Es ist ein großer Tag für die Hochenergiephysik, daran besteht kein Zweifel. Doch die Physik-Community drückt sich nach wie vor gerne vorsichtig aus. Die Statistik spricht jedenfalls eine recht deutliche Sprache: Heute ist Zeit zu feiern!

Jahrzehntelang wurde an dem großen Teilchenbeschleuniger und den Detektoren am CERN in Genf geplant und gebaut, die Suche nach dem Higgs galt von Anfang an als entscheidendes Ziel. Nun, am 4. Juli 2012, konnte endlich verkündet werden, worauf die Hochenergiephysik-Community auf der ganzen Welt so lange gewartet hatte: Man hat tatsächlich bei der Suche nach dem Higgs ein neues Teilchen gefunden. Es gehört zur Teilchenfamilie der Bosonen und hat eine Masse von 125-126 Giga-Elektronenvolt.

Kann man auch wirklich sicher sein?

Von der Entdeckung eines Teilchens spricht man nur dann, wenn man mit sehr hoher Sicherheit sagen kann, dass es sich nicht um bloßen Zufall handelt. Theoretisch wäre es denkbar, dass rein zufällige statistische Schwankungen ein Signal verursachen, das aussieht wie ein Higgs-Teilchen. Man gibt daher die Wahrscheinlichkeit an, mit der das gemessene Signal zu beobachten wäre, unter der Annahme dass es das Teilchen gar nicht gibt.

Wenn wir einen Würfel haben und überprüfen wollen, ob der Würfel gezinkt ist, müssen wir auch statistische Methoden anwenden: Wenn ich zehnmal hintereinander eine Sechs würfle, dann werde ich zwar ziemlich sicher sein, dass es kein gewöhnlicher Würfel ist – doch theoretisch könnte ein solcher Effekt auch rein zufällig zustandekommen. Und genau davor versucht man sich zu schützen, in dem man möglichst viele Daten sammelt.

Gäbe es tatsächlich kein Higgs-Teilchen, wäre die Chance, die gemessenen Signale zu erhalten, extrem gering: Sie läge bei etwa eins zu 3.5 Millionen – bei einem einzelnen Detektor. Das entspricht ungefähr der Wahrscheinlichkeit, bei 22 Münzwürfen hintereinander “Zahl” zu werfen. Durch die Verwendung von zwei Detektoren, die praktisch idente Ergebnisse lieferten, erhöht sich die Sicherheit noch einmal deutlich. (Aus den Einzel-Wahrscheinlichkeiten der beiden Detektoren eine statistische Gesamt-Sicherheit zu berechnen, ist schwierig, weil die beiden Zahlen auf schwer einschätzbare Weise korrelliert sind.)

Fünf Standardabweichungen

Teilchenphysiker sind sehr vorsichtige Menschen. Eingebürgert hat sich die Grenze von fünf Standardabweichungen: Wenn das gemessene Signal so stark ist, dass es um mindestens fünf Standardabweichungen von dem entfernt ist, was man als bloßes Zufallssignal erwarten würde, dann kann man von einer Entdeckung sprechen. Daher war es psychologisch wichtig, diese symbolträchtige Grenze zu überschreiten. Mit den heute gezeigten Daten ist das gelungen: Die Daten des CMS blieben zwar mit 4.9 Standardabweichungen knapp darunter, der ATLAS-Detektor erreichte die magische Grenze von 5.0. Würde man die Daten beider Detektoren kombinieren, läge man sogar sehr deutlich darüber.

Ist es wirklich das Higgs?

Es gibt also keinen rational sinnvollen Zweifel daran, dass ein neues Teilchen entdeckt wurde. (Und das wurde auch von den CERN-Leuten heute klar gesagt.) Doch auch im nächsten Schritt lässt sich die extreme Vorsicht erkennen, die man beim Verkünden sensationeller Ergebnisse am CERN walten lässt: Man ist äußerst zurückhaltend damit, vom „Higgs-Teilchen” zu sprechen. Die Eigenschaften des neuen Teilchens konnten nämlich noch nicht alle im Detail erforscht werden, und so ist es theoretisch möglich, dass es sich um etwas Anderes als das Higgs-Teilchen handeln könnte.

