Die Psychologie mathematischer Erfindungen: Vorbereitung – Inkubation – Illumination – Verifikation.

Viele Mathematiker haben sich Gedanken über die Psychologie mathematischer Erfindungen gemacht. Was erfahren wir aus der Introspektion? Henri Poincaré und Jacques Hadamard setzen sich mit einem erstaunlichen Phänomen auseinander, das sie und einige andere Mathematiker bei sich selbst beobachteten. Nachdem sie eine Zeitlang an einem Problem gearbeitet hatten (die Zeit der Vorbereitung), ohne dass ihnen gelungen wäre, es zu knacken, ließen sie es liegen. Dann – ein Tag, eine Woche oder mehrere Monate später (nach der Zeit der Inkubation, des Ausbrütens) – fiel ihnen beim Aufwachen oder während einer belanglosen Unterhaltung plötzlich die Lösung ein. Diese Illumination oder Einsicht (wie Hadamard sie nennt) vollzieht sich ohne Vorwarnung und kann in eine andere Richtung gehen als die bis dahin geleistete Forschungsarbeit. Die Einsicht leuchtet sofort ein, obwohl später eine genaue Überprüfung notwendig wird. Diese letzte Etappe der Verifikation (Bestätigung der Lösung durch Überprüfung und Präzisierung) kann zu der Erkenntnis führen, dass die Einsicht falsch war, woraufhin man sie vergessen wird. Oft genug aber erweist sich die von den Göttern geschenkte Lösung als richtig. Statt von den Göttern spricht man heute lieber vom Unbewussten.

Die Texte, auf die hier Bezug genommen wird, sind “L’invention mathématique” von Poincaré und “The psychology of invention in the mathematical field” von Hadamard.

Poincaré beschreibt in seinem Artikel, wie er die Theorie der Automorphen Formen entwickelte: er hatte 2 Wochen lang täglich zu beweisen versucht, daß es Funktionen mit bestimmten Eigenschaften nicht gäbe. In einer schlaflosen Nacht war ihm dann eingefallen, wie man solche Funktionen aus hypergeometrischen Reihen konstruieren kann. Später fiel ihm dann während einer geologischen Exkursion ein, daß die Symmetrien dieser Funktionen gerade Isometrien der hyperbolischen Ebene sind und (nachdem er in der Zwischenzeit über arithmetische Fragen gearbeitet hatte) fiel ihm später bei einer Strandwanderung ein, daß diese Symmetrien auch in der Theorie der quadratischen Formen vorkommen.

i-8b4e228bf5ec111edd56cfdaca440bd2-ModularGroup-FundamentalDomain-01.png

Hadamard schreibt, in der Inkubationsphase würden Gedanken auf unterschiedliche Weise zusammengestellt, bis man sich für die richtige Kombination entscheidet, und diese Entscheidung falle auf einer ästhetischen Grundlage.

Die verwendeten Konzepte können nonverbal sein und mit vagen visuellen, akustischen oder muskulären Elementen assoziiert werden. Er selbst, berichtet Hadamard, denke in nonverbalen Konzepten und habe anschließend Schwierigkeiten, seine Gedanken in Worte zu fassen.

Ähnlich äußert sich Einstein in einem Anhang zu Hadamards Buch.

i-42c13372f4df76c51e983dd8b23a0067-mathematicians-mind-jacques-hadamard-paperback-cover-art.jpg

Hadamards Buch ist eine sehr ausführliche Diskussion der Psychologie mathematischer Erfindungen und Ruelle will dem von Poincaré, Hadamard und Einstein gesagten nur noch einige neue Aspekte hinzufügen.

1. das heutige Wissen über Kurz- und Langzeitgedächtnis: die Inkubationsphase umfaßt vermutlich zum Teil die Übertragung der Arbeit der Vorbereitungsphase ins Langzeitgedächtnis.
2. das Aufkommen der Computer: der Gedanke, Computer auf die Erfindung guter neuer Mathematik zu programmieren, führt auf die Frage, wie wir uns selbst auf das Betreiben von Mathematik programmieren.
3. diskutiert er, daß die ästhetische Befähigung für Mathematik von der künstlerischen Befähigung verschieden ist.

Die Frage, was die Unterschiede von mathematischen Traditionen/Stilrichtungen bzgl. Ästhetik und gutem/schlechtem Geschmack sind, wird an einigen Beispielen erörtert:

Ein Beispiel für guten Geschmack wäre der Beweis eines schwierigen Theorems durch eine schlaue Anwendung des Satzes über implizite Abbildungen in einem Banach-Raum. Der Satz über implizite Abbildungen ist fundamental und gut bekannt, Schlauheit hingegen wird man vielleicht durch die Wahl des Banach-Raums und die Abbildung beweisen müssen, auf die man den Satz anwenden möchte. Im Erfolgsfall erhält man womöglich einen kurzen Beweis eines ansonsten schwierigen Resultats.

(Die Bemerkung bezieht sich auf die Arbeit “Stable manifolds and hyperbolic sets” von Hirsch und Pugh.)

Ruelle: Wie Mathematiker ticken
1 Wissenschaftliches Denken
2 Was ist Mathematik?
3 Das Erlanger Programm
4 Mathematik und Ideologie
5 Die Einheitlichkeit der Mathematik
6 Ein kurzer Blick auf algebraische Geometrie und Arithmetik
7 Mit Alexander Grothendieck nach Nancy
8 Strukturen
9 Die Rechenmaschine und das Gehirn
10 Mathematische Texte
11 Ehrungen
12 Die Unendlichkeit: Nebelwand der Götter
13 Fundamente
14 Strukturen und die Entwicklung von Konzepten
15 Turings Apfel
16 Mathematische Erfindung: Psychologie und Ästhetik
17 Das Kreistheorem und ein unendlich-dimensionales Labyrinth
18 Fehler!
19 Das Lächeln der Mona Lisa
20 „Tinkering” und die Konstruktion mathematischer Theorien
21 Mathematische Erfindung
22 Mathematische Physik und emergentes Verhalten
23 Die Schönheit der Mathematik