Kritische Punkte und die Lusternik-Schnirelman-Kategorie.


Jede differenzierbare Funktion auf einer kompakten Fläche hat mindestens ein Maximum und ein Minimum, also wenigstens zwei kritische Punkte.
Letzte Woche hatten wir geschrieben, daß jede Morsefunktion (d.h. differenzierbare Funktion mit nicht-degenerierten kritischen Punkten) auf einer Fläche mit g Henkeln neben dem Maximum und dem Minimum noch mindestens 2g Sattelpunkte haben muß, also insgesamt mindestens 2g+2 kritische Punkte.

Nun läßt sich jede differenzierbare Funktion mit einer leichten Störung in eine Morsefunktion überführen, aber daraus folgt natürlich nicht, daß auch jede differenzierbare Funktion mindestens 2g+2 kritische Punkte hat: es ist ja möglich, daß sich kritische Punkte der ursprünglichen Funktion nach der leichten Störung in mehrere (nicht-degenerierte) kritische Punkte der Morse-Funktion auflösen.
Tatsächlich kann man für beliebige differenzierbare Funktionen nur eine schwächere Abschätzung der Anzahl der kritischen Punkte beweisen: es stellt sich heraus, daß die Anzahl der kritischen Punkte einer beliebigen differenzierbaren Funktion (auf einer Fläche oder auch einer höher-dimensionalen Mannigfaltigkeit) immer mindestens die Lusternik-Schnirelman-Kategorie der Fläche (oder höher-dimensionalen Mannigfaltigkeit) ist.

Lusternik-Schnirelman-Kategorie

Lusternik und Schnirelman hatten 1929 in einer differentialgeometrischen Arbeit eine topologisch definierte untere Schranke für die Anzahl der kritischen Punkte gefunden, diese topologische Invariante nannten sie Kategorie.
Die Bezeichnung ‘Kategorie’ mag irritieren, denn unter Kategorien versteht man in der Topologie sonst etwas anderes und die Lusternik-Shnirelman-Kategorie hat mit Kategorientheorie im heute üblichen Sinne nichts zu tun. Aber Lusternik und Schnirelman waren natürlich keine Topologen und vor allem entdeckten sie ihre ‘Kategorie’ zu einer Zeit, als es Kategorientheorie überhaupt noch nicht gab. (Als historisch erste kategorientheoretische Arbeit gilt Eilenberg-MacLane “General Theory of Natural Equivalences” von 1945.)

Die Lusternik-Schnirelman-Kategorie eines topologischen Raumes X ist, per Definition, die kleinste Zahl k, so daß sich X durch k offene Mengen überdecken läßt, die in X kontrahierbar sind.
(Die Mengen müssen nicht selbst kontrahierbar sein, sondern nur in X. Zum Beispiel ist die Vereinigung mehrerer disjunkter kontrahierbarer Teilmengen natürlich nicht kontrahierbar in sich, aber in X.)

Wenn man eine Fläche wie im Bild unten in Zellen zerlegt, dann findet man leicht eine Überdeckung durch 3 offene Mengen, die sich in der Fläche kontrahieren lassen:
– das Innere der 2-Zelle
– eine offene Umgebung der 0-Zelle
– und eine offene Umgebung von (hinreichend großen) Teilintervallen der 1-Zellen.
(Die letzte Menge besteht aus 2g Zusammenhangenskomponenten, ist aber trotzdem innerhalb der Fläche kontrahierbar.)

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Quelle: Hatcher: Algebraic Topology

Die Lusternik-Schnirelman-Kategorie einer Fläche ist also höchstens 3. Für die Sphäre ist sie sogar 2, für alle anderen Flächen ist die 3 aber tatsächlich optimal. (Beweis nächste Woche.)

