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Als Ökonom hat Paul Krugman die Theorie des internationalen Handels revolutioniert, als Kolumnist der New York Times profilierte er sich als scharfer Kritiker der Bush-Regierung. Heute wurde der 55-jährige mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet.
Niels aus dem Moore hat vor wenigen Wochen (zu einer Zeit, in der die aktuelle Krise an den Finanzmärkten noch in weiter Ferne lag) mit Paul Krugman gesprochen. Wir veröffentlichen das Gespräch mit freundlicher Genehmigung unseres Partners Cicero.

Barack Obama ist der demokratische Kandidat für das Weiße Haus. Die New York Times, für die Sie als Kolumnist arbeiten, hatte eine Wahlempfehlung für Hillary Clinton ausgesprochen. Auch sie selbst haben in ihren Beiträgen Clinton unterstützt und Obama kritisiert. Warum?

Hauptsächlich wegen seiner Positionen in der Gesundheitspolitik. Die Einführung einer garantierten Gesundheitsversorgung sollte das Kernstück eines demokratischen Regierungsprogramms sein. Obama beabsichtigt aber nur eine halbherzige Reform und er hat Clintons umfassende Pläne einer garantierten Gesundheitsversorgung für alle Bürger von rechts angegriffen. Ich glaube nicht, dass Obama eine wirklich progressive Agenda verfolgt.

Im Zentrum ihres neuen Buchs steht die Zunahme der ökonomischen Ungleichheit in den USA.

Warum ist das für Sie so ein großes Problem? Viele Ökonomen betonen ja, dass Ungleichheit ein Ansporn sei und zu mehr Wachstum und Wohlstand führe. Es kommt immer darauf an, welches Ausmaß die Ungleichheit erreicht. Woodrow Wilson hat das Problem einmal sehr klar artikuliert: „Wenn es in diesem Land Männer gibt, die reich genug sind, um die Regierung der Vereinigten Staaten zu besitzen, dann werden sie sie besitzen.” In Gesellschaften mit extremer ökonomischer Ungleichheit werden politische Institutionen ausgehölt und politische Entscheidungen verzerrt.

Wir sehen das heute beispielsweise daran, wie schwer es ist, die Manager von Hedgefonds der normalen Einkommensteuer zu unterwerfen. Ihr Einfluss hat dazu geführt, dass sie den größten Teil ihres Einkommens zum günstigen Satz der Kapitalertragsteuer von 15 Prozent versteuern dürfen, während andere Großverdiener ihr Einkommen mit 35 Prozent versteuern müssen. Die Frage ist: Wie konnte es dazu kommen und warum wird dieses Schlupfloch nicht sofort geschlossen?

Der politische Prozess wird durch zu große ökonomische Ungleichheit korrumpiert.

Wie lautet die Antwort?

Wahlkampfspenden. Die Spenden einiger weniger extrem reicher Männer machen einen großen Teil der Kriegskasse aus, auch bei den Demokraten. Und die Rücksichtnahme auf die entsprechenden Interessen in den Programmen und der späteren Regierungspolitik zeigt eindeutig, dass der politische Prozess durch zu große ökonomische Ungleichheit korrumpiert wird.


Beweist Barack Obama nicht das Gegenteil? Er sammelte von vielen kleinen Spendern kleine Beträge ein und konnte so seine parteiinterne Rivalin Clinton überrunden.

Die Wahrheit ist leider etwas weniger glamorös als diese Legende. Es ist zweifellos richtig, dass Obama eine sehr große Zahl von Spendern mobilisiert. Aber die Höhe der Spenden variiert extrem. Und die entscheidende Anschubfinanzierung, die ihm überhaupt ermöglicht hat Berater einzustellen und ins Rennen zu gehen, kam von einer ganz kleinen Zahl extrem großzügiger Spender. Es ist fraglos so, dass Obama und nicht Clinton der Kandidat der Hedgefonds-Manager und der Wall Street ist.

Ich sage das nicht, um ihn schlecht zu machen. Natürlich hat er viele kleine Spender, Clinton übrigens auch. Aber so lange Wahlkampfspenden ein großer Faktor der amerikanischen Politik sind, solange werden die Interessen der Reichen und Begüterten systematisch bevorzugt werden. Die Ungleichheit in den USA ist einfach so groß, dass für einen Politiker die Unterstützung durch die Reichen aus dem obersten Prozent der Einkommensverteilung einfach mehr wert ist als kleine Spenden von mehreren Millionen Normalbürgern.

Sie erklären die Zunahme der Ungleichheit mit politischen Entscheidungen, mit Umverteilung von oben. In Europa dominiert die Erklärung, dass die Kräfte der Globalisierung, freier Welthandel und der Eintritt ehemals sozialistischer Volkswirtschaften in den globalen Wettbewerb die Ungleichheit verstärke.

