“The greatest mathematical paper of all time” betitelte 1989 der Mathematical Intelligencer eine Besprechung A.J.Colemans über Wilhelm Killings hundert Jahre zuvor erschienene Arbeit “Die Zusammensetzung der stetigen endlichen Transformationsgruppen, Teil 2”. Diese Arbeit sei das Paradigma für alle späteren Klassifikationen algebraischer Strukturen gewesen, außerdem seien die in ihr entwickelten Methoden unabdingbar für die Entwicklung der Darstellungstheorie gewesen, Wurzelsysteme, Weyl-Gruppen und Coxeter-Systeme wären in dieser Arbeit erstmals vorgekommen ebenso wie die in der Physik wichtige Lie-Gruppe E8.

“Kontinuierliche Gruppen”, wie man Lie-Gruppen im 19. Jahrhundert nannte, wurden damals noch als Gruppen infinitesimaler Transformationen betrachtet, also in heutiger Sprache als Lie-Algebren. (Der Zusammenhang zwischen kontinuierlichen Gruppen und ihren infinitesimalen Versionen war durch die Lie’schen Sätze geklärt worden. Erst 1893 fanden Engel und Study, dass beispielsweise in SL(2,C) nicht jedes Element der Lie-Gruppe das Exponential eines Elements der Lie-Algebra ist und insofern Lie-Gruppen noch komplizierter sein können als die zugehörigen Lie-Algebren.)

Killing strebte eigentlich eine Klassifikation der Raumformen an und arbeitete deshalb unabhängig von Lie an der Klassifikation der Lie-Algebren. Weil deren allgemeine Klassifikation zu schwer war (und ist), begann er zunächst mit den komplexen einfachen Lie-Algebren. (Er nannte eine Lie-Algebra “halbeinfach”, wenn sie keine auflösbare Lie-Unteralgebra besitzt. Halbeinfache Lie-Algebren kann man als direkte Summen zerlegen und die nicht mehr zerlegbaren Summanden nannte er “einfach”.) Er hatte zunächst vermutet, dass es nur die beiden aus der Geometrie bekannten Serien gibt: die zu SL(n,C) gehörenden Lie-Algebren sl(n,C)={A∈Mat(n,C): Spur(A)=0} und die zu SO(n,C) gehörenden Lie-Algebren so(n,C)={A∈sl(n,C): A+AT=0} (mit n>2). Bei der Arbeit an der Klassifikation fand er zunächst die später G2 genannte Gruppe, bald danach die symplektischen Gruppen und schließlich noch fünf weitere Ausnahmegruppen, von denen sich zwei später als isomorph herausstellten.

Sophus Lie hatte ebenfalls erfolglos an der Klassifikation der Lie-Algebren gearbeitet. Killings Vorteil war wohl, dass er die damals neuen Methoden der linearen Algebra bereits verinnerlicht hatte. Sein Ansatz bestand darin, die durch ad(x)(y):=[x,y] gegebene “adjungierte Wirkung” von Elementen x auf der Lie-Algebra zu betrachten. ad(x) ist eine lineare Abbildung der Lie-Algebra und man kann im Geiste der linearen Algebra versuchen, sie zu diagonalisieren.
Man betrachte beispielsweise in sl(n,C) eine Diagonalmatrix x mit Einträgen x1,…,xn. Dann bildet ad(x) jede Diagonalmatrix auf 0 und jede andere Matrix Eij (mit i-j-Eintrag gleich 1 und sonst nur Nullen) auf xiEij ab. In dieser Basis ist ad(x) also diagonal.
Killing betrachtete nun eine maximale, bzgl. der Wirkung von ad diagonalisierbare, Unteralgebra, also eine Unteralgebra L, so dass alle x∈L in derselben Basis diagonalisierbar sind. Für sl(n,C) ist das die Unteralgebra der Diagonalmatrizen (oder jede zu ihr durch Basiswechsel konjugierte Unteralgebra) und die Basis besteht im Fall der Diagonalmatrizen aus den Matrizen Eij mit i≠j und den Diagonalmatrizen Eii-Ejj. Solche Unteralgebren nennt man heute Cartan-Unteralgebren. Killing behauptete, dass die Elemente einer solchen Unteralgebra alle miteinander kommutieren. (Sein Beweis war fehlerhaft, die Behauptung wurde erst 1894 in der Dissertation von Élie Cartan bewiesen. Für die Klassifikation benötigt man aber nur eine etwas schwächere Eigenschaft.)

Die gleichzeitige Diagonalisierbarkeit der ad(x), x∈L, bedeutet, dass man eine Basis der Lie-Algebra hat, so dass ad(x) auf einem Basiselement durch Multiplikation mit einer (von x abhängenden) Zahl α(x) wirkt. Zu jedem dieser Basiselemente hat man also eine Abbildung α:L–>C.
Die für verschiedene Basiselemente vorkommenden α bilden ein sogenanntes Wurzelsystem R des Dualraums L*. Das bedeutet, dass sie bzgl. eines gewissen Skalarprodukts (dem Dual der Killing-Form) folgende Eigenschaften haben:
– sie bilden ein endliches Erzeugendensystem des Dualraums L*
– für jedes α bildet die Spiegelung sα an der zu α orthogonalen Hyperebene R auf sich ab
– für alle α,β gibt es eine ganze Zahl cα,β mit sα(β)-β=cα,βα.
(Killings Definition war etwas anders, er verwendete noch gar nicht das später nach ihm benannte Skalarprodukt und entsprechend auch nicht die durch dieses Skalarprodukt definierte Spiegelung.)