Damit rechnet allerdings niemand wirklich: “Alle bisher gemessenen Charakteristika des Teilchens, etwa die einzelnen Zerfallsraten, mit denen sich das Higgs in andere Teilchen umwandelt, stimmen sehr gut mit den erwarteten Eigenschaften des Higgs überein”, meint Prof. Anton Rebhan vom Institut für Theoretische Physik der TU Wien. Aus seiner Sicht besteht daher kein Zweifel, dass man am CERN nicht bloß irgendein Teilchen entdeckt hat, sondern das langgesuchte Higgs.

Die Vorsicht der Hochenergiephysik-Community ist also sinnvoll und vorbildlich – doch: Wenn etwas aussieht wie eine Ente und quakt wie eine Ente, dann ist es vermutlich eine Ente. Eine Zeitungsente hingegen sieht normalerweise ganz anders aus.

Die Entdeckung des Higgs-Teilchens bedeutet jedenfalls noch lange nicht, dass dieses Thema nun abgehakt ist – im Gegenteil: „Das ist erst der Anfang”, sagt Fabiola Gianotti, Sprecherin des ATLAS-Experiments. „Wir treten nun ein in die Ära der Higgs-Messungen.”

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Kommentare (21)

  1. #1 DC
    Juli 4, 2012

    “Die Vorsicht der Hochenergiephysik-Community ist also sinnvoll und vorbildlich”

    Kann diese nicht vor allem daran liegen, dass man es letztes Mal (Stichwort Kabel) ein klein wenig verbockte?

  2. #2 Florian Aigner
    Juli 4, 2012

    @DC:
    *gg* Auf diesen Kommentar habe ich gewartet. Ja, ich kann mir gut vorstellen, dass das in den Köpfen eine Rolle spielte. Ich finde aber, dass auch damals, bei der Kabel-Affäre, kein echtes Fehlverhalten zu sehen war: https://www.scienceblogs.de/naklar/2012/02/die-cernneutrinos-und-der-triumph-der-wissenschaft.php

  3. #3 DC
    Juli 4, 2012

    Es war kein bewusstes Fehlverhalten, aber ein Fehler lag dem Verhalten zugrunde. Das die Medien es dann als “sensationell, Einstein wurde wiederlegt” verkauft oder zumindest tendenziös in die Richtung drängten, war natürlich nicht ihr Fehler. Einen Fehler hat man halt dennoch begangen….

    “Auf diesen Kommentar habe ich gewartet.”
    Na dann kannste ja froh sein, dass das so schnell ging 😉

  4. #4 ikarus
    Juli 4, 2012

    @Florian: “[…] der ALICE-Detektor erreichte die magische Grenze […]”; hier hat sich wohl ein kleiner Fehler eingeschlichen, ALICE beschäftigt sich mit Pb-Kollisionen und nimmt nicht an der Higgs-Suche teil!

  5. #5 Florian Aigner
    Juli 4, 2012

    @ikarus:
    Oh danke! ALICE und ATLAS – man sollte Texte wirklich durchlesen, bevor man sie online stellt. Ist ausgebessert.

  6. #6 Constantin
    Juli 4, 2012

    Ich kann nur endlich hoffen, dass wir damit endlich die Graviphysik ihrer Berechtigung geben können und endlich den Graviwellen annähren können. Die armen Leute Albert-Einstein-Institut aus Potsdam 😀

  7. #7 Christian Berger
    Juli 4, 2012

    Etwas was mich verwirrt ist, dass die “ATLAS Frau” von “Femtoban invers” gesprochen hat. Gut Ban kenne ich jetzt als Maß der Informationsmenge. Ein Ban sind ungefähr 3.32 Shannon.

    Was stellt aber der Kehrwert davon dar? Was will man mit 1/Informationsmenge ausdrücken?

  8. #8 H.M.Voynich
    Juli 4, 2012

    @Christian Berger:
    Das “Barn” ist eine Flächeneinheit (10 hoch -28 m²).
    Von Shannon habe ich noch nie gehört.

  9. #9 Christian Berger
    Juli 4, 2012

    @Voynich Ahh, dann hab ich die Dame falsch verstanden.

