Atlanten und Strukturen.

Wir hatten hier in TvF 178 einen rein topologischen Beweis der Klassifikation der (geschlossenen, orientierbaren) Flächen besprochen und in TvF 179 noch einen anderen Beweis der Klassifikation, der allerdings etwas versteckt benutzte, daß orientierbare Flächen einen komplex-differenzierbaren Atlas haben.
Der m.M.n. konzeptuellste Beweis der Klassifikation der Flächen geht über Morse-Theorie – er setzt allerdings ebenfalls voraus, daß man auf der Fläche Differenzialrechnung betreiben kann, also daß man einen differenzierbaren Atlas hat.
Differenzierbarkeit ist überhaupt eine für die Topologie sehr nützliche Eigenschaft, man kann z.B. Abbildungen zwischen Flächen leichter klassifizieren, wenn man ihre Differenzierbarkeit benutzt, oder man kann z.B. die Topologie der Fläche (etwa die Euler-Charakteristik) in Beziehung setzen zu Eigenschaften von Vektorfeldern.
Kurz gesagt: es ist nützlich, auf Flächen differenzierbare Strukturen zu haben. In den nächsten Wochen wollen wir dann ein paar differentialtopologische Anwendungen in der Flächen-Topologie besprechen und letztlich auch den morsetheoretischen Beweis der Flächen-Klassifikation.
Heute wollen wir zunächst nur das Konzept ‘differenzierbare Struktur’ abstrakt in das allgemeine Konzept ‘Struktur auf einer Fläche’ einordnen.

Differenzierbare Atlanten

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Flächen lassen sich ja per Definition durch Karten wie die oben abgebildete überdecken. (Eine solche Karte liefert ein lokales Kordinatensystem.) Wenn ein Gebiet von mehreren Karten überdeckt wird, hat man entsprechende Kartenübergänge (die Physiker sprechen von Koordinatentransformationen und interessieren sich i.d.R. nur für Eigenschaften, die invariant unter Koordinatentransformationen, also unabhängig von der gewählten Karte sind).

In TvF 180 hatten wir schon mal gesagt, wie man auf einer Fläche Differentialrechnung betreibt: Die Karten liefern lokale Koordinaten, in denen man rechnen kann. Eine Funktion auf der Fläche soll dann differenzierbar sein, wenn sie in den durch die Karten gegebenen lokalen Koordinaten differenzierbar ist. Damit diese Eigenschaft unabhängig von der gewählten Karte ist, müssen die Kartenübergänge zwischen verschiedenen Karten differenzierbar sein. Man braucht also einen differenzierbaren Atlas (das ist per Definition ein Atlas, dessen Kartenübergänge differenzierbar sind), um auf der Fläche Differenzierbarkeit von Funktionen definieren zu können.

Der englische Wikipedia-Artikel über differenzierbare Mannigfaltigkeiten hat ein Beispiel von Karten, deren Kartenübergänge nicht differenzierbar sind (zu erkennen an der Ecke des nördlichen Wendekreises)

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Wir werden aber in den nächsten Beiträgen sehen, daß jede Fläche einen (eindeutigen) differenzierbaren Atlas hat. Damit kann man dann also differenzierbare Funktionen oder zum Beispiel auch differenzierbare Vektorfelder betrachten.

Andere Strukturen

Eine differenzierbare Struktur ist also ein Atlas, dessen Kartenübergänge differenzierbar sind. Eine komplexe (differenzierbare) Struktur ist ein Atlas, dessen Kartenübergänge komplex differenzierbar sind.
Analog kann man auch andere Strukturen auf Flächen definieren:
Eine euklidische Struktur ist ein Atlas, dessen Kartenübergänge euklidische Isometrien sind. Eine solche euklidische Struktur (äquivalent: eine Riemannsche Metrik mit Krümmung 0) gibt es auf dem Torus (TvF 63) und der Kleinschen Flasche, aber auf keiner anderen Fläche.

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Quelle: Ghys: Geometriser l’espace

(Euklidische Strukturen, bei denen die Kartenübergänge der Fläche die euklidische Metrik erhalten, sollte man nicht verwechseln mit Riemannschen Metriken, für die man nur Kartenübergänge des Tangentialraumes braucht, die das Skalarprodukt auf dem Tangentialraum erhalten. Letztere gibt es auf jeder Fläche. Im allgemeinen wird dabei aber der Kartenübergang des Tangentialraumes nicht das Differential des Kartenüberganges der Fläche sein – nur dann hätte man aber eine euklidische Struktur.)

