Lie-Gruppen und ihre Darstellungen sind heute vielleicht die wichtigste “nichttriviale” Struktur in Mathematik und Physik, beispielsweise beruht das Standardmodell der Elementarteilchenphysik auf den Darstellungen von U(1)xSU(2)xSU(3).

Anders als beispielsweise die Klassifikation der endlichen Gruppen, für die man bisher nur einen Tausende Seiten langen undurchsichtigen Beweis hat, ist die Klassifikation der Lie-Gruppen und ihrer Darstellungen eine ungewöhnlich klare und strukturierte, dabei aber keinesfalls offensichtliche Theorie. Dass das so ist, geht wesentlich auf Élie Cartan zurück, der am 9. April 1869 als Sohn des Dorfschmieds in Dolomieu geboren wurde.

Seine Dissertation 1894 war bereits der Klassifikation der (komplexen) halbeinfachen Lie-Algebren gewidmet, die Wilhelm Killing fünf Jahre zuvor gefunden hatte. Killing hatte sich eigentlich für die Klassifikation der Raumformen interessiert und deshalb deren mögliche Isometriegruppen klassifizieren wollen. Neben den bereits bekannten sl(n,C), so(n,C) und sp(n,C) fand er noch fünf weitere Lie-Algebren. Killings neuer Ansatz war gewesen, eine gewisse Unteralgebra und deren adjungierte Wirkung auf der Lie-Algebra zu betrachten, die Lie-Algebra so (mit den Methoden der damals noch ziemlich neuen linearen Algebra) in sogenannte Wurzelräume zu zerlegen und das Problem damit auf die Klassifikation von Wurzelsystemen zurückführen. Die benötigte Unteralgebra sollte nilpotent und selbstnormalisierend sein; im Fall der sl(n,C) ist das die Unteralgebra der Diagonalmatrizen. Dass es eine solche Unteralgebra in einer komplexen halbeinfachen Algebra immer gibt, wurde erst von Cartan korrekt bewiesen, weshalb diese Algebra heute Cartan-Algebra und nicht, wie es vielleicht richtiger wäre, Killing-Algebra heißt. Von diesem Fehler abgesehen, war Killings Beweis, wie man heute weiß, eigentlich vollständig und korrekt. Insbesondere war sein geometrischer Beweis der Klassifikation von Wurzelsystemen eigentlich schon der heutige. Trotzdem wurde der Beweis erst durch Cartans klare und elegante Darstellung populär, während Killings Originalarbeit von kaum jemandem gelesen wurde. Das führte dann auch dazu, dass verschiedene auf Killing zurückgehende Begriffe wie die Cartan-Matrix nach Cartan benannt wurden, während Cartans einziger neuer Beitrag zur Theorie, die Killing-Form, nach Killing benannt wurde.

Mit einem Gutachten von Poincaré wurde Cartan 1912 zum Professor an der Sorbonne befördert. Anders als Poincaré hatte Élie Cartan zwar nichts gegen die Betreuung von Studenten, aber er begündete auch nie eine eigene Schule. In Paris war damals die Theorie der analytischen Funktionen populär, zahlreiche Dissertationen wurden über Probleme im Umfeld des Satzes von Picard geschrieben, während Cartan eher isoliert weiter über Lie-Algebren arbeitete.

1913 konnte er die Methoden aus der Klassifikation der halbeinfachen Lie-Algebren zur Klassifikation ihrer Darstellungen verallgemeinern. Statt der adjungierten Darstellung und der Wurzelräume aus Killings Beweise verwendete er jetzt im Fall einer beliebigen Darstellung die sogenannten Gewichtsräume der Darstellung.

Die Darstellungstheorie war in den Jahrzehnten zuvor durch Burnside, Frobenius und Schur entwickelt worden, interessante Resultate kannte man aber nur für Darstellungen endlicher Gruppen. Mit Cartans Klassifikation der Darstellungen halbeinfacher Lie-Algebren erhielt man jetzt die Klassifikation der Darstellungen halbeinfacher Lie-Gruppen durch den Satz vom höchsten Gewicht.
Weil die zur Cartan-Algebra gehörende Lie-Gruppen ein maximaler Torus ist, kann man auf diese das Lemma von Schur über Darstellungen abelscher Gruppen anwenden. Beispielsweise im Fall von SL(n,C) sind die Gewichtsräume die simultanen Eigenräume der Diagonalmatrizen, und die Gewichte die durch die zugehörigen Eigenwerte gegebenen Funktionale auf den Diagonalmatrizen. Irreduzible Darstellungen entsprechen dann eindeutig den ganzzahligen dominanten Gewichten. Nach Wahl eines positiven Wurzelsystems hat man eine Halbordnung auf den Gewichten – ein Gewicht ist größer als ein anderes, wenn für jede positive Wurzel sein Wert größer ist – und Darstellungen werden durch ihr höchstes Gewicht eindeutig bestimmt.

Cartan war auch schon früh der erste gewesen, der mit einer systematischen algebraischen Entwicklung der Theorie der Differentialformen begonnen hatte, mit denen Volterra, Poincaré und andere schon um 1890 arbeiteten. Dabei waren seine Untersuchungen immer lokal gewesen, erst durch die Arbeiten von Weyl über die globale Theorie kompakter Lie-Gruppen erwachte in den 20er Jahren Cartans Interesse für die Topologie. Mit Weyls aus der Darstellungstheorie endlicher Gruppen übernommener Methode der invarianten Integration schrieb Cartan dann einige Arbeiten über die globale Theorie von Lie-Gruppen und homogenen Räumen. Eine über Lie-Gruppen hinausgehende globale Theorie der Differentialformen entwickelte erst de Rham, der damals an einer Schule in Lausanne unterrichtete, aber häufig an Hadamards Seminar in Paris teilnahm. Hadamard vermittelte ihm einen Termin in Cartans heimischem Arbeitszimmer, dem er dort von seinem Beweis des schon von Poincaré vermuteten Zusammenhangs zwischen Differentialformen und Homologie überzeugte. (Kohomologie wurde erst einige Jahre später definiert.) Offizieller Betreuer von de Rhams Doktorarbeit wurde dann Lebesgue, für den das wohl eine Arbeit über Mehrfachintegrale war, aber Cartan war der Hauptgutachter.

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