Das Bild zeigt das Wurzelsystem für sl(3,R). In diesem Fall ist L der zweidimensionale Raum der Diagonalmatrizen diag(l1,l2,l3) mit l1+l2+l3=0, die Killingform ist das Dual der hier durch 6 Spur(XY) definierten Killing-Form, und das Wurzelsystem besteht aus den sechs Abbildungen αij(diag(l1,l2,l3))=li-lj für (i,j)=(1,2),(1,3),(2,3),(2,1),(3,1),(3,2). Man kann zwei der Wurzeln als Basis verwenden, so dass dann jede andere Wurzel entweder eine positive oder eine negative Linearkombination aus einer oder beiden dieser Wurzeln ist. (Man bezeichnet diese beiden Wurzeln dann als “einfache Wurzeln” und ihre Linearkombinationen mit nichtnegativen Koeffizienten als „positive Wurzeln“. Ein System “einfacher Wurzeln” mit dieser Eigenschaft kann man in jedem Wurzelsystem finden.)

1 / 2 / Auf einer Seite lesen

Kommentare (3)

  1. #1 mkf
    1. September 2019

    Sehr schöne Zusammenfassung der Theorie. Kurze anmerkung: nennt man das, was du positive Wurzeln nennt nicht eher einfache Wurzeln. Positive Wurzeln wären in deinem Beispiel dann auch noch die Summe der beiden einfachen Wurzeln.

  2. #2 Thilo
    1. September 2019

    Danke für den Hinweis, ist im Artikel jetzt korrigiert.

  3. […] Die Klassifikation der einfachen Lie-Algebren. Der Wiederkehrsatz von Poincaré Minkowskis Gitterpunktsatz Ljapunow-Stabilität Hilberts Nullstellensatz Der Überdeckungssatz von Heine-Borel Poincaré-Dualität Der Primzahlsatz Hilberts Produktformel Komponierbarkeit quadratischer Formen Die Widerspruchsfreiheit der euklidischen Geometrie Das Runge-Kutta-Verfahren Lebesgues Satz über dominierte Konvergenz Fortsetzbarkeit von L-Funktionen Die Fredholm-Alternative Der Wohlordnungssatz Schurs Lemma Der Spektralsatz für beschränkte Operatoren Der Satz von Riesz-Fischer Das Ritz-Verfahren Borels Gesetz der großen Zahlen Der algebraische Abschluß von Körpern Invarianz der Dimension Der Abbildungssatz Der Satz vom höchsten Gewicht Die Klassifikation algebraischer Flächen Die Einstein-Hilbert-Wirkung Charakterisierung analytischer Mengen Multiplikativität der Ramanujanschen Tau-Funktion Das Noether-Theorem Kongruenzen der Partitionsfunktion Der Satz von Thue-Siegel Das Lokal-Global-Prinzip Der Banachsche FixpunktsatzDie Lefschetzsche Fixpunktformel Der Fisher-Test Die Hauptsätze der Werteverteilungstheorie Der Satz von Peter-Weyl Das Artinsche Reziprozitätsgesetz Der Spektralsatz für unbeschränkte Operatoren Der Satz von Mordell-Weil Existenz unendlich vieler Geodätischer Der Ergodensatz Der Satz von Brauer-Hasse-Noether Das Fundamentallemma der mathematischen Statistik Pontrjagin-Dualität Der Satz von Tichonow Der Einbettungssatz von Whitney Der Satz von Winogradow Der Sobolewsche Einbettungssatz Der Satz von Teichmüller Die Riemann-Vermutung für Funktionenkörper Das Hodge-Theorem Siegel-Scheiben Stetiger Funktionalkalkül Der Satz von Chern-Gauß-Bonnet Der Eilenberg-Steenrod-Eindeutigkeitssatz Die Leray-Spektralsequenz Konditionierung linearer Gleichungssysteme Das Simplex-Verfahren Das WKS-Abtasttheorem Adelische Poisson-Summation Der Vergleichssatz von Rauch Die Berechnung des Kobordismusrings Die Endlichkeit der Homotopiegruppen von Sphären Der Einbettungssatz von Nash Serre-Dualität Die Selbergsche Spurformel Bott-Periodizität Der Satz von Grothendieck-Riemann-Roch Der Eichler-Shimura-Isomorphismus Der meßbare Riemannsche Abbildungssatz Der h-Kobordismus-Satz Der Satz von Feit-Thompson Der Atiyah-Singer-Indexsatz Auflösung der Singularitäten […]