Der Meckelsche Knorpel
Die Entwicklung vom Kiemenbogen zum Ohr ist eine ungeheure Geschichte über einen ungeheuren Zeitraum hinweg – wie sind Wissenschaftler dieser Entwicklung auf die Spur gekommen?
Zu Darwins Zeiten brodelte es in allen Forschungsrichtungen gleichzeitig – der Einfluss der Kirchen nahm ab, die technologische Entwicklung ermöglichte ganz neue Forschungsansätze und Ideen, die globale Vernetzung einzelner Forscher nahm rapide zu  – in diesem Zeitraum entstand das moderne naturwissenschaftliche Denken mit seinen spezialisierten Fachdisziplinen.
Verschiedene Entdeckungen und Erklärungsansätze lieferten immer weitere Puzzlestücke, wie das Leben auf der Erde zusammenhängt.
Darwin hatte den Menschen als eine Art innerhalb der Tiere beschrieben und hatte mit seinem Kompendium der Evolutionstheorien Anhaltspunkte dafür geliefert, dass die Menschen aus anderen Tieren hervorgegangen sein müssen. Andere Forscher beschäftigten sich mit der Ontogenie – der Embryonalentwicklung. Einigen dieser Wissenschaftler, die menschliche Embryonen auf der Suche nach Erklärungen für Missbildungen analysierten, fiel auf, dass diese Embryonen in einem frühen Stadium Kiemenbögen haben. Wie auch die Embryonen anderer Säugetiere, Reptilien etwa Vögel.
Nach dem Durchbruch der Evolutionstheorien konnte nun offen darüber diskutiert und geforscht werden.

In der Keimesentwicklung eines Menschen und anderer Tiere laufen also einzelne Entwicklungsniveaus der Evolution noch einmal im Schnelldurchgang ab. Heute wissen wir, dass nicht gesetzmäßig die gesamte Evolution rekapituliert wird, sondern nur einige Entwicklungsniveaus. Aber das ist bereits beeindruckend genug.
Der nur noch embryonal angelegt Meckelsche Knorpel im Unterkiefer eines Säugetiers ist letztendlich eine Knorpelspange des 1. Kiemenbogens und die Leistruktur für die Anlage des Unterkiefers (Mandibula). Im Verlauf der Embryonalentwicklung wird der  der Knorpel vollständig abgebaut und der Knochen bildet sich vollständig neu.

Der Meckelsche Knorpel menschlicher Embryonen ist also noch ein Stückchen Kiemenbogen, der Rest unseres inneren Fisches. Dieses kleine Knorpelstückchen bildet eine Momentaufnahme einer über 300 Millionen Jahr dauernden Evolution ab.
Diesen Themenkomplex habe ich erstmals im 3. Semester meines Biologie-Studiums gelernt. Die Faszination für solche komplexen Zusammenhänge und Abläufe sind für mich immer noch ein Wunder der belebten Natur, über das ich immer wieder ergriffen staune. Und ich werde davon niemals genug bekommen.

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Kommentare (9)

  1. #1 tomtoo
    20. November 2017

    @Bettina
    Vielen Dank ! Sehr spannend. Jetzt weis ich wiher der Sruch kommt “Jetzt hau ich mir was zwischen die Kiemen”. ; )

  2. #2 Bettina Wurche
    20. November 2017

    @tomtoo: : )

  3. #3 RPGNo1
    20. November 2017

    Auch wenn es hier nicht um Kiefergelenke geht: Ich meine gelesen zu haben, dass es ein Therapsidenskelett gibt, welches sowohl ein primäres als auch ein sekundäres Kiefergelenk aufweist (ganz grob gesagt). Leider kann ich nicht mehr sagen, wo ich diese info her habe.

  4. #4 ImNetz
    20. November 2017

    K. Costner mit seinen Kiemen in Waterworld – endlich verständlich ,—))

    https://www.filmzentrale.com/rezis/waterworldgs.htm

  5. #5 Ludger
    21. November 2017

    Vielen Dank für den Bericht! Lang, lang ist’s her.Nein, ich meine nicht die erwähnten 550 Millionen Jahre sondern die Zeit seit der Vorlesung Embryologie im Medizinstudium 1971. Mir sind vor allen Dingen der Aortenbogen in Erinnerung, der aus der linken vierten Kiemenbogenarterie entsteht (Wikipedia) und der Nervus laryngeus recurrens. Der auffällige Verlauf ergibt sich aus komplexen ontogenetischen Prozessen und ist unmittelbar durch den sogenannten Abstieg (Deszensus) des Herzens beim Embryo bedingt. (Wikipedia)

  6. #6 Bettina Wurche
    22. November 2017

    @Ludger: JA! Es ist mir schwer gefallen, ausgerechnet darauf zu verzichten – aber ich hatte befürchtet, dass die zusätzliche Info zu den Blutgefäßen und Kopfnerven so einen Artikel gesprengt hätten. Aber vor meinem geistigen Auge entsteht in Erinnerung an diese Vorlesungen sofort dieses Bild der Aortenbögen. Ontogenie und Evolution sind einfach großartig!

  7. #7 anderer Michael
    24. November 2017

    “Die Nerven und Blutgefäße des menschlichen Kopfes treiben Medizinstudierende regelmäßig in den Wahnsinn, weil sie scheinbar wirr durcheinanderliegen.”
    Wahnsinn ist übertrieben, aber gerade am Anfang des Studiums war ich nicht nur in der Anatomie von so vielen neuen Eindrücken und Zusammenhängen erstmal erschlagen und überfordert.

  8. #8 Gerhard
    29. November 2017

    Nochmal herzlichen Dank!
    Ich habe ja nie Biologie studiert, war nur ein IT-Mensch, aber seit gut 5 Jahren interessieren mich diese Dinge sozusagen zeitverzögert:-)

  9. #9 Bettina Wurche
    29. November 2017

    @Gerhard: Danke! Es ist doch egal, wann man ein spannendes neues fachgebiet entdeckt – so lange man es überhaupt findet : )