Formalismen und intuitive Bedeutung

Kapitel 21 beschäftigt sich noch einmal damit, wie mathematische Theorien eigentlich entstehen. Das ist natürlich schwer zu vermitteln – wer selbst Mathematiker ist, wird aus diesen Erklärungen kaum etwas neues lernen, und wer nicht, ist nach den recht allgemein gehaltenen Erläuterungen hinterher wahrscheinlich auch nicht weiter.

Will man also eine mathematische Theorie konstruieren, muss man ein Gedankennetz postulieren und dieses Netz schrittweise absichern und abwandeln, bis es logisch unangreifbar ist. Erst dann hat man eine Theorie. Tatsächlich steht im Normalfall anfangs nicht fest, ob es gelingen wird, die Konstruktion wie ursprünglich geplant zu Ende zu bringen (sonst wäre die Theorie uninteressant). Auf jeden Fall sollte man sich im Verlauf der Konstruktion auf die schwächeren Glieder in seiner Beweisführung konzentrieren. Dort ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Theorie scheitert, am größten, und das früh zu wissen, spart Zeit. Die leichten und sicheren Schritte werden zurückgestellt und in der letzten Bearbeitung mit einem Satz abgetan: “Es liegt auf der Hand, dass …”, “Es ist allgemein bekannt, dass …”.

Ruelle umreißt dann einige strategische Prinzipien der Planung mathematischer Theorien:

Verwendung bekannter mathematischer Fakten: z.B. des Fundamentalsatzes der Algebra im Beispiel aus Kapitel 17. Die bekannten mathematischen Tatsachen werden oft auf nicht-offensichtliche Weise verwendet und kombiniert. (Er erwähnt, daß man Software wie Mathematica benutzen könne, um bekannte Formeln systematisch vom Computer umformen zu lassen.)

Verwendung von Strukturvorstellungen: z.B. kommen Gruppen überall in der Mathematik vor. Aus dem Ansatz, Gruppentheorie auch dort zu verwenden, wo man ursprünglich keine Gruppen (sondern nur Halbgruppen) hat, entstand ein großes Forschungsgebiet, die K-Theorie.

Analogien: z.B. läßt sich der euklidische Algorithmus (mit dem man den größten gemeinsamen Teiler zweier ganzer Zahlen bestimmt) verallgemeinern auf Polynome. Auch sonst läßt sich vieles, was man vom Rechnen mit ganzen Zahlen kennt, auf Polynomringe verallgemeinern (und auf viele weitere Ringe – das führt letztlich zur Kommutativen Algebra).

mathematische Intuition: die ist letztlich schuld daran, daß sich mathematische Denkprozesse schwer analysieren lassen.

Wie wir gesehen haben, entspricht die Darstellung einer mathematischen Theorie in einem fachspezifischen Artikel nicht ganz dem, was der Autor anfänglich vorhatte. Intuitive Gedanken und nonverbale Konzepte müssen herausgeputzt und in Fachjargon gekleidet werden. Daraus könnte man nun schließen, dass irgendwo hinter dern Formeln und Fachtermini der Magazine die wahre Bedeutung der Mathematik verborgen liege und dass diese nicht formaler Natur sei. Tatsächlich erklären Redner bei Vorlesungen (die weniger formal sind als Artikel) gern, was ein Theorem “eigentlich bedeutet”.
[…]
Die intuitive Bedeutung der Mathematik aber hat ihre Wurzeln im Formalismus. Wollte man den Formalismus aufgeben und allein die intuitive Bedeutung beibehalten, würde es in der Mathematik schon bald um Meinungen gehen und nicht um die Erkenntnis. Auf diese Weise käme der Fortschritt der Mathematik rasch zum Stillstand.

Ein sicherlich extremes Beispiel eines weniger formalen und mehr das intuitive betonenden Vortrages hatten wir im März schon mal verlinkt (der Vortragende ist übrigens auch ein Kollege Ruelles am IHES):

Ruelle: Wie Mathematiker ticken
1 Wissenschaftliches Denken
2 Was ist Mathematik?
3 Das Erlanger Programm
4 Mathematik und Ideologie
5 Die Einheitlichkeit der Mathematik
6 Ein kurzer Blick auf algebraische Geometrie und Arithmetik
7 Mit Alexander Grothendieck nach Nancy
8 Strukturen
9 Die Rechenmaschine und das Gehirn
10 Mathematische Texte
11 Ehrungen
12 Die Unendlichkeit: Nebelwand der Götter
13 Fundamente
14 Strukturen und die Entwicklung von Konzepten
15 Turings Apfel
16 Mathematische Erfindung: Psychologie und Ästhetik
17 Das Kreistheorem und ein unendlich-dimensionales Labyrinth
18 Fehler!
19 Das Lächeln der Mona Lisa
20 „Tinkering” und die Konstruktion mathematischer Theorien
21 Mathematische Erfindung
22 Mathematische Physik und emergentes Verhalten
23 Die Schönheit der Mathematik

