“Was ist eine Kurve?”, Euklid auf Sächsisch und der Jordansche Kurvensatz.

Die Frage “Was ist eine Kurve” ist natürlich eine grundlegende für die Geometrie/Topologie. Bei Euklid beginnt das erste Buch mit “Ein Punkt ist, was keine Teile hat. Eine Kurve ist eine Länge ohne Breite.”
Oder auf Sächsisch (in der unten abgebildeten Ausgabe der Sächsischen Landesbibliothek, erschienen 1618 in Amsterdam): “Ein punct ist ein untheilbares düpffelein. Ein Linea ist eine lenge ohne einige breiten.”

Sächsische Landesbibliothek

Ganz so einfach ist es natürlich nicht, denn es gibt ja durchaus Peano-Kurven, die die gesamte Ebene ausfüllen. Das Bild unten zeigt nur die ersten vier Approximationen, im Grenzwert bekommt man dann eine Kurve, die wirklich die gesamte Fläche ausfüllt.

i-1937aace2809f2e8a37308ce28cda360-Peano_curve.png

Die heute übliche Definition von “Kurve” (in einem Raum X) ist als Bild einer stetigen Abbildung f:[a,b]—>X, wobei das Intervall endlich oder unendlich (d.h. [a,b]=R1) sein kann.
In der Analysis betrachtet man oft nur glatte Kurven, d.h. Bilder von differenzierbaren Abbildungen f:(a,b)—->X, deren Ableitung nicht 0 ist. Im Sinne dieser analytischen Definition ist die Peano-Kurve keine Kurve, denn sie ist nicht differenzierbar. Man kann mit dem Lemma von Sard beweisen, daß jede differenzierbare Kurve Flächeninhalt Null, also tatsächlich wie von Euklid gefordert “keine Breite” hat.

Ein anderes irritierendes Beispiel einer Kurve in der Ebene war der Rand der Seen von Wada, die wir im ersten Beitrag zum Jordanschen Kurvensatz (TvF 164) erwähnt hatten – das war eine Kurve, die drei Gebiete in der Ebene gleichzeitig berandet.

All solche Pathologien wie Peano-Kurven oder die Seen von Wada können aber jedenfalls nicht vorkommen, wenn man geschlossene Kurven in der Ebene betrachtet, also Bilder von periodischen Abbildungen f:R—->R2.
(D.h. es gibt ein T>0 mit f(x+T)=f(x) für alle x. Äquivalent kann man geschlossene Kurven auch als Bilder stetiger Abbildungen auf dem Kreis definieren, also f:S1—->R2.)

Geschlossene Kurven zerlegen die Ebene immer in zwei Teile – das ist der Jordansche Kurvensatz, über den wir in TvF 165 geschrieben hatten.

i-04d10dc898ff6136461c6797d248b323-jorcurve.png

plus.maths.org/content/winding-numbers-topography-and-topology-ii

Der Beweis des Jordanschen Kurvensatzes geht auf Camille Jordan zurück. Man liest oft, daß Jordans ursprünglicher Beweis unvollständig war, aber dieser Behauptung wurde vor einigen Jahren in einem Artikel von Thomas Hales widersprochen.


Jordans Originalbeweis

Ich habe mir den Originalbeweis (Link) nie angeschaut, weil es heute viel konzeptuellere Beweise gibt, die (wenn man die richtigen theoretischen Vorbereitungen hat) sich in wenigen Zeilen niederschreiben lassen.

Jedenfalls meint Thomas Hales (bekannt u.a. für den Beweis der Kepler-Vermutung) in seinem 2007 (kurioserweise in der Zeitschrift “Studies in Logic, Grammar and Rhetoric”) erschienen Artikel Jordan’s proof of the Jordan curve theorem”:

Critics have been unsparing in their condemnation of Jordan’s original proof. According to Courant and Robbins, “The proof given by Jordan was neither short nor simple, and the surprise was even greater when it turned out that Jordan’s proof was invalid and that considerable effort was necessary to fill the gaps in his reasoning.”
[…]
Dissatisfaction with Jordan’s proof originated early. In 1905, Veblen complained that Jordan’s proof “is unsatisfactory to many mathematicians. It assumes the theorem without proof in the important special case of a simple polygon and of the argument from that point on, one must admit at least that all details are not given”. Several years later, Osgood credits Jordan with the theorem only under the assumption of its correctness for polygons, and further warns that Jordan’s proof contains assumptions.
Nearly every modern citation that I have found agrees that the first correct proof is due to Veblen in 1905.
My initial purpose in reading Jordan was to locate the error. I had completed a formal proof of the Jordan curve theorem in January 2005 and wanted to mention Jordan’s error in the introduction to that paper [3]. In view of the heavy criticism of Jordan’s proof, I was surprised when I sat down to read his proof to find nothing objectionable about it. Since then, I have contacted a number of the authors who have criticized Jordan, and each case the author has admitted to having no direct knowledge of an error in Jordan’s proof.

Also, der Hauptkritikpunkt an Jordans Beweis war wohl, daß er den Beweis für Polygonzüge vorausgesetzt (und nicht mehr aufgeschrieben) und daraus dann den Beweis für beliebige Kurven gefolgert hatte. Man muß dazu sagen, daß der Beweis für den Spezialfall von Polygonzügen recht elementar ist (z.B. kommt er sogar in dem für Schüler geschriebenen Buch von Boltjanskij-Efremowitsch in Kapitel 1.6 vor) und insofern ist Hales’ Argument, daß Jordan diesen Teil des Beweises nur deshalb nicht aufgeschrieben habe, weil er ihn für offensichtlich hielt, durchaus plausibel.
Hales hat in seinem Artikel dann Jordans Beweis noch einmal detailliert aufgeschrieben. (Nebenbei erwähnt Hales noch, daß man mit den Argumenten aus Jordans Beweis des Jordanschen Kurvensatzes auch gleich noch einen Beweis der isoperimetrischen Ungleichung für beliebige Jordan-Kurven in der Ebene bekommt.)

In heutigen Topologie-Lehrbüchern ergibt sich Jordans Kurvensatz als einfache Anwendung der Homologietheorie. Wenn man diese Theorie kennt, kann man den Jordanschen Kurvensatz (und seine höherdimensionalen Verallgemeinerungen) sehr schnell beweisen ohne die zwar elementare, aber doch wohl recht aufwändige Argumentation in Jordans ursprünglichem Beweis.


Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7 , Teil 8, Teil 9 , Teil 10 ,Teil 11, Teil 12, Teil 13, Teil 14, Teil 15, Teil 16, Teil 17, Teil 18, Teil 19, Teil 20, Teil 21, Teil 22, Teil 23, Teil 24, Teil 25, Teil 26, Teil 27, Teil 28, Teil 29, Teil 30, Teil 31, Teil 32, Teil 33, Teil 34, Teil 35, Teil 36, Teil 37, Teil 38, Teil 39, Teil 40, Teil 41, Teil 42, Teil 43, Teil 44, Teil 45, Teil 46, Teil 47, Teil 48, Teil 49, Teil 50, Teil 51, Teil 52, Teil 53, Teil 54, Teil 55, Teil 56, Teil 57, Teil 58, Teil 59, Teil 60, Teil 61, Teil 62, Teil 63, Teil 64, Teil 65, Teil 66, Teil 67, Teil 68, Teil 69, Teil 70, Teil 71, Teil 72, Teil 73, Teil 74, Teil 75, Teil 76, Teil 77, Teil 78, Teil 79, Teil 80, Teil 81, Teil 82, Teil 83, Teil 84, Teil 85, Teil 86, Teil 87, Teil 88, Teil 89, Teil 90, Teil 91, Teil 92, Teil 93, Teil 94, Teil 95, Teil 96, Teil 97, Teil 98, Teil 99, Teil 100, Teil 101, Teil 102, Teil 103, Teil 104, Teil 105, Teil 106, Teil 107, Teil 108, Teil 109, Teil 110, Teil 111, Teil 112, Teil 113, Teil 114, Teil 115, Teil 116, Teil 117, Teil 118, Teil 119, Teil 120, Teil 121, Teil 122, Teil 123, Teil 124, Teil 125, Teil 126, Teil 127, Teil 128, Teil 129, Teil 130, Teil 131, Teil 132, Teil 133, Teil 134, Teil 135, Teil 136, Teil 137, Teil 138, Teil 139, Teil 140, Teil 141, Teil 142, Teil 143, Teil 144, Teil 145, Teil 146, Teil 147, Teil 148, Teil 149, Teil 150, Teil 151, Teil 152, Teil 153, Teil 154, Teil 155, Teil 156, Teil 157, Teil 158, Teil 159, Teil 160, Teil 161, Teil 162, Teil 163, Teil 164, Teil 165, Teil 166, Teil 167