Handfest geht es am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe zu. In den Labors im verzweigten Inneren des Institutsgebäudes kombinieren Wissenschaftler chemische Elemente kreuz und quer durch das Periodensystem – und behandeln sie dabei aufs Härteste.

Sie legieren und verschmelzen diese bei höllischer Hitze und bei Drücken wie im Innern des Planeten. Manche der dabei entstehenden Feststoffe werden pulverisiert und unter hohem Druck wieder zusammengebacken, manche werden auf extrem tiefe Temperaturen herunter gekühlt, andere wiederum mit Röntgen- oder Laserstrahlen beschossen oder im Ultrahochvakuum eines Elektronenmikroskops analysiert. Für einzelne Versuche konstruieren die Techniker der hauseigenen Werkstatt eigens neue Teile, ganze Maschinen oder spezielle Gehäuse.

Der ganze Aufwand dient dazu, die Eigenschaften bestimmter Materialien zu studieren, die eines Tages vielleicht neue industrielle Verfahren ermöglichen, die in Autos, Kühlschränken, Computern zum Einsatz kommen. Oder in Geräten, von denen wir heute noch gar nichts ahnen.

Während der Führung durch das Laborlabyrinth erscheint mir meine derzeitige Wirkungsstätte wie das pure Gegenteil zum benachbarten Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme, aus dem ich jüngst berichtet habe. Dort benötigen die Forschenden außer Computern und Kaffeemaschinen keinerlei Apparate. Oft begnügen sie sich sogar mit Papier und Bleistift.

Doch auch hier, wo Chemiker und Physiker unter einem Dach, aber mit verschiedenen Methoden Festkörper studieren, arbeiten manche Wissenschaftler hauptsächlich mit Formeln und Gleichungen. Sie füttern komplizierte Programme mit bekannten experimentellen Daten der zu untersuchenden Verbindungen. Der Rechner simuliert dann das Verhalten unter neuen Bedingungen.

“So können wir vorhersagen, welche weiteren Experimente überhaupt sinnvoll sind”, erklärt der Leiter der Theoriegruppe Festkörperphysik, Helge Rosner, während er sich eine Tasse Kaffee braut. Seine Schuhe trocknen auf der Heizung. Rosner ist durch das verregnete Dresden hergeradelt, nachdem er die frühen Morgenstunden zum konzentrierten Arbeiten zuhause genutzt hat. Denn im Institut klopfen andauernd Mitarbeiter an, die ihre Simulationen mit ihm besprechen wollen. Gerade stehen wieder zwei Doktoranden vor der Tür, die virtuell mit würfelförmigen Atom-Anordnungen jonglieren.

Sie müssen sich noch etwas gedulden. Erst einmal verschafft der Chef mir einen Überblick, womit sich die Theoriegruppe Festkörperphysik beschäftigt. Da sind einmal die Pniktide. Diese Verbindungen sind für die Wissenschaft interessant, weil sie schon bei vergleichsweise hohen Temperaturen supraleitend werden. Wie an dieser Stelle schon beschrieben, sind Supraleiter Materialien, die bei sehr tiefen Temperaturen plötzlich ihren elektrischen Widerstand aufgeben, sodass Strom ungehindert durch sie hindurch fließt. Lange dachte man, die Temperaturen, bei denen dieser Effekt eintritt, müssten sehr nahe am absoluten Nullpunkt liegen, also nur unwesentlich über jenen minus 273 Celsiusgraden, bei denen selbst die quirligsten Elementarteilchen zur Ruhe kommen. Doch vor einigen Jahren entdeckten Forscher, dass manche Stoffe schon bei geringerer Kälte supraleitend werden. Eisen-Pniktide zum Beispiel bei vergleichsweise kuscheligen minus 220 Grad.

Besonders interessant macht diese Verbindungen aus Eisen, Arsen und Strontium, dass Drahtspulen, die sich daraus herstellen lassen, viel höhere Magnetfelder erzeugen können als die bisher verwendeten Verbindungen. Allerdings wollen die Wissenschaftler einzelne Bestandteile darin Atom für Atom gegen andere ersetzen, das giftige Arsen etwa durch unschädliches Phosphor, oder das teure Strontium gegen Kalium oder Natrium – für mögliche spätere Anwendungen, aber zunächst um des reinen Erkenntnisgewinns willen. Es wäre jedoch viel zu aufwendig, reihenweise Proben daraufhin durchzutesten, welche Kombination welche chemischen und physikalischen Eigenschaften aufweist. Zudem wäre es nahezu unmöglich, die chemischen Auswirkungen der “Ersatz”-Atome und jene von Größenänderungen des Kristallgitters auseinanderzuhalten. Die Computersimulation hingegen erlaubt es, die gefundenen Effekte eindeutig zuzuordnen. So lassen sich die vielversprechendsten Pniktide herausfiltern, um sie im praktischen Experiment näher untersuchen zu können.

Helge Rosner und seine Theoriegruppe erforschen außerdem den Magnetismus, im Besonderen das Verhalten frustrierter Magnete. Die magnetischen Momente in solchen Materialien sind so angeordnet, dass sie nicht gleichzeitig mit all ihren Nachbarn eine energetisch günstige Anordnung finden können. Sie erfordern jedoch weniger, wie der Laie vermuten könnte, psychologische Betreuung als vielmehr ein grundlegendes chemisch-physikalisches Verständnis ihres exotischen magnetischen Verhaltens. “Wir wissen noch lange nicht gut genug nicht, wie Magnetismus in solch komplexen Systemen funktioniert”, sagt Helge: “Alle genauen Modelle können nur durch Näherungen gelöst werden. Aber die müssen sich in der Praxis erst einmal bewähren.”