Kommentare (8)

  1. #1 Frank Wappler
    14. Juli 2010

    Der vorliegende Artikel zitierte
    (offenbar aus D. Ruelle, “Wie Mathematiker ticken”):

    > Will man also eine mathematische Theorie konstruieren, muss man ein Gedankennetz postulieren und dieses Netz schrittweise absichern und abwandeln, bis es logisch unangreifbar ist. Erst dann hat man eine [mathematische] Theorie.
    […] die Konstruktion […] zu Ende zu bringen (sonst wäre die [entsprechende mathematische] Theorie uninteressant).

    Im letzteren Fall ginge es sonst offenbar um ein Gedankennetz, das (noch) nicht so weit zu Ende konstruiert (oder schlicht gegeben) ist, dass seine logische Unangreifbarkeit gesichert und nachweisbar wäre.

    Hätte man denn damit überhaupt schon eine (wenn auch uninteressante) mathematische Theorie , wie Ruelle unterstellt ?
    Oder ist das eher eine (mathematische) Erfindung? …

  2. #2 Thilo Kuessner
    14. Juli 2010

    Na ja, es gibt eben auch falsche Theorien (oder auch solche, die vielleicht richtig sein könnten, deren Beweis man aber nicht schafft).
    “uninteressant” ist aber vielleicht wirklich eine irreführende Bezeichnung. “falsch” (bzw. “unbewiesen”, “unbestätigt”) trifft es besser.

    Vielleicht ist ‘Theorie’ in dem Zusammenhang ohnehin eine etwas hochgegriffene Bezeichnung. Man könnte stattdessen von ‘Strategie’ zum Beweis eines mathematischen Satzes sprechen. Bevor man mit dem Beweis beginnt, überlegt man sich eine Strategie, d.h. verschiedene Zwischenbehauptungen, die man erst einmal beweisen will und aus denen die eigentliche Behauptung am Ende folgen wird. Und da kann es dann natürlich passieren, daß diese Zwischenbehauptungen entweder zu schwer oder auch schlicht falsch sind, man sich also eine andere Strategie überlegen muß. (Außerdem kann es passieren, daß das Theorem, welches man beweisen wollte, sich als falsch herausstellt. Dann braucht man sowieso eine ganz andere Theorie.)
    ~

  3. #3 Frank Wappler
    15. Juli 2010

    Thilo Kuessner schrieb (14.07.10 · 18:48 Uhr):
    > Na ja, es gibt eben auch falsche Theorien (oder auch solche, die vielleicht richtig sein könnten, deren Beweis man aber nicht schafft). […]

    > Vielleicht ist ‘Theorie’ in dem Zusammenhang ohnehin eine etwas hochgegriffene Bezeichnung. Man könnte stattdessen […]

    Also — einerseits verbindet sich mein Interesse am vorliegenden Artikel ganz besonders mit dem Begriff Theorie
    (wenn auch weniger mit der Einschränkung “mathematische Theorie”);
    und erst recht mit Ansichten, wie sie jetzt hier auftauchen, dass (mathematische) Theorien “falsch” sein könnten oder “beweisbar” zu sein hätten.
    (Im vorliegenden Zitat hat Ruelle das ja auch nicht ausdrücklich so geäußert.)

    Aber andererseits …

    > […] von ‘Strategie’ zum Beweis eines mathematischen Satzes sprechen.

    … taucht das Thema, das mir dabei wesentlich scheint, glücklicherweise dennoch in der weiteren Diskussion auf:

    > […] kann es dann natürlich passieren, daß diese Zwischenbehauptungen entweder zu schwer oder auch schlicht falsch sind […] Außerdem kann es passieren, daß das Theorem, welches man beweisen wollte, sich als falsch herausstellt.

    Hätte man denn im letzteren Fall überhaupt ein Theorem (d.i. einen mathematischen Satz), wie Du unterstellst (und noch dazu ein “falsches”)?