    Shannon ist der Erfinder der Informationstheorie, des motorisierten Pogostabes und der Jongliermaschine. Ein Shannon ist der maximale Informationsgehalt eines Bits. Ein Ban ist der maximale Informationsgehalt einer Dezimalziffer.
    Da das mit Entropie zusammenhängt erschien es mir möglich, dass sich Teilchenphysiker auch damit beschäftigen. Stattdessen beschäftigen die sich anscheinend mit sehr kleinen Scheunen. 😉

  10. #10 JK
    Juli 4, 2012

    …und wenn ich heute noch einmal “Gottesteilchen” lese, muss ich ko… also … I’ll need to be vigourously sick. 😉

  11. #11 mamasliebling
    Juli 4, 2012

    Spiegel-online schrieb von der Jahrhundertendeckung.
    Was ist denn nun der große Durchbruch? Errechnet hatte man die Teile doch schon vor langer Zeit.

    Was bringt es der Wissenschaft und der Welt, außer der Gewissheit, dass die Dinger existieren?

    Diese Frage ist wirklich nur eine Frage eines Laien und keine Wertung. Ich freue mich ja auch.

  12. #12 werner
    Juli 4, 2012

    Sehr schön, ich freue mich für die Wissenschaftler am Cern, dass sie fündig geworden sind.

    Eine Frage habe ich aber noch:
    “Die Eigenschaften des neuen Teilchens konnten nämlich noch nicht alle im Detail erforscht werden, und so ist es theoretisch möglich, dass es sich um etwas Anderes als das Higgs-Teilchen handeln könnte.”

    Wie kann man überhaupt die Eigenschaften von diesen Teilchen herausfinden, die man ja eigentlich nur als Ausschlag auf einer Skala kennt?
    Geht das nur über den Zerfall in andere Teilchen, oder gibt es noch weitere Methoden?

  13. #13 Lercherl
    Juli 4, 2012

    Oh danke! ALICE und ATLAS – man sollte Texte wirklich durchlesen, bevor man sie online stellt. Ist ausgebessert.

    … oder sich wieder einmal den LHC rap anhören:

    LHCb sees where the antimatter’s gone
    ALICE looks at collisions of lead ions
    CMS and ATLAS are two of a kind
    They’re looking for whatever new particles they can find.
    The LHC accelerates the protons and the lead
    And the things that it discovers will rock you in the head.

  14. #14 Hanno
    Juli 4, 2012

    @mamasliebling:
    Naja, der Punkt ist: Sollte das Teilchen das Higgs-Boson sein (was man ja wie oben beschrieben nicht mit Sicherheit weiß), dann ist man sich sicher.

    Bisher war der ganze Higgs-Mechanismus sowas wie “interessante Theorie, stimmt mit dem was wir beobachten überein, aber ob sie stimmt – who knows? vielleicht ist alles auch ganz anders”.

    Ganz sicher ist man in der Physik natürlich nie, aber die Entdeckung des Teilchens würde halt das ganze von “gut klingende Theorie” auf “sehr warscheinlich richtige Theorie” heben.

  15. #15 H.M.Voynich
    Juli 5, 2012

    Ehrlich mal: ob Higgs oder nicht – definitiv ist dort was bei 125,3.
    Wenn man in 200 Jahren irgendwelche Studenten nach einer Liste von 10 wissenschaftsgeschichtlichen Kalenderdaten, die sie zuordnen können, fragen würde – wäre dann der 4.7.2012 in der Top-Ten?
    Ich glaube ganz sicher: ja.
    Unsicher bin ich, ob er vor oder hinter dem 20.7.1969 rangieren wird.

  16. #16 Librarian
    Juli 5, 2012

    Wenn etwas aussieht wie eine Ente und quakt wie eine Ente, dann ist es vermutlich eine Ente.

    Oder, wie Terry Pratchett in einem Vortrag so schön sagte: “Wenn es wie eine Ente aussieht, wie eine Ente geht und wie eine Ente quakt, dann kann man ihr genauso gut eine Orange in den Hintern schieben und sie mit Erbsen essen.” 😀

    Wie kann man überhaupt die Eigenschaften von diesen Teilchen herausfinden, die man ja eigentlich nur als Ausschlag auf einer Skala kennt?

    Das würde mich auch sehr interessieren. Von den Eigenschaften der Zerfallsprodukte Rückschlüsse auf die Eigenschaften des gefundenen Bosons zu ziehen, dürfte ja keine besonders gute Methode sein.

