Hier läuft von 12:00 bis 16:00 Uhr am 17.102017 die Diskussion.
Unterliegen Menschen noch der Evolution?
Natürlich, diese Entwicklung hört ja nicht einfach auf.
Es ist nur sehr schwierig, sie zu beobachten.
Wie also wird sich der Mensch weiterentwickeln?
Gibt es möglicherweise einen evolutiven Trend?
Dazu fand ich verschiedene Denkansätze. Darunter eine Publikation des Evolutionsanthropologen (evolutionary anthropologist) Cadell Last vom Global Brain Institute. Das GBI in Brüssel beschäftigt sich mit der Abschätzung der Folgen, die das Internet auf die Menschen haben wird.
Das World Wide Web dürfte de facto einer der stärksten Einflüsse für tiefgreifende Veränderungen der nahen Zukunft sein – das denke ich auch. Darum habe ich mir den Beitrag näher angesehen.
Ellie Zolfagharifard hatte am 11 September 2014 für MailOnline über diese Studie geschrieben und Last zitiert:„Are we evolving into a NEW type of human? ‘Different’ species will have evolved by 2050, scientist claims.
Cadell Last hatte seine Publikation gegenüber der Presse zusammenfassend beschrieben mit 10 Thesen, etwa, dass wir länger leben, später Kinder bekommen und uns auf Roboter verlassen werden. Außerdem werden Menschen zunehmend mehr Zeit in der virtuellen Realität verbringen. Die Veränderungen sollen ähnlich tiefgreifend sein wie die evolutive Kluft vom Menschenaffen zum Menschen.
Eine Graphik (nicht aus der Publikation stammend, sondern von der Daily Mail erstellt) verdeutlicht den Inhalt des Artikels. Sie zeigt 10 charakteristische Merkmale eines 35-jährigen Mannes im Jahr 2040, der Mann hat einen Büroarbeitsplatz.
Demnach zeichnet sich der Büroarbeiter der Zukunft also aus durch
- ein größeres Gehirn, ergänzt durch Software und Speicherupdates
- Implantate etwa im Ohr, statt externer Kopfhörer
- einen Größeren Magen und größere Sitzmuskeln, wegen der geringeren Bewegung und des ständigen Sitzens
- einen kleineren Penis, wegen der geringeren sexuellen Aktivität
- rote Augen von dauerhafter Arbeit – schließlich arbeitet er in den Zeitzonen der USA, Chinas und Indiens gleichzeitig
- Mehrsprachigkeit – die globalen Märkte erfordern Mandarin, Hindi und Portugiesisch-Kenntnisse
- smarte Finger mit Chips, die bei der vernetzten Arbeit helfen.
Kritische Analyse von Cadell Lasts Vorschau in die künftige Entwicklung der Menschen
1 Ein größeres Gehirn wird oft als Synonym für stärkere Denkleistung benutzt.
Das ist nicht ganz korrekt: Nicht allein die Größe eines Gehirns ist für die Denkleistung ausschlaggebend, sondern die Komplexität und Vernetzung innerhalb des Organs.
Das Gehirn ist kein Muskel: Es wächst nicht durch stärkere Nutzung, hier: Durch vermehrte kognitive Prozesse.
Dazu kommt: Die Gehirn- und Kopfgröße wird limitiert durch den Geburtsprozess der Säugetiere: Säugernachwuchs kommt lebend zur Welt, der Kopf des Neugeborenen muss durch den Geburtskanal der Mutter passen. Die Kopfgröße ist beim heutigen Menschen ausgereizt.
Meiner Ansicht nach hat das Aufwachsen mit dem WWW sicherlich signifikante Auswirkungen auf die Denkstrukturen, die synaptischen Verknüpfen und sicherlich auch auf die Wahrnehmung und den Einsatz der Sinnesorgane. Auch Implantate als Ergänzungen des Gehirns könnten möglich sein. Aber eine Vergrößerung des Gehirns und des Kopfes sind sicherlich nicht mehr zu erwarten.
2 Ohr-Implantate könnten eine gute Idee sein, sie erscheinen auch möglich. Die Frage ist für mich allerdings, ob es erstrebenswert ist, dauerhaft die Verbindung ins Netz aufrechtzuerhalten. Was für ein Gefühl wäre es wohl für einen Menschen, seiner Individualität beraubt zu werden und wie eine Borg-Drohne im Kollektiv stetig verbunden zu sein?
Brauchen Menschen einen regelmäßigen Rückzug auf ihre Subjektivität für ihre geistige Gesundheit? Wie viel Individualität braucht ein Homo sapiens-Exemplar?
Das scheint mir eher eine kulturelle und individuelle Frage zu sein. Individualität wird in unterschiedliche Kulturen unterschiedlich bewertet, sie erscheint nicht jedem wichtig oder erstrebenswert.
Fest installierte Ohr-Implantate erscheinen mir technisch vorstellbar, auch wenn für mich persönlich eine stetige Verbindung eine entsetzliche Vorstellung ist.