Der wichtigste Kanal, über den sich die Globalisierung und technischer Fortschritt auf die Ungleichheit auswirken, ist Bildung. Aber Qualifikationsunterschiede, die sich im Einkommen als so genannte Bildungsprämien niederschlagen, können in den USA nur rund ein Drittel der Zunahme an Ungleichheit erklären. Die rasante Zunahme der Ungleichheit spielt sich hier ja vor allem innerhalb der obersten zehn Prozent der Einkommensverteilung ab. Diese Leute sind alle gut ausgebildet.

Die Kluft hat sich vor allem zwischem Vorstandschefs und Lehrern geöffnet, weniger zwischen Lehrern und Arbeitern am Fließband. Diese Entwicklung in den USA ist weltweit einzigartig. Und sie ist nicht das Ergebnis der unsichtbaren Hand des Marktes. Sie trägt eine politische Unterschrift. Vergleichbar ist nur, wenn auch in kleinerem Umfang, die Entwicklung in Großbritannien unter Margaret Thatcher. Diese Parallele zeigt, dass es um bewußte Entscheidungen der Politik geht, um Normen und Institutionen, nicht um das Wirken anonymer Marktkräfte.

Die Bush-Regierung ist nur noch wenige Monate im Amt. Viele Europäer, und offenbar auch immer mehr Amerikaner, fragen sich heute, wie der amtierende Präsident überhaupt ins Weiße Haus gelangen konnte. Selbst der republikanische Kandidat John McCain vermeidet Auftritte mit dem Amtsinhaber. Es breitet sich das Gefühl aus, bei dessen Wahlsiegen habe es sich um einen politischen Unfall gehandelt. Sie widersprechen dem vehement und behaupten in ihrem neuen Buch, Bushs Amtszeiten seien die logische Konsequenz einer sehr lange währenden Entwicklung.

So ist es. Die Amtszeiten von George W. Bush sind der Kulminationspunkt des „movement conservatism”, einer konservativen Bewegung, die ihren Einfluss über 40 Jahren konsequent ausgebaut hat. Die Politik von Bush fällt keineswegs aus dem Rahmen, sie steht in der Tradition dieser Bewegung.

Ein Beispiel: Der Irak-Krieg und seine Begründung hat die Leute geschockt, aber schon die Reagan-Regierung hat unautorisierte Stellvertreterkriege in Lateinamerika geführt und heimlich Waffendeals mit dem Iran gemacht, um den Krieg in Nicaragua führen zu können. Ein weiteres Beispiel ist Nixons heimliche Bombardierung von Kambodscha während des Vietnam-Krieges. Die Außenpolitik der Bush-Regierung war zwar noch weitaus desaströser als diese Vorgänge, sie ist aber Teil dieser politischen Tradition.

Und in der Innenpolitik?

Auch hier hat Bush nahtlos dort angeknüpft, wo Nixon und Reagan aufgehört haben. Egal ob es um Machtmissbrauch und das Aushebeln demokratischer Kontrollen oder um seine Steuersenkungen zu Gunsten der Reichen geht. All das kam nicht wirklich überraschend. Wir hätten es schon bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 besser wissen können.

Beobachter haben immer wieder die Paradoxie hervorgehoben, dass die untere Mittelschicht und die Arbeiter durch ihr Votum für Bush und die Republikaner mehrfach gegen ihre eigenen ökonomischen Interessen gestimmt haben. Wie erklären Sie die Wahlerfolge des „movement conservatism”?

Mir war der entscheidende Faktor lange nicht bewusst, bis ich schließlich mit Politologen diskutierte und mir daraufhin viele Wahlstatistiken sehr genau angeschaut habe. Der entscheidende Faktor der politischen Entwicklung der USA seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Rassenfrage. Die Frage ist doch: Wie konnte das Land von John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson zum Land von George W. Bush werden? Die Antwort lautet: Weiße Südstaatler wechselten von den Demokraten zu den Republikanern.

Larry Bartels, ein Kollege aus der Politikwissenschaft in Princeton, sagt immer wieder, dass wir alles vergessen sollen, was üblicherweise an Begründungen angeführt wird – etwa, dass die weiße Mittelklasse den Demokraten nicht genug Härte zutraut, gegen Kriminalität oder in internationalen Konflikten. Das Gegenteil ist richtig: Al Gore und John Kerry haben in den vergangenen zwei Präsidentschaftswahlen jeweils mehr Stimmen aus der weißen Mittelschicht außerhalb der Südstaaten erhalten, als Kennedy im Jahr 1960.

Die republikanische Wende des Landes geht einzig und allein darauf zurück, dass Weiße in den Südstaaten als Reaktion auf die Bürgerrechtsgesetze der Demokraten begannen, für die Republikaner zu stimmen. Das war der politische Preis für die Gleichstellungsgesetze, den Civil Rights Act von 1954 und den Voting Rights Act von 1955, mit denen die Demokraten zur Partei der Bürgerrechte wurden. Die Ursünde