Vorsorge und Prävention sind die Zauberworte der heutigen Medizin. Doch die Hinweise mehren sich, dass der Versuch, möglichst alle Krankheiten zu vermeiden oder abzukürzen, selbst Krankheiten erzeugt.

In der Juli Ausgabe des Magazins Emotion wird mein neues Buch “Lob der Krankheit” vorgestellt. Das Thema des Beitrags lautet: „Tun wir zuviel für unsere Gesundheit?” Hier eine ausführlichere Version des Interviews, das die Redakteurin Katharina von Freyburg im Vorfeld mit mir geführt hat.

Emotion: Greifen wir zu häufig und zu schnell nach Medikamenten?

Bert Ehgartner: Das Immunsystem hat sich über die Jahrmillionen im unmittelbaren Kontakt mit Viren, Bakterien und sonstigen Mikroorganismen entwickelt. Da bestehen vielfältige Beziehungen, die für uns Vorteile haben. Doch auch wenn es sich um gefährliche Keime handelt, weiß das Immunsystem gut damit umzugehen. Im Vergleich dazu haben wir mit Medikamenten nur höchst primitive Hilfsmittel zur Verfügung. Wir müssen sie meist viel zu hoch dosieren, weil wir sie nicht zielgerecht an den Einsatzort bringen können. Deshalb überfluten wir mit den Wirkstoffen den ganzen Organismus, greifen damit unmittelbar in die Arbeit des Immunsystems ein und entmündigen es. Wir sollten uns diese Medikamente deshalb für die Notfälle aufheben.

Emotion: Nutzen wir zu viele vorbeugende Mittelchen?

Bert Ehgartner: Vorsorge und Prävention sind die Zauberworte der heutigen Medizin. Krankheiten schon im Ansatz zu unterbinden oder gar nicht erst entstehen zu lassen, klingt natürlich verführerisch. Und der Pharmaindustrie kommt das sehr entgegen. Denn vorbeugende Medikamente gibt es in rauen Mengen, deutlich mehr jedenfalls als heilende. Mit dem Argument der Vorsorge lassen sich Risikowerte behandeln, wo noch gar keine Beschwerden vorhanden sind. Wenn man die Grenzwerte nur ein wenig nach oben verschiebt ist gleich die halbe Bevölkerung behandlungsbedüftig. Das beste Beispiel ist Cholesterin, wo ab einem gewissen Alter fast jeder zu hohe Werte hat – und das bei bester Gesundheit. Vorsorge bringt also zumindest der Pharmaindustrie gewaltige Vorteile, bei den neu angeworbenen Patienten ist das weniger klar.

Emotion: Können uns zu viele Medikamente auch schaden?

Bert Ehgartner: Alles was eine Wirkung hat, hat auch eine Nebenwirkung. Bei vielen Medikamenten wird jedoch so getan, als könnten wir unser Sicherheitsbedürfnis grenzenlos ausleben. Wenn wir ein Kind bei jedem kleinen Sturz sicherheitshalber in die Röhre der Computertomographie schieben und ein Ganzkörper-Röntgen machen, so übersteigt der Schaden den Nutzen um ein Vielfaches. Doch genau so handeln wir: Wir geben den Kindern heute doppelt so viele Impfungen wie noch in den 90er Jahren. Die Antibiotika-Verschreibung hat ein noch nie dagewesenes Allzeithoch erreicht. Bei jeder winzigen Temperaturerhöhung werden Fiebersenker verabreicht. Und jede Anwendung greift unmittelbar in die Arbeit des Immunsystems ein. Manche Menschen halten mehr aus, andere weniger. Doch irgendwann entgleist das Immunsystem und deshalb stehen wir heute auch inmitten einer Epidemie aus Allergien und Autoimmunkrankheiten. Von der Medizin dürfen wir uns hier allerdings wenig Hilfe erwarten. Denn bei den selbst verursachten Schäden ist jeder Berufsstand betriebsblind. Hier braucht es unabhängige Qualitätskontrolle. Und da hapert es noch gewaltig.

