Die Differentialrechnung macht es der Naturwissenschaft erst möglich, Prozesse, nicht nur Zustände mathematisch darzustellen: Bewegung.” (Engels: Dialektik der Natur.)

Sogut wie jeder Vorgang in Natur oder Gesellschaft läßt sich durch Differentialgleichungen beschreiben. Über das Thema könnte man natürlich eigene Serien schreiben, hier in dieser Serie schneide ich das Thema jetzt aber nur wegen dem Zusammenhang mit den in den letzten Wochen besprochenen Fixpunktsätzen an. Heute und nächste Woche soll es um die Anwendung von Fixpunktsätzen beim Lösen von Differentialgleichungen gehen.

Bekanntlich ist der Anstieg einer Funktion f(x) an der Stelle x gegeben durch ihre Ableitung f'(x).

Angenommen, man ist ein Bank-Mitarbeiter, der einem Kunden einen Anlageplan schmackhaft machen will, bei dem zu jedem Zeitpunkt der Zuwachs genau dem angelegten Geld entspricht. Das heißt, wenn f(x) der Geld-Betrag zum Zeitpunkt x ist, dann soll also

f(x)=f'(x)
gelten. Wir gehen davon aus, daß der Kunde zum Zeitpunkt 0 einen Euro anlegt, also f(0)=1.

Wenn wir den Ertrag zu irgendeinem Zeitpunkt berechnen wollen, müssen wir also die Differentialgleichung f(x)=f,(x) mit der Anfangsbedingung f(0)=1 lösen.

Wer sich ein wenig mit mathemtischen Funktionen auskennt, kommt vielleicht schon durch Raten auf die Lösung f(x)=exp(x), d.h. die Exponentialfunktion. Aber Mathematiker interessieren sich natürlich für systematische Methoden, die sich dann auch auf andere (realistischere) Gleichungen anwenden lassen.

In unserem Beispiel f(x)=f'(x) gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Lösungen als Fixpunkte einer Abbildung zu sehen.

Der offensichtliche Ansatz wäre natürlich der folgende: wir nehmen die Abbildung, die die Funktion f auf die Funktion f’ abbildet. Offensichtlich sind die Lösungen von f=f’ gerade die Fixpunkte dieser Abbildung. (Das ist jetzt natürlich keine Abbildung R–>R, sondern eine Abbildung zwischen bestimmten Funktionenräumen. Dazu nächste Woche.)

Ein anderer, scheinbarer komplizierterer Ansatz: Nach dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung ist f(x)=f'(x) äquivalent zu f(x)=f(0)+i-3e6bbc89ea5a536a429b82f1c1e2a084-Exp_e.png

Natürlich kann man auf ähnliche Weise auch realistischere Gleichungen lösen. Wenn etwa nur f'(x)=0.1 f(x) ist, bekommt man analog als Lösung f(x)=exp(0.1 x), zum Zeitpunkt 1 also exp(0.1)=1.105.

Allgemein (für irgendeine Zahl k) hat man als Lösung von f'(x)=k f(x) die Funktion f(x)=exp(kx).

In den Naturwissenschaften kommt diese Gleichung z.B. vor beim radioaktiven Zerfall. Hier ist k natürlich negativ, d.h. die Lösung f(x)=exp(kx) ist eine monoton fallende Funktion.

Auch Bevölkerungswachstum (von Tierpopulationen) wird durch eine ähnliche Differentialgleichung beschrieben. Hier ist f(x) die Anzahl der Tiere einer Population. Neben dem “Wachstumsterm” kf(x) hat man hier aber zusätzlich noch einen “Reibungsterm” rf(x)2, der proportional zur Anzahl der Begegnungen zwischen den Tieren ist. Die Gleichung (zuerst 1837 von Verhulst als einfachste Gleichung für das demografische Modell angegeben) ist dann also f'(x)=kf(x)-rf(x)2. Ihre Lösung sieht in etwa aus wie im Bild unten.

i-6aa591e5f5776d26f627618a5fcd85ad-Logistic-curve.png

In Wirklichkeit ist natürlich alles viel komplizierter, weil man noch alle möglichen Umwelteinflüsse und auch andere Tierpopulationen (z.B. Räuber-Beute-Beziehungen, cf. Lotka-Volterra-Gleichungen ) berücksichtigen muß.

(Die Titelzeile ist übrigens keine Replik auf den aktuellen SpOn-Artikel, sondern nur ein Verweis auf das IMHO einzige heute noch aktuelle der Marx-Engels-Werke.)

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