‘La racine ou la mort’ (zu deutsch:’Quadratwurzel oder Tod’) proklamierte im vergangenen März Polen’s Premier Jaroslaw Kaczynski. Es war wohl das erste Mal in der Geschichte, daß ein Staatsführer sein Leben (bzw. das seiner Untertanen) für ein mathematisches Konzept opfern wollte. Zyniker könnten sagen, daß die
ausdauernde Öffentlichkeitsarbeit der Mathematiker erste Früchte trägt. Was waren das noch für friedliche Zeiten, als Politiker einfach zugaben, in Mathe immer schlecht’ gewesen zu sein.


Zur Erinnerung: es ging im Wesentlichen um die Frage, ob die Stimmen im EU-Ministerrat proportional zur Bevölkerungszahl oder nur proportional zur Quadratwurzel der Bevölkerungszahl vergeben werden.
Letzteres hätte große Länder, speziell Deutschland, benachteiligt.

Für diejenigen, die Geschichte in der Schule abgewählt haben: ‘La racine ou la mort’ soll anklingen an ‘La revolution ou la mort’. Dieser Satz stammt wohl vom französischen Revolutionär Danton, jedenfalls wird er bei Theodore Fay so zitiert. Daß Kaczynski jemanden zitiert, mit dem er politisch wenig gemein haben dürfte, ist ein weiterer merkwürdiger Twist in dieser Geschichte, die allerdings einen ernsthaften mathematischen Hintergrund hat.

Nun ist Kaczynski inzwischen abgewählt und das Quadratwurzel-Thema wohl nicht mehr akut. Aber es gibt ja auch anderswo Stimmenverteilungen nach dem Blockprinzip. Zum Beispiel aktuell bei den US-Wahlen. Die
Stimmen werden auch dort so vergeben, daß der Kandidat, der ein Land gewinnt, alle Stimmen dieses Landes erhält. Kleine Länder spielen also scheinbar für das Gesamtergebnis keine große Rolle, was ja zum
Beispiel bei den US-Wahlen dazu führt, dass sich der Wahlkampf gelegentlich auf einzelne Staaten konzentriert.

Eigentlich hatte sich Kaczynski auf ernstzunehmende wissenschaftliche Arbeiten berufen, die allerdings schon einige Jahre alt waren und bis dahin in der Politik niemand beachtet hatte. Natürlich wissen wir, daß es ihm nicht um Mathematik und auch nicht wirklich um das Quadratwurzel-Prinzip, sondern um Wahlkampf und diplomatische Verwicklungen ging. Aber unabhängig davon kann man unter mathematischen Gesichtspunkten die Korrektheit seiner Argumente überprüfen. Es hat übrigens schon früher Mathematiker gegeben, die versuchten, der Politik das Quadratwurzelprinzip nahezubringen. Einzelheiten dieser Geschichte kann man im FAZ-Artikel vom 14.6.2007 nachlesen.

Der allgemein anerkannte Maßstab, wann eine Wahl als gerecht anzusehen ist, ist daß jeder Wähler die selbe ‘individual voting power’, zu deutsch denselben Einfluß auf den Wahlsieg einer Partei, haben soll. (Im Deutschen wird hier der Begriff ‘Machtindex’ verwendet, ich finde ‘individual voting power’ aber viel klarer.)

Man kann sich extreme Beispiele ausdenken, in denen die Wähler eines bestimmten Staates überhaupt keinen Einfluß auf das Wahlergebnis haben. Nehmen wir folgendes (theoretische) Beispiel: es gebe 4 Länder, und die einzelnen Länder haben 12, 9, 6 und 2 Wahlmänner. Dann kann man sich leicht überlegen, daß, ganz egal wie die Wahl ausgeht, es nie auf die beiden Wahlmänner des vierten Landes ankommt. Nämlich, weil die Wahlmännerzahlen der drei anderen Länder alle durch drei teilbar sind, und offensichtlich ein Gleichstand nicht erreicht werden kann, wird die jeweils stärkere Partei bereits in den ersten drei Ländern eine Mehrheit von mindestens 3 Wahlmännerstimmen haben und deshalb auf die Stimmen des vierten Landes nicht mehr angewiesen sein. Die Wähler des vierten Landes könnten bei der Wahl also auch gleich zuhause bleiben. (Und, was schlimmer ist: die Wahlkämpfer bräuchten auf die Belange des vierten Landes keine Rücksicht mehr zu nehmen.)

Nun ist dieses Beispiel etwas konstruiert, und tatsächlich kommen in den realen Beispielen (US-Wahlen, EU-Ministerrat, Internationaler Währungsfond) solche extremen Fälle wohl nicht vor.

Aber es stellt sich natürlich schon die Frage, mit welchem Verfahren man eine möglichst konstante Verteilung der ‘individual voting power’ gewährleisten kann, ob man die Stimmen proportional zur Wählerzahl oder nach dem Quadratwurzelprinzip verteilen sollte.

Was heißt das jetzt am Beispiel der US-Vorwahlen? Soweit ich es verfolgt habe, hat wohl Obama eher die kleinen Staaten und Clinton eher die bevölkerungsreichen Staaten (Kalifornien, New York, Florida) gewonnen. Wenn Kaszynski Recht hatte, verschafft das geltende Wahlrecht also Clinton einen Vorteil.

Ob dem tatsächlich so ist, werden wir morgen in der Fortsetzung dieses Artikels, mathematisch etwas fundierter, erörtern.