    Oder hätte sich damit eher ein bestimmte (und im Rahmen bzw. unter Einsatz von Begriffen einer bestimmten Theorie aufgestellte) Behauptung als nachweislich falsch herausgestellt?
    (Wobei man folglich wohl überdies die Verneinung der betreffenden Behauptung als Theorem der betrachteten Theorie erhält.)

    Um mal zu prüfen, ob ich Dich ansonsten recht verstehe (auch wenn das zunächst von meinem wesentlichen Interesse etwas wegführen sollte):

    > Dann braucht man sowieso eine ganz andere Theorie.

    Wenn man vorhat, eine bestimmte Beweisstrategie konkret einzusetzen, aber die betrachtete Theorie nicht die dafür erforderlichen Begriffe und Theoreme enthält, dann bleibt sicher nichts übrig als den Rahmen einer anderen, hoffentlich geeigneteren Theorie zu gebrauchen (oder ggf. zu erfinden).

    (Überlegenswert wäre allenfalls auch, ob da nicht vielleicht ein gewisses Gedankennetz zur Beweisstrategie hochgejubelt worden wäre, bevor solch eine Bewertung überhaupt gesichert und nachweisbar war …)

    Aber, und damit komme ich auf mein Anliegen zurück:
    die betrachteten Theorien selbst sind deswegen weder falsch, noch richtig, noch beweisbar. An Theorien stellt man stattdessen die Forderung, nachvollziehbar zu sein.

  4. #4 Ahnungsloser
    15. Juli 2010

    @’Theorie’: Dann ist hier mit dem Wort ‘Theorie’ in Wahrheit ein Beweisversuch gemeint und keine ‘Theorie’ im mathematischen Sinne?

  5. #5 Thilo Kuessner
    15. Juli 2010

    Statt mich in mehrdeutigen Begriffsdefinitionen zu verheddern, mach ich es mal lieber an einem Beispiel: wenn ich zum Beispiel den Satz des Thales beweisen will (hier ein Lnk zum Beweis auf Wikipedia), dann überlege ich mir zunächst einige ‘Zwischenbehauptungen’, aus denen der Satz folgen würde. Hier sind das die Behauptungen:

    1. Die beiden Winkel an der Grundseite (Basiswinkel) eines gleichschenkligen Dreiecks sind gleich groß.
    2. Die Winkelsumme im Dreieck ist 180°.

    Aus diesen beiden Behauptungen kann man den Satz des Thales leicht herleiten (siehe den Wikipedia-Link). Die Frage ist nun, ob man diese beiden ‘Zwischen-Behauptungen’ beweisen kann.
    (In diesem Fall natürlich schon, weil beides aus der Schule bekannte Tatsachen sind.)
    Normalerweise (wenn man diese beiden Tatsachen nicht schon kennen würde) müßte man aber erst eine relativ umfangreiche Theorie der Dreiecks-Geometrie entwickeln, um letztlich diese beiden Behauptungen beweisen zu können.
    D.h. man vermutet erst mal, daß sich eine Theorie der Geometrie von Dreicken in der Ebene entwickeln läßt, aus der u.a. herauskommt, daß die Innenwinkelsumme immer 180 Grad beträgt und versucht dann, das zu beweisen. Man hat sizusagen erst eine Theorie davon, wie die Dinge sein könnten (oder sollten) und versucht dann, diese Theorie durch Beweise abzusichern.
    Eine Theorie im wissenschaftlichen Sinne wird es natürlich erst dann, wenn man alles bewiesen hat.

  6. #6 Frank Wappler
    16. Juli 2010

    Thilo Kuessner schrieb (15.07.10 · 19:31 Uhr):

    > Statt mich in mehrdeutigen Begriffsdefinitionen zu verheddern […]

    Recht bald darauf benutzt Du die üblichen Begriffe dennoch; sinnvoller Weise — aber das eröffnet eben auch die Möglichkeit, eventuellen Verhedderungen nachzugehen.

    > Normalerweise […] müßte man aber erst eine relativ umfangreiche Theorie der Dreiecks-Geometrie entwickeln, um letztlich diese beiden [Zwischen-]Behauptungen beweisen zu können.

    Was aber müßte man haben, um bestimmte Behauptungen (wie die im Beispiel) überhaupt zunächst aufstellen zu können
    (so, nachvollziehbar, dass ggf. anschließend der Versuch eines Beweises unternommen werden könnte)?