3 Grundsätzlich sollen, so Last, zu viele Stunden am Computer bei zu wenig Bewegung zu mehr fettleibigen Menschen, mit einem größeren Magen und größeren Sitzmuskeln führen.
Das muss nicht zwangsläufig der Fall sein. Zurzeit beobachten wir tatsächlich, dass weltweit ein Trend zur Fettleibigkeit besteht. Die Ursache dafür sehen Ärzte allerdings nicht allein im Medienkonsum, sondern vielmehr im Bewegungsmangel und einer Fehlernährung. Letzteres hängt meistens mit der sozialen Herkunft und den Verhaltensmustern der Eltern zusammen.
Der technische Fortschritt könnte ja auch dazu führen, dass man für Büroarbeiten nicht mehr fest vor dem Computer und dem Bildschirm sitzen muss, sondern solche Arbeiten mit mobiler Hardware erledigt oder sie einfach in den Raum spricht. Arbeitsforscher gehen oft davon aus, dass gerade Routinearbeiten eher abgebaut werden. Voraussagen über die Zukunft der Arbeit sind so divers, dass sie von Nahezu-Vollbeschäftigung bei Selbstverwirklichung auf der einen bis zur Massenarbeitslosigkeit reichen.
Keine Prognose spricht jedoch davon, dass Menschen der Zukunft noch länger und ausgedehnter Zeit am Schreibtisch verbringen werden. Falls sie das tun sollten, dürften die Folgen von Bewegungsmangel hinreichend bekannt sein, genauso wie die entsprechenden Gegenmaßnahmen.
4 Last nimmt für die Zukunft eine geringere sexuelle Aktivität an und leitet davon ein Schrumpfen des männlichen Geschlechtsorgans ab – der Mann der Zukunft soll einen kleineren Penis haben.
Last verwechselt Sexualität mit Fortpflanzung. Nur weil Menschen die Fortpflanzung in immer spätere Lebensabschnitte verlegen und bei hohem Bildungstand insgesamt weniger Nachwuchs bekommen, bedeutet das keinesfalls automatisch eine Abnahme der sexuellen Aktivität.
Sexuelle Interaktionen müssen mit zunehmender Digitalisierung immer weniger zwangsläufig durch persönliche Kontakte stattfinden. Verbesserte Roboter und zunehmende Virtuelle Realität könnten auch in der Sex-Industrie noch ein Quantensprung verursachen. Für die grundsätzliche Abnahme der sexuellen Aktivität durch die digitalen Medien in der Zukunft sehe ich keinen Beleg.
Allerdings gibt es ernstzunehmende Hinweise darauf, dass chemische Umweltbelastung Enfluß auf den Hormonhaushalt nimmt: Einige Chemikalien wirken hormonähnlich, sie wirken fruchtbarkeitsmindernd und führen zu einem Absinken der männlichen Geschlechtshormone.
Das führt tatsächlich zu einer geringeren Größe von Keimdrüsen und Penis. Vor allem die Wasserverschmutzung ist ein besonders großes Problem, wie Wissenschaftlern bisher an Ottern und Eisbären nachweisen konnten.
5 Menschen der Zukunft sollen in mehreren Zeitzonen – Last nennt die USA, China und Indien – gleichzeitig online arbeiten und dadurch rote Augen entwickeln.
Bei der derzeitigen technischen Entwicklung erwarte ich eine erhebliche Verbesserung der Ergonomie bei Bildschirmarbeiten – falls wir 2040 überhaupt noch Bildschirme benutzen. Sicherlich würden findige Augenärzte dann potente Augentropfen entwickeln, die die Rötung der Augen verhindern oder vermindern.
Vielleicht gibt es dann auch längst Kortikalimplantate, die die Augen überflüssig machen und Bilder gleich ins Gehirn projizieren?
6 Die Menschen der Zukunft benötigen Mehrsprachigkeit – die globalen Märkte erfordern Mandarin, Hindi und Portugiesisch-Kenntnisse, meint Last. Zunächst kann ich mir schwerlich vorstellen, dass die globalen Märkte zwischen 2040 und 2050 ohne Englisch funktionieren. Gerade mal zwei Jahrzehnte in der Zukunft kann ich mir schwerlich vorstellen, dass sich das Sprachgefüge so schnell und so vollständig ändern wird, dafür müsste innerhalb weniger Jahre sehr viele Menschen neue Sprache lernen.
Dann stellt sich die Frage, ob es bei so viel hilfreicher Soft- und Hardware nicht nahezu egal wird, welche Sprache man nutzt? Simultanübersetzer zwischen den wichtigsten großen Sprachen sollten dann eine flächendeckende Selbstverständlichkeit sein. Bereits heute helfen Übersetzungsprogramme zuverlässig bei der Übersetzung von Texten.
7 Smarte Finger mit Chips, die bei der vernetzten Arbeit helfen – das erscheint mir nicht ganz aus der Luft gegriffen. Allerdings hätte ich, wie bei den Ohrimplantaten, lieber abstreifbare, austauschbare, reparierbare Hardware. Also eher ein ergonomisch perfekt passendes Konstrukt, bequem wie ein reduzierter Handschuh.