Analog kann man hyperbolische Strukturen auf Flächen definieren: das sind Atlanten, deren Kartenübergänge Isometrien der hyperbolischen Metrik sind. Insbesondere hat eine solche Fläche eine hyperbolische Metrik (Krümmung konstant -1) – über solche hyperbolischen Strukturen auf Flächen hatten wir in dieser Reihe schon jede Menge Beiträge:

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Analog kann man sphärische Strukturen definieren (die gibt es nur auf der Sphäre und der projektiven Ebene), oder zum Beispiel affine Strukturen (da müssen die Kartenübergänge affine Abbildungen sein), oder konforme Strukturen (da müssen die Kartenübergänge Winkel erhalten), oder projektive Strukturen (da denkt man sich die Bilder der Karten als Teilmengen der projektiven Ebene und die Kartenübergänge sollen aus PSL(3,R) sein), oder komplex-projektive Strukturen (da sind die Bilder der Karten in CP1=S2, aber die Kartenübergänge sollen gebrochen-lineare Transformationen sein), oder … Projektive Strukturen auf Flächen sind übrigens ein aktives Forschungsthema, nicht zuletzt weil sie zahlreicher sind und sich flexibler deformieren lassen als z.B. sphärische oder hyperbolische Strukturen.

Reduktionen der Strukturgruppe des Tangentialbündels

Wenn man eine differenzierbare Fläche hat, dann hat man insbesondere ein Tangentialbündel: wenn φij die Kartenübergänge der Fläche sind, dann sind die Differentiale Dφij die Kartenübergänge des Tangentialbündels:

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Quelle: https://www2.scc-fl.edu/lvosbury/CalculusIII_Folder/ExamplesForSection127.htm

Wenn die Kartenübergänge des Tangentialbündels die Eigenschaft haben, irgendeine ‘Struktur’ auf dem R2 zu erhalten, dann kann man die entsprechende ‘Struktur’ auf dem Tangentialbündel definieren.
Klassisches Beispiel: wenn die Kartenübergänge orthogonale Abbildungen (also Spiegelungen oder Drehungen) sind, dann erhalten sie das Skalarprodukt auf dem R2, man bekommt also ein Skalarprodukt auf dem Tangentialraum – eine Riemannsche Metrik (TvF 51). Gruppentheoretisch formuliert: genau dann, wenn sich die Strukturgruppe des Tangentialbündels von GL(2,R) auf O(2) reduzieren läßt, gibt es eine Riemannsche Metrik.
Analog bekommt man eine Lorenz-Metrik, wenn sich die Strukturgruppe auf O(1,1) reduzieren läßt.
Und man bekommt z.B. eine Volumenform, wenn sich die Strukturgruppe auf SL(2,R) reduzieren läßt, äquivalent eine (fast-)symplektische Form, wenn sich die Strukturgruppe auf Sp(2,R) reduzieren läßt (in Dimension 2 ist das aber dasselbe wie eine Volumenform wegen SL(2,R)=Sp(2,R)), oder man bekommt eine fast-komplexe Struktur, wenn sich die Strukturgruppe auf GL(1,C) reduzieren läßt…

Wann sind solche Reduktionen der Strukturgruppe möglich? Das Tangentialbündel über einer Fläche S hat eine klassifizierende Abbildung S—>BGL(2,R) und die Strukturgruppe läßt sich genau dann auf eine Untergruppe H reduzieren, wenn die klassifizierende Abbildung über eine Abbildung S—>BH faktorisiert.
Zum Beispiel für H=O(2) ist die Inklusion in GL(2,R) eine Homotopieäquivalenz, weshalb es dann eine Homotopieäquivalenz BGL(2,R)—>BO(2) gibt – die gewünschte Abbildung existiert also immer, jede Fläche hat eine Riemannsche Metrik.
Komplizierter ist es für H=O(1,1): O(1,1) ist homotopie-äquivalent zur trivialen Gruppe – nicht jede Fläche, sondern nur der Torus (dessen Tangentialbündel trivial ist) hat eine Lorentz-Metrik.


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