    Doch sicherlich zumindest: ein geeignetes System aus Begriffen, Definitionen, Axiomen.
    (Um eventuellen Verhedderungen auf die Spur zu kommen, könnte man dieses mit dem Begriff “Roh-Theorie” benennen.)

    Der Unterschied zur oben genannten “ relativ umfangreich entwickelten Theorie ” liegt dabei sicher nicht in den zugrundeliegenden Begriffen und Axiomen, sondern “nur” im Grad der Entwicklung (der i.A. natürlich mit Arbeit verbunden ist — der Arbeit des Aufstellens geeigneter Behauptungen, und deren Unterscheidung in nachweislich bewiesene, nachweislich falsche, und noch offene).

    > D.h. man vermutet erst mal, daß sich eine Theorie der Geometrie von Dreiecken in der Ebene entwickeln läßt, aus der u.a. herauskommt, daß die Innenwinkelsumme immer 180 Grad beträgt

    Hier scheinen sich die Begriffe “ Theorie ” und “ Behauptung ” zu verheddern …

    Erst wenn man Begriffe “Dreieck”, “Ebene”, “Winkel” (und was noch so alles notwendig wäre) nachvollziehbar gemacht hat, also erst wenn man sich auf eine bestimmte Roh-Theorie festgelegt hat, kann man die obigen Behauptungen aufstellen;
    und natürlich ggf. vermuten, dass sie beweisbar sind, also Theoreme der entwickelten Theorie darstellen (werden, was im Verlauf der Theorie-Entwicklung nachzuweisen wäre).

    > und versucht dann, das zu beweisen.

    Man versucht, Behauptungen zu beweisen.
    Man versucht nicht, Theoreme zu beweisen (sondern: erst bewiesene Behauptungen nennt man Theoreme).

    Man beweist nicht die Roh-Theorie (denn diese besteht lediglich aus Definitionen bzw. Axiomen);
    und man beweist auch nicht die entwickelte Theorie (sondern: man entwickelt die Theorie, in dem man bestimmte Behauptungen beweist, die schon im Rahmen der Roh-Theorie auszudrücken waren, unter Voraussetzung der Roh-Theorie).

    > Man hat sozusagen erst eine Theorie davon, wie die Dinge sein könnten (oder sollten) und versucht dann, diese Theorie durch Beweise abzusichern.

    Man fasst die “Dinge, um die es gehen soll” in eine Roh-Theorie,
    stellt Behauptungen in diesem Rahmen auf,
    und entwickelt dann die Theorie durch Beweisführung (die sich sicherlich vorrangig mit Behauptungen befasst, über deren Richtigkeit man bestimmte Erwartungen oder Vermutungen hegt).

    > Eine Theorie im wissenschaftlichen Sinne wird es natürlich erst dann, wenn man alles bewiesen hat.

    Nein — der wissenschaftliche Sinn hängt doch mit Falsifizierbarkeit zusammen.
    Es geht also darum, dass sich im Rahmen einer wissenschaftlichen (Roh-)Theorie nachvollziehbare, falsifizierbare Behauptungen aufstellen lassen;
    d.h. Behauptungen, für die man zumindest im Prinzip prüfen könnte, ob sie nachweislich richtig oder falsch sind (durch den Versuch des mathematischen Beweisens, oder ggf. durch Auswerten von Beobachtungsdaten).

  7. #7 Thilo Kuessner
    16. Juli 2010

    Zu allem volle Zustimmung.
    Zum letzten Punkt: auf mathematische Theorien würde ich Poppers Kriterium nicht anwenden. Mathematische Theorien sollten nicht nur grundsätzlich falsifizierbar sein, sondern man sollte auch bewiesen haben, daß sie eben nicht falsifiziert werden können 🙂

  8. #8 Frank Wappler
    16. Juli 2010

    Thilo Kuessner schrieb (16.07.10 · 09:36 Uhr):

    > auf mathematische Theorien würde ich Poppers Kriterium nicht anwenden.

    Und wäre Poppers Kriterium denn auf Theorien in anderen Wissenschaften (die andere Begriffe und/oder Beweisstrategien einsetzen) etwa anwendbar ??

    Nein — alle wissenschaftlichen Theorien (einschl. der mathematischen) sind grundsätzlich nicht falsifizierbar, sondern sie müssen den (begrifflichen) Rahmen für falsifizierbare Aussagen (Behauptungen, Modelle) bilden.

    Denn man schätzt eben besonders solche Theorien, in deren Rahmen nicht alle möglichen Aussagen insgesamt alle von vornherein auch Theoreme sind.