Emotion: Wie kann man sinnvoll seine Abwehrkräfte stärken?

Bert Ehgartner: Die wichtigsten Einflüsse passieren in der Kindheit. Hier gehen Entwicklungsfenster auf, die später nur noch schwer zugänglich sind. Wir wissen heute, dass der Kontakt mit Schmutz und Keimen deutlich mehr nützt als schadet. Das heißt jetzt nicht, dass wir die Kinder zum Spielen in den Schweinestall schicken sollen. Doch wir sollten uns entspannen. Wenn ein Baby einen Regenwurm in den Mund nimmt oder mit der Katze schmust, so atmen sie tief durch und lehnen Sie sich zurück. Das ist gut für seine Abwehrkräfte. Und es schützt auch vor Allergien, die wenn sie erst einmal ausgebrochen sind, meist nur gelindert aber kaum noch geheilt werden können.
Erwachsene sollten Krankheiten keinesfalls über Medikamente und sonstige Fitmacher unterdrücken, sondern als Auszeiten vom hektischen Alltag willkommen heißen, sich zurückziehen und sich vom Partner pflegen lassen. Stress- und Immunsystem sind absolute Gegenspieler. Wenn das eine aktiv ist, kann das andere nicht arbeiten. Deshalb ist eine Krankheit immer ein Alarmsignal, dass der Stress übertrieben wurde und eine Pause nötig ist. Und während wir Tee trinken, ein gutes Buch lesen und viel schlafen, läuft auf molekularer Ebene ein Fullservice ab – aus dem wir gestärkt und runderneuert hervorgehen.

Emotion: Wann ist es sinnvoll eine Krankheit einfach einmal zuzulassen? Sollte man das?

Bert Ehgartner: Ja sicher. Denn kleine Krankheiten gehört zum Leben dazu. Wenn wir alle Infekte vermeiden wollen, verhalten wir uns so ähnlich wie die Agrarindustrie mit ihren riesigen Mastschwein- und Putenbetrieben. Da übernimmt der Veterinär die Arbeit des Immunsystems – und verordnet Futter, wo gleich die wichtigsten Arzneimittel drin sind. Wenn dann aber trotzdem irgendein kleiner Keim die Sicherheitsschleußen überwindet, fallen die Tiere massenhaft tot um. Das haben wir ja gesehen bei der Vogelgrippe-Hysterie, die in Wahrheit eine Krise der Intensiv-Landwirtschaft und ihrer ungesunden Praktiken war.
Das ist eine Alternative, die wir nicht ernsthaft anstreben können. Doch immer öfter habe ich den Eindruck, dass wir über die Massen-Medikalisierung der Kinder gewaltig auf dem Weg dorthin sind.

Emotion: Wie hilft Fieber dem Körper?

Bert Ehgartner: Fieber ist ein Hilfsmittel des Immunsystems. Wenn bestimmte Infektionen es erfordern, so bittet das Immunsystem eigenständig um Hilfe und ersucht die Hypophyse im Zwischenhirn, den Temperaturregler raufzudrehen. Damit wirft das Immunsystem einen ausgeklügelten Alarmplan an, der seine eigenen Arbeitsbedingungen verbessert und jene der meisten Keime schwächt.
Wir wissen heute, dass die Fähigkeit Fieber zu erzeugen ein Kennzeichen für ein flexibles fittes Immunsystem ist. Wer als Erwachsener noch fähig ist, über 38 Grad zu fiebern, sollte sich darüber freuen. Denn ein fittes Immunsystem ist der wichtigste Garant dafür, dass Krebszellen schon im Ansatz erkannt und vernichtet werden. Wenn allzu oft in die Arbeit des Immunsystems eingegriffen wird, kann es jedoch passieren, dass damit auch die Fähigkeit zu fiebern verloren geht. Die Mediziner wissen sehr gut, wie man Fieber unterdrückt. Wie man allerdings diese Reaktion wieder herstellt, da sind sie mit ihrer Weisheit am Ende.