Trotz der einfachen Definition ist die Lusternik-Schnirelman-Kategorie schwer zu berechnen. Dasselbe Argument wie oben für Flächen zeigt cat(M)≤dim(M)+1. Eine untere Schranke hat man durch die kleinste Zahl k, so dass alle Cup_produkte von k Kohomologieklassen Null ergeben. Damit hat man zum Beispiel cat(RPn)=n+1. Fortgeschrittenere Ansätze zur Berechnung benutzen die rationale Homotopietheorie, aber viele Fragen sind noch offen.

Mindestanzahl der kritischen Punkte

Der Satz von Lusternik-Schnirelman besagt:
Jede differenzierbare Funktion f:M–>R auf einer Mannigfaltigkeit M hat mindestens cat(M) kritische Punkte.

Zum Beweis:
sei k=cat(M). Für i=1,…,k betrachtet man λi:=infX closed, cat(X)≥i maxx ∈ Xf(x).
Offensichtlich hat man λ1≤λ2≤…≤λk.
Wegen Abgeschlossenheit gibt es ein xi∈Xi mit cat(Xi)≥i und f(xi)=λi.
Wir behaupten jetzt, daß es auf der Levelmenge {x∈M: f(x)=λi} mindestens einen kritischen Punkt geben muß. Angenommen, das wäre nicht der Fall, dann ist das Gradientenvektorfeld überall transvers zu dieser Levelmenge (nirgendwo Null) und man kann die Levelmenge entlang des negativen Gradientenvektorfeldes fließen lassen (ähnlich wie in TvF 210). Insbesondere wird dabei Xi homotopiert in den Bereich {x∈M: f(x)<λi-ε}. Das Bild von Xi unter der Homotopie hat aber natürlich dieselbe Lusternik-Schnirelman-Kategorie wie Xi. Damit haben wir eine Menge der Kategorie ≥i, auf der das Maximum von f kleiner ist als λi-ε. Das widerspricht aber der Definition von λi.
Falls λ1≠λ2≠…≠λk ist, dann haben wir also mindestens einen kritischen Punkt auf jeder Levelmenge {x∈M: f(x)=λi}, damit insgesamt mindestens k kritische Punkte, also die Behauptung.
Falls z.B. λi=…=λj, dann kann man mit einem ähnlichen Argument zeigen, daß es auf der Levelmenge mindestens j-i+1 kritische Punkte gibt, womit die Behauptung auch in diesem Fall folgt.

Insbesondere hat jede diff.-bare Funktion auf der Sphäre mindestens zwei kritische Punkte (das ist ohnehin klar, weil es Maximum und Minimum geben muß) und auf jeder anderen Fläche mindestens 3 kritische Punkte.

Ein Beispiel einer Funktion mit genau 3 kritischen Punkten zeigt das Bild unten.

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Man denke sich die Fläche wieder als 8-Eck mit verklebten Kanten. (Insbesondere sind alle 8 Ecken derselbe Punkt.) Der eine kritische Punkt ist die Ecke, die anderen beiden sind im Inneren. Die Kurven sind die Levelmengen der Funktion.
Der kritische Punkt in der Ecke ist natürlich degeneriert, lokal sieht die Funktion in einer Umgebung aus wie f(z)=Re(z2g). Durch eine kleine Störung erhält man eine Morsefunktion mit 2g Sattelpunkten:

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Der Satz von Lusternik-Schnirelman ist vor allem für höherdimensionale Mannigfaltigkeiten interessant.
Für Flächen könnte man die Ungleichung auch ad hoc herleiten, ohne Rückgriff auf die Lusternik-Schnirelman-Kategorie, dazu nächste Woche.

Die Bilder (und der Beweis) sind aus Teil 3 von Dubrovin-Novikov-Fomenko.


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Nachtrag: Roland Senf hat die bisherigen Folgen bis auf die letzte (und noch einige weitere Artikel) in einem Word-Dokument zusammengefaßt, das man noch bis 7.5. hier herunterladen kann. (Transferkennung:SlRYe599Nm Kennwort:Topologie). Braucht ein paar Minuten zum Laden, aber auf dem ipad liest es sich wirklich hervorragend.