  17. #17 H.M.Voynich
    Juli 5, 2012

    “… dann kann man ihr genauso gut eine Orange in den Hintern schieben und sie mit Erbsen essen.”

    Das klingt nach einer vernünftigen Lebensmaxime.
    Pro Siebens Galileo versucht gerade wieder uns weißzumachen, sie würden Bikinis mit wissenschaftlichem Anspruch auf Objektivität testen.
    Doch wo bleibt die Wissenschaftlichkeit, wenn es keine bikinifreie Kontrollgruppe gibt?

    Hashtag: manwirdjamalfragendürfen

  18. #18 Dr. Webbaer
    Juli 6, 2012

    Sind 5 Sigma nicht zu wenig, werden nicht ungeheuer große Datenmengen erfasst und kann diese Menge an Daten nicht Probleme bereiten beim “Finden”?

    Der hier – https://search.dilbert.com/comic/Random%20Number%20Generator – ist gut, gell?

    MFG
    Wb

  19. #19 Kallewirsch
    Juli 11, 2012

    Von den Eigenschaften der Zerfallsprodukte Rückschlüsse auf die Eigenschaften des gefundenen Bosons zu ziehen, dürfte ja keine besonders gute Methode sein.

    Ob besonders gut oder nicht, es ist die einzige Methode, die wir haben. Aus der Theorie folgen gewissen Eigenschaften und in den Zerfallsprodukten sieht man nach, ob man daraus diese Eigenschaften ermitteln kann. Wenn ja, dann beschreibt die Theorie die Realität korrekt. Aufpassen: Das ist nicht ganz dasselbe wie die Aussage ‘Das Higgs existiert”. Genau genommen müsste die Aussage nämlich lauten: Die komplette Standardtheorie (deren letztes Puzzleteilchen, das Higgs Teilchen noch gefehlt hat), ist damit soweit abgeschlossen, dass sie endlich in sich konsistent das Verhalten der Teilchen erklären kann. Darin liegt die eigentliche Bedeutung des Nachweises des Higgs-Teilchens, der ja eigentlich der Nachweis ist, dass die Standardtheorie recht hat, wenn sie behauptet: Da müsste es eigentlich noch ein Boson geben, zumindest benötigen wir es theoretisch, damit der Rest der Standardtheorie Sinn macht. Ein Boson, welches nur ganz kurze Zeit frei überleben kann. Und wenn es entsteht, dann zerfällt es sofort wieder in diese und jene Bruchstücke.

  20. #20 Frank Wappler
    Juli 23, 2012

    Kallewirsch schrieb (11.07.12 · 17:53 Uhr):
    > [Von den Eigenschaften der Zerfallsprodukte Rückschlüsse auf die Eigenschaften des gefundenen Bosons zu ziehen …] ist die einzige Methode, die wir haben.

    Eigenschaften des gefundenen Bosons, die mit den Eigenschaften seiner Zerfallsprodukte allenfalls nur mittelbar zu tun haben, sind dessen Lebensdauer und Vorkommen bzw. Produzierbarkeit.

    > Die komplette Standardtheorie (deren letztes Puzzleteilchen, das Higgs Teilchen noch gefehlt hat) ist damit soweit abgeschlossen, dass sie endlich in sich konsistent das Verhalten der Teilchen erklären kann.

    Wenn schon von “Standardtheorie” die Rede ist (gemeint ist hier sicherlich die Theorie der elektro-schwachen Wechselwirkung), kann diese wohl seit den 1960-er Jahren als abgeschlossen gelten.

    Separat zu betrachten ist, ob und welche bestimmten Werte für im Rahmen dieser Theorie definierte Größen bzw. Parameter sich aus vorhandenen Beobachtungen ermitteln lassen; also ob ein bestimmtes, auf der “Standardtheorie” basierendes Modell die Realität korrekt beschreibt.

    Mit der wahrscheinlich kürzlich erfolgten Ermittlung eines bestimmten Wertes der Masse des Higgs-Bosons (das von vornherein Bestandteil der “Standardtheorie” war und dessen Masse von vornherein einen bestimmten Wert haben musste, auch wenn dieser ein freier Parameter war) ist auch das entsprechende, wahrscheinlich korrekte Modell nun weitgehend abgeschlossen.

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    Mai 16, 2013

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