Vielleicht ein Handimplantat – wie die Borg-Drohne Seven of Nine (Star Trek: Voyager) nach ihrer Loslösung vom Kollektiv?
Wie überzeugend ist Lasts Szenario?
Zwischen dem Interview und der angeblich zu Grunde liegenden Publikation klafft für mich eine ähnliche Kluft wie zwischen Menschenaffen und Menschen, um im Vokabular zu bleiben. Die Publikation ist wesentlich weniger direkt, wesentlich soziologischer und wesentlich utopischer.
In der Publikation geht Last tatsächlich von einer gemeinsamen Entwicklung der Menschheit aus, weil alle Menschen durch das Internet besser vernetzt sein werden.
So kann es zu einem gemeinsamen Lernen unter den Idealen der Aufklärung kommen und alle Menschen evoluieren und werden glücklicher.
Auch wenn die Publikation fundierter sein mag, als der Artikel in der Mail. Am meisten stört mich bei diesem Zukunftsausblick die Grundannahme, die Menschen als eine Gesamtheit zu betrachten.
Last schreibt „wir“ – aber wer ist „wir“?
Im Zeitungsartikel laufen Begriffe wie species, also Art, und type, also eher eine Untergruppe der Art, etwa ein Ökotypus, durcheinander.
Die Art Homo sapiens ist eine inhomogene große Anzahl von Untergruppen mit unterschiedlichen Kulturen in sehr unterschiedlichen Ökotopen.
Eine Aussage über „die Menschheit“ ist kaum möglich, eher über einzelne Populationen. Es kann schon sein, dass einige dieser Populationen durch das Internet verbunden sind, sie müssen nicht mehr zwangsläufig geographisch nahe beieinander leben, um zu kommunizieren, zu interagieren und möglicherweise sogar zusammen zu lernen. Innerhalb dieser Populationen wird sich sicherlich eine Teilgruppe durch Lernen und Tradierung des Gelernten weiterentwickeln. Es erscheint mir allerdings höchst fragwürdig, ob sich dieser Lernerfolg auf die gesamte Population erstrecken wird oder gar auf mehrere Populationen. Gleichzeitig ist die scharfe Trennung und Abgrenzung einzelner Population in Zeiten der Globalisierung unwahrscheinlicher denn je – dafür wird zu viel gereist und ein- und ausgewandert, über längere Distanzen und schneller denn je zuvor.
Lasts Blick ist fokussiert auf Gruppen von Menschen, wie er in den USA und Europa und vielleicht einigen anderen Staaten anzutreffen ist. Darin liegt für mich der hauptsächliche Fehler in Lasts Gedankengebäude und einigen anderen Beiträgen zur zukünftigen Entwicklung der Menschen. Heute hat nur ein Teil der Menschheit Zugang zum WWW und zu High-Tech-Medizin, wie sie für die von Last angesprochenen Erweiterungen notwendig sind. Im Moment sehe ich keinen keinen Anlass zu dem Gedanken, dass sich das innerhalb der nächsten 20 bis 30 Jahre vollständig verändern wird.
Peter Wards Ideen zur künftigen Evolution des Menschen
Der renommierte Evolutionsbiologe Peter Ward hatte 2009 schon Gedanken zur zukünftigen Evolution der Menschen formuliert. Die Entwicklung größerer Köpfe hält er für ebenso absurd wie die Aufspaltung in zwei Spezies, aus den gleichen Gründen, die ich bereits nannte. Stattdessen erwartet er vielmehr eine immer weiter gehenden Vermischung aller Genpools, die schließlich zu einer immer größeren Ähnlichkeit der Menschen führt.
Er sieht die Evolution der Menschen eher durch großflächiges Genetic Engineering beschleunigt und gezielt verbessert: “Humanity now has an unparalleled means by which to direct our evolution — genetic engineering. By using viruses and other techniques, we can in theory modify our genomes, and over time, scientists may uncover genes underlying intelligence, health, athletic prowess, longevity and other desirable traits, engineering what might seem like superhuman progeny. Genetic engineering is how Ward speculated new species of humans might emerge.”
Die Entstehung neuer Menschengruppen hält er nur durch den gezielten Einsatz von Genetic Engineering für möglich.
Ward scheint mir deutlich näher an der Realität zu sein als Last. Sein populärwissenschaftliches Buch “Future Evolution” steht auf meiner Leseliste weit oben.
Aus dem Einsatz von Gentechnologie zum Tuning von Menschen ergeben sich nicht nur biologische und medizinische, sondern auch eine ganze Reihe von ethischen, sozialen und philosophischen Fragen. Dazu kommen mir so einige Science Fiction-Szenarien in den Sinn, unter anderem die vielen düsteren Cyberpunk-Dystopien.
Aber das würde den Umfang dieses Artikels sprengen.
Mehr gibt´s heute auf Zeit online: Grosse Fragen an die Wissenschaft und auf Twitter unter #grossefragen
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