Der “Schmetterlingssatz”, projektive Geometrie und antisemitische Problemstellungen.

“Mathematik und Ideologie” heißt das 4. Kapitel von Ruelle’s Buch “Wie Mathematiker ticken”.

Das Wort ‘Ideologie’ hat dabei offensichtlich (auch wenn das von Ruelle nicht explizit gesagt wird) 2 unterschiedliche Bedeutungen:
– eine unpolitische, wissenschaftsinterne, im Sinne der Unterschiede zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Herangehensweisen (in der Mathematik z.B. eher algebraische, eher analytische oder eher geometrische Herangehensweisen), die aus subjektiven Gründen von einzelnen Mathematikern bevorzugt oder abgelehnt werden
– und eine politische, im Sinne der Beeinflussung von Wissenschaft durch politische Ideologen (z.B. “deutsche Mathematik“).

Ruelle’s Positiv-Beispiel für eine wissenschaftliche (unpolitische) Ideologie ist Klein’s Erlanger Programm (s. Kapitel 3). Dieses postuliert, man solle Geometrie verstehen, in dem man sich die relevanten Symmetriegruppen anschaut (und betont insbesondere auch die Bedeutung der projektiven Geometrie).
Das “Erlanger Programm” ist eigentlich nur eine Ideologie: Klein bevorzugt Arbeiten mit Symmetriegruppen gegenüber anderen Methoden, etwa Descartes’ analytischer Geometrie. (Notabene: es geht hier nicht um Fragen von ‘wahr’ und ‘falsch’ – alle mathematischen Methoden führen, korrekt angewandt, zu korrekten Ergebnissen. Trotzdem haben viele Mathematiker starke Präferenzen für die eine oder andere Methode.)

Warum bevorzugt Ruelle Kleins “Ideologie” gegenüber anderen? Er erklärt dies am Beispiel des Schmetterlingssatzes:

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Schmetterlingssatz: Gegeben sei ein Kreis mit einer Sehne [ST]. M sei der Mittelpunkt dieser Sehne. [AB] und [CD] seien zwei weitere Kreissehnen, die ebenfalls durch M gehen. Dabei sollen A und C auf derselben Seite von [ST] liegen. Sind P und Q die Schnittpunkte der Kreissehnen [AD] bzw. [CB] mit [ST], so ist M der Mittelpunkt der Strecke [PQ]

Man kann versuchen, diesen Satz mit Methoden der euklidischen Geometrie zu beweisen – das ist schwer (oder unmöglich?). Man kann versuchen, Koordinaten einzuführen und den Satz durch Rechnung mit “brachialer Gewalt” zu beweisen – das funktioniert wahrscheinlich, aber ist “lang und unelegant” und “man versteht das Problem, das man gelöst hat, nicht wirklich”. Oder man kann es (was bei einem Problem, das mit Abständen zu tun hat, zunächst unnatürlich aussieht) mit projektiver Geometrie versuchen. Das funktioniert tatsächlich – man kann Eigenschaften des Doppelverhältnisses nutzen, um den Satz zu beweisen. (Konkret läuft es darauf hinaus, die Gleichheit der Doppelverhältnisse [S:T:P:M]=[S:T:M:Q] zu beweisen.)
Man bekommt also einen einfacheren Beweis, wenn man der ‘richtigen’ Ideologie (nämlich Kleins Erlanger Programm) folgt.

Soweit zu wissenschaftlichen Ideologien innerhalb der Mathematik. Der Beweis des Schmetterlingssatz illustriert aber nicht nur den Unterschied zwischen verschiedenen geometrischen Ideologien, er ist auch ein bekanntes Beispiel für die Einflußnahme politischer Ideologien auf die Wissenschaft – er taucht nämlich auf einer von Ilan Vardi veröffentlichten Liste “antisemitischer Problemstellungen” auf.

