Der Wege-Raum.

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In den letzten Wochen hatten wir die Anzahl geschlossener Geodäten auf Flächen diskutiert.
Viel allgemeiner kann man natürlich auch diskutieren, wie der Raum aller Wege (zwischen 2 Punkten p und q) auf einer Fläche aussieht.

Das ist eine topologische Frage, aber um sie zu beantworten wird man als Hilfsmittel eine Riemannsche Metrik benutzen. (Eines der wiederkehrenden Themen in dieser Reihe ist ja der Nutzen der Geometrisierung, also von Metriken konstanter Krümmung, zur Beantwortung rein topologischer Fragen. Auch bei der Untersuchung des Wege-Raums wird sich wieder die Nützlichkeit ‘schöner Metriken’ zeigen.)

Wir haben also eine Fläche F und für zwei Punkte p,q interessieren wir uns für die Topologie von ΩF, dem Raum aller (glatten) Wege, d.h. aller (beliebig oft) differenzierbaren Abbildungen γ:[0,1]—>F mit γ(0)=p,γ(1)=q.
(Die Topologie des Wegeraums hängt nicht davon ab, welche Punkte p,q man gewählt hat. Sie hängt auch nicht davon ab, ob man differenzierbare oder nur stetige Abbildungen zulässt: Milnor hat bewiesen, dass beide Wegeräume homotopie-äquivalent zueinander sind. Für Beweise mittels Morse-Theorie braucht man aber differenzierbare Wege.)

Wir hatten ja letztes Mal gesagt, dass man zu einer gegebenen Metrik auf der Fläche das Energiefunktional auf dem Wegeraum definieren kann, welches jedem Weg γ das Integral von IIγ'(t)IIdt/2 zuordnet.
(Letzte Woche hatten wir das Energiefunktional nur für geschlossene Wege betrachtet. Dieselbe Definition geht aber auch für Wege von p nach q.)

Die Geodäten waren gerade die kritischen Punkte dieses Energie-Funktionals.

Laut Morse-Theorie ist die Mannigfaltigkeit (in diesem Fall ΩF) homotopie-äquivalent zu einem Zellkomplex, dessen Zellen den kritischen Punkten (in diesem Fall den Geodäten auf F) entsprechen, wobei die Dimension einer Zelle jeweils der Index des entsprechenden kritischen Punktes ist.
Man muss also wissen, wie man den Index einer Geodäte (als kritischer Punkt des Energie-Funktionals) bestimmt. Dafür brauchen wir den Begriff “konjugierte Punkte”:

Konjugierte Punkte

Wenn man eine Geodäte γ hat, dann kann man sich fragen, ob diese sich deformieren lässt, also ob es wie im Bild unten eine “Homotopie” H(t,s) mit H(t,0)=γ(t) für alle t gibt, so dass für jedes S die Kurve H(t,S) eine Geodäte ist.

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Der Punkt γ(T) heisst nun konjugiert zu γ(0) entlang γ, wenn es eine solche von einem Parameter s abhängende Homotopie H(t,s) gibt, die γ(0) und γ(t) festlässt, d.h. H(0,s)=γ(0) und H(T,s)=γ(T) für alle s.

Das Bild unten links zeigt, dass antipodale Punkte auf der Sphäre zueinander konjugiert sind. Andererseits kann es, wie die Bilder rechts zeigen, durchaus Geodäten mit gemeinsamen Anfangs-und Endpunkten geben, die sich nicht durch eine Homotopie ineinander überführen lassen. In diesem Fall sind die Endpunkte also nicht zueinander konjugiert.

Der Begriff der konjugierten Punkte lässt sich nun anwenden in der Morse-Theorie des Wegeraums.

Wir betrachten wieder das Energiefunktional E auf ΩF, dem Raum aller Wege, die zwei (fest gewählte) Punkte p und q auf der Fläche F verbinden. Die Geodäten waren die kritischen Punkte des Energiefunktionals E (das von einer fest gewählten Metrik abhängt).
Satz 15.1. in “Morse Theory” sagt dann: der Index des Energiefunktionals E:ΩF—>R in einem kritischen Punkt (d.h. in einer Geodäte γ) ist gerade die Anzahl von Punkten γ(t), die zu γ(0) entlang γ konjugiert sind.

Was sagt das nun über die Topologie des Wegeraums?
In TvF 214 hatten wir gesehen, dass man Morse-Theorie benutzen kann, um einen Raum in Zellen zu zerlegen. Wenn f:M—>R eine Morse-Funktion ist, dann ist M homotopie-äquivalent zu einem Zellkomplex, der eine k-dimensionale Zelle zu jedem kritischen Punkt vom Index k der Morse-Funktion f hat. Das funktioniert zwar nach klassischer Morse-Theorie erstmal nur für kompakte endlich-dimensionale Mannigfaltigkeiten, aber der (unendlich-dimensionale) Wegeraum lässt sich durch endlich-dimensionale Mannigfaltigkeiten approximieren und man kann dann die analoge Aussage auch für das Energiefunktional beweisen:
ΩF ist homotopie-äquivalent zu einem Zellkomplex, wobei (nach Wahl einer Riemannschen Metrik auf F) jede Zelle einer Geodäte γ auf F (von p nach q) entspricht und die Dimension der Zelle jeweils die Anzahl der zu γ(0) konjugierten Punkte auf γ ist.

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