fünfercarré für die Lorbeerchiffre auf 260r, Klartext diesmal Beginn von Psalm 103, Abbildung Lorbeerbild 260v-261r; dann folgt, 261v-262r, die Darstellung beider Klartexte im Schablonenformat. Für Psalm 19 also: erste Spalte links: “les ci”, zweite Spalte: “eu[x] en”, dritte Spalte “chacun”. Was ist mit dem “x” geschehen? Nun, es fehlt im auf 16 Werte beschränkten Klartextalphabet (Bezug auf die 4×4-Polybios-Quadrate), und die Kästchen sollten wohl nicht zu pingelig ausfallen. Deshalb in der zweiten Spalte eben nur vier Buchstaben. Vielleicht guckt der Mond deshalb etwas traurig.
    2) Zedler vermerkt über Johannes Caramuel von Lobkowitz, (1606–1682), daß Emanuel Fernandez de Villarea in einem “Anti-Caramuel” seinem Wiedersacher zwar “den Ruhm der Scharffsinnigkeit und einiger Beredtsamkeit läst, den Verstand und die Beurtheilungs=Kraft hingegen fast gäntzlich abspricht.” Diesem Urteil pflichtet der Leser von Caramuels 1635 erschienener “declaratio” von Trithemius’ “Steganographia” gerne bei: der Titel des Werks ist so lang – 121 Wörter – wie dessen Inhalt unsinnig, und wird noch vierzig Jahre später Wolfgang Ernst Heidel amüsieren: “Speciosus titulus! cui si effectus respondeat, in ipso limine labori meo qualicunque valedicam, atque loco steganographiæ meæ reseratæ in laudes Caramuelis plenissimè effundar necesse est.” Der scharfsinnige Wahnsinn, der uns von jeder Seite in Caramuels Interpretation des ersten Buchs von Trithemius’ Steganographia entgegenspringt – mit S II und S III befaßt er sich nicht – rührt an ein Grundproblem der Pseudo-Kryptologie, wie sie auch heute noch gepflegt wird, wenn man sich nicht damit abfinden möchte, daß Shakespeare Shakespeare war: ein Chiffriersystem ohne hunderprozentige inhärente Stimmigkeit, inklusive erklärbarer Fehler, ist eben kein Chiffriersystem. Caramuel impliziert für “Steganographia” I den Gebrauch von monoalphabetischen Substitutionen mit 32 verschiedenen Schriftsymbolen, und die Anordnung des solcherart substituierten Klartextes in quadratischer Manier, wobei diese “Quadrattexte” von links nach rechts, von oben nach unten, oder umgekehrt gelesen werden können. Trithemius hingegen verwendet in S I keine Substitutionsalphabete, und jene in S II umfassen nicht 32 Symbole, und nirgends bedient er sich quadratischer Verschachtelungen. Caramuel stöpselt sich seine – nicht Trithemius’ – Klartexte so zusammen: er pflückt sich Buchstaben auf willkürliche Manier aus den Chiffretexten heraus, bis sie irgendeinen Sinn ergeben, und beschränkt sich dabei auch nicht auf die Anfangsbuchstaben der Wörter. Den Engelsnamen von Trithemius’ coniurationes legt er alle möglichen hebräischen Bedeutungen bei, ohne auch nur eine einzige coniuratio richtig aufzufädeln. Das Ergebnis sind 158 Seiten im Eigenverlag gedruckten Unsinns. Wobei einige seiner “Dechiffrate” recht lustig sind sind: “Perdidi chirographum Ducis! Quid faciam?” für S I/9, ” Piscis in hamo est” für S I/22, dann ein einsichtiger Moment bei S I/21: “Fructus nullus, fructus nullus, fructus nullus.” – À propos meiner “Schwarzweißen Magie”, auf die Herr Schmeh – vielen Dank! – verweist: Trithemius’ “Steganographia” existiert nicht länger autograph; damals hatte ich zur Lösung nur die Drucke von 1606 und 1608 und eine einzige Abschrift zur Hand. Über die Jahre habe ich fast alle mir bekannten Abschriften sammeln können und eine kommentierte Original-Steganographia plus Rezeptionsgeschichte rekonstruiert, die bei mir – 800 Seiten – schon lange im Computer schlummert, da ich ihr nie den letzten Schliff gegeben habe. Spezifische Anfragen hinsichtlich Inhalt und Rezeption beantworte ich gerne, wenn ich kann.

  20. #27 Thomas Ernst
    Pittsburgh
    18. Juni 2016

    @ Thomas: Doppelmayrs “Nachrichten” von 1730 zufolge – https://books.google.de/books?id=PlQxAQAAMAAJ&hl=de&pg=PP9#v=onepage&q&f=false – (1730) wurde das einzige gedruckte Werk Brechtels 1553 (eigentlich 1554) von Michael Stifel herausgegeben, zusammen mit Christoff Rudolffs “Coß”, der ersten deutschen Algebra. Ich habe ebenda viel Rudolff, aber noch keinen Brechtel gefunden, allerdings auch nicht lange nachgesehen. Doch Doppelmayr wird schon recht gehabt haben; wenig umfangreiche Schriften ähnlicher Thematik wurden in diesen frühen Drucken oft zusammengeworfen, hier war der Leitesel eben Rudolff. – Stifel/Rudolff/[Brechtel?] abrufbar unter: https://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/image/2014414/1/LOG_0000/

  21. #28 Thomas Ernst
    Pittsburgh
    20. Juni 2016

    Nachtrag und Verbesserung zu Vigenères tabellarischer Darstellung seiner beiden Bildchiffren auf [261v] – 262r: von beiden Psalmen führt er jeweils nur die erste Zeile aus, und dies auf zwei unterschiedliche Methoden. Beim Klartext der Sternenchiffre werden [261v] – 262r von links nach rechts gelesen: 1. Spalte: LES CI, 2. Spalte: EUS EN, 3. Spalte: CHACU, 4. Spalte: N LI[E]U. Das “X” fällt nicht aus (mea culpa), sondern wird durch nächstliegendes “S” ersetzt. In der vierten Spalte jedoch fehlt Klartext-E. – Für den Lorbeertext muß man die Tabelle seitwärts drehen und von 262r zeilenweise nach unten lesen und sich der Zählung rechts bedienen, wie Vigenère auf f. [262v] erklärt: “Mais vous pouuez encore renuerser ce treilliz, & son ordre, en mettant les lettres en hault, & les les nombres à costé, au rebours du precedant […]”. 1. Zeile: SUS LO, 2. Zeile: UES DI, 3. Zeile: EU MON, 4. Zeile: AME EN, 5. Zeile: TOUTE, 6. Zeile: CHOSE. Hier ersetzt “S” das nicht verfügbare “Z” in “loüez”.