Wie konnte unser Schmetterlingssatz in die Liste “antisemitischer Problemstellungen” gelangen? Schauplatz dieser Geschichte ist die Sowjetunion, der Zeitraum der 1970er- und 1980er-Jahre. Wie sie vielleicht wissen, glänzte die Sowjetunion in vielen Bereichen der Wissenschaft – insbesondere in der Mathematik und in der theoretischen Physik. Herausragende wissenschaftliche Leistungen wurden belohnt und die flexible Anpassung an die Parteilinie spielte in der Wissenschaft eine weniger dominante Rolle als in anderen Bereichen des sowjetischen Lebens. In gewissem Maße waren Wissenschaftler zu jener Zeit vor den Vorurteilen der herrschenden Kaste abgeschirmt. Über die Parteikomitees der Universitäten jedoch ergriffen die sowjetischen Behörden letztlich Maßnahmen, dies zu ändern. Insbesondere beschränkten sie die Zulassung von Juden und gewisser anderer nationaler Minderheiten an bedeutendere Hochschulen (speziell auch an der Moskauer Universität). Die Umsetzung dieser Politik erfolgte nicht offen und offiziell, sondern indem man unerwünschte Bewerber bei Aufnahmeprüfungen gezielt durchfallen ließ. Im Detail schildern dies Anatoly Vershik und Alexander Shen, die in ihren Artikeln eine Liste von “Killeraufgaben” nennen, mit denen rausgeprüft wurde, wer nicht als ethnisch oder politisch korrekt galt. Der Beweis des Schmetterlingssatzes steht auf der Liste der “Killeraufgaben” – warum, ist leicht nachzuvollziehen: die naheliegende Herangehensweise wird wahrscheinlich zu nichts führen. Natürlich gibt es eine relativ einfache Lösung, die ein erfahrener Mathematiker letztlich auch finden wird. Aber man stelle sich einen jungen Menschen vor, der zur Aufnahmeprüfung an einer Universität erscheint und innerhalb einer festgelegten Zeit eine solche Aufgabe lösen soll.

In Shen’s Artikel findet sich übrigens eine Liste von solchen “Killerproblemen”. Ein paar Beispiele (die Namen in Klammern sind die jeweiligen Prüfer):

1 (Lawrentiew, Gnedenko, O.P.~Vinogradov, 1973) (V.F.~Maksimov, Falunin, 1974) K is the midpoint of a chord AB. MN and ST are chords that pass through K. MT intersects AK at a point P and NS intersects KB at a point Q. Show that KP=KQ.

2 (Maksimov, Falunin, 1974) A quadrangle in space is tangent to a sphere. Show that the points of tangency are coplanar.

3 (Nesterenko, 1974) The faces of a triangular pyramid have the same area. Show that they are congruent.

4 (Nesterenko, 1974) The prime decompositions of different integers m and n involve the same primes. The integers m+1 and n+1 also have this property. Is the number of such pairs (m, n) finite or infinite?

22 (Andreev, 1987) Given k segments in a plane, show that the number of triangles all of whose sides belong to the given set of segments is less than C k3/2, for some positive constant C which is independent of k.

23 (Kiselev, Ocheretyanskii, 1988) Use ruler and compasses to construct, from the parabola y= x2, the coordinate axes.

24 (Tatarinov, 1988) Find all a such that for all x < 0 we have the inequality ax2 – 2x > 3a-1.

25 (Podol’skii, Aliseichik, 1989) Let A,B,C be the angles and a,b,c the sides of a triangle. Show that 60 degrees <= (aA + bB + cC)/(a+b+c) <= 90 degrees.

Ilan Vardi hat Lösungen zu diesen “Killerproblemen” ausgearbeitet (schließlich handelt es sich ja um anspruchsvolle und interessante Mathematik), hier als postscript-File.

Ruelle: Wie Mathematiker ticken
1 Wissenschaftliches Denken
2 Was ist Mathematik?
3 Das Erlanger Programm
4 Mathematik und Ideologie
5 Die Einheitlichkeit der Mathematik
6 Ein kurzer Blick auf algebraische Geometrie und Arithmetik
7 Mit Alexander Grothendieck nach Nancy
8 Strukturen
9 Die Rechenmaschine und das Gehirn
10 Mathematische Texte
11 Ehrungen
12 Die Unendlichkeit: Nebelwand der Götter
13 Fundamente
14 Strukturen und die Entwicklung von Konzepten
15 Turings Apfel
16 Mathematische Erfindung: Psychologie und Ästhetik
17 Das Kreistheorem und ein unendlich-dimensionales Labyrinth
18 Fehler!
19 Das Lächeln der Mona Lisa
20 „Tinkering” und die Konstruktion mathematischer Theorien
21 Mathematische Erfindung
22 Mathematische Physik und emergentes Verhalten
23 Die Schönheit der Mathematik

Kommentare (6)

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