Komplex, fast-komplex und Reduktion von Strukturgruppen.

Vorletzte Woche hatten wir über einen kurzen Beweis der Klassifikation der (geschlossenen und orientierbaren) Flächen geschrieben. (Kürzer, aber natürlich mehr Theorie benutzend, als der klassische Beweis, über den wir vor 3 Wochen geschrieben hatten.)
Der Beweis setzte allerdings bereits als bekannt voraus, daß alle orentierbaren Flächen komplexe Mannigfaltigkeiten sind und das muß man dann natürlich auch noch beweisen.

Letzte Woche hatten wir zunächst definiert, was eine komplexe Mannigfaltigkeit ist: das ist eine Mannigfaltigkeit mit einem komplexen Atlas, d.h. einem Atlas, dessen Kartenübergänge komplex differenzierbar (“holomorph”) sind.

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holomorphe Abbildung

Es ist also zu beweisen, daß es zu jeder orientierbaren Fläche einen Atlas mit komplex differenzierbaren Kartenübergängen gibt. (Wenn man die Klassifikation der Flächen schon kennt, kann man natürlich ad hoc solche Atlanten konstruieren. Aber wir benötigten die komplexe Struktur ja gerade für den Beweis der Klassifikation in TvF 179 und können diese also nicht schon voraussetzen.)

Eine differenzierbare 2-Mannigfaltigkeit (“Fläche”) ist gegeben durch einen Atlas, dessen Kartenübergänge differenzierbar sind. Auch das Inverse eines Kartenübergangs muß differenzierbar sein, denn es entspricht ja gerade dem Kartenübergang von der 2.Karte zur 1.Karte. Das Differenzial der Kartenübergänge ist also eine Matrix aus GL(2,R), der Gruppe der invertierbaren Matrizen.
Wenn die Fläche orientierbar ist, gibt es einen Atlas mit orientierungserhaltenden Kartenübergängen. Deren Differentiale sind Matrizen aus GL+(2,R), der Gruppe der Matrizen mit positiver Determinante.

Bei einem komplexen Atlas wären die Differentiale der Kartenübergänge Matrizen aus GL(1,C), also einfach (von 0 verschiedene) komplexe Zahlen. Man kann GL(1,C) als Untergruppe von GL+(2,R) aufassen, indem man sagt, daß eine komplexe Zahl re dem Produkt aus der Diagonalmatrix diag(r,r) und der Drehmatrix zum Winkel φ entspricht.

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Tangentialbündel einer Fläche: in jedem Punkt hat man eine Tangentialebene

Die Differentiale der Kartenübergänge unseres Atlasses sind gerade die Kartenübergänge für den entsprechenden Atlas des Tangentialbündels (TvF 51). Allerdings müssen nicht in jedem Atlas des Tangentialbündels die Kartenübergänge gerade die Differentiale der Kartenübergänge der zugrundeliegenden Mannigfaltigkeit sein. Die Frage, ob es für die zugrundeliegende Fläche einen Atlas mit komplex differenzierbaren Kartenübergängen gibt, zerlegt sich also in zwei Teilprobleme:
1. wir haben einen Atlas des Tangentialbündels mit Kartenübergängen in GL+(2,R) und hätten gerne einen mit Kartenübergängen in GL(1,C) (hier müssen die Kartenübergänge des Bündels nicht unbedingt die Differentiale der Kartenübergänge der zugrundeliegenden Fläche sein),
2. wir hätten gerne einen Atlas der zugrundeliegenden Fläche, deren Differentiale in GL(1,C) sind.

Die 1. Frage ist die Frage nach einer sogenannten “fast-komplexen” Struktur auf der Fläche, während es bei der 2.Frage um eine sogenannte “komplexe” Struktur geht.

Die Frage, wann man die Strukturgruppe eines Bündels auf eine Untergruppe reduzieren kann, wird in der Bündeltheorie allgemein beantwortet, (Husemöller, Theorem 5.1): die G-Bündel über einem Raum X werden klassifiziert durch stetige Abbildungen X—>BG (modulo Homotopie) und ein G-Bündel läßt sch genau dann zu einem H-Bündel reduzieren, wenn die Abbildung X—>BG (evtl. modulo Homotopie) über BH faktorisiert.
In unserem Fall ist G=GL+(2,R), H=GL(1,C). Beide Gruppen enthalten SO(2)=SU(1) als Deformationsretrakt, sind also homotopieäquivalent. Damit sind auch die klassifizierenden Räume BG und BH homotopieäquivalent, insbesondere gibt es (modulo Homotopie) eine inverse Abbildung zu BH—>BG und damit faktorisiert X—->BG (modulo Homotopie) über eine Abbildung X—>BH. Ein Bündel mit Kartenübergängen in GL+(2,R) hat also immer auch einen Atlas mit Kartenübergängen in GL(1,C).

Damit haben wir also einen Atlas für das Tangentialbündel unserer orientierbaren Fläche, dessen Kartenübergänge in GL(1,C) liegen. Bekommen wir damit auch einen Atlas, dessen Kartenübergänge komplex differenzierbar sind? Im allgemeinen muß das nicht der Fall sein. Mannigfaltigkeiten, bei denen die Kartenübergänge des Tangentialbündels in GL(n,C) liegen heißen fast-komplex, und Mannigfaltigkeiten mit komplex differenzierbaren Kartenübergängen heißen komplex. Nicht jede fast-komplexe Mannigfaltigkeit muß komplex sein. (Zum Beispiel ist S6 fast-komplex, es ist aber unbekannt, ob S6 eine komplexe Struktur hat.) Es gibt aber einen Satz von Newlander-Nirenberg, der ein Kriterium dafür liefert, wann eine fast-komplexe Struktur komplex ist: der Nijenhuis-Tensor muß 0 sein.
Im Fall von Flächen ergibt es sich leicht unmittelbar aus der Definition, daß der Nijenhuis-Tensor 0 ist. Also ist auf Flächen jede fast-komplexe Struktur sogar komplex und auf orientierbaren Flächen liefert die obige Reduktion der Strukturgruppe dann also sogar eine komplexe Struktur.

Das liefert also die notwendige komplexe Struktur, die wir im Klassifikationsbeweis in TvF 179 für den Induktionsanfang benutzt hatten.
Wenn man die Klassifikation der Flächen bereits kennt, kann man natürlich auch ad hoc, ohne Rückgriff auf allgemeine Sätze, die Existenz komplexer Atlanten beweisen, dazu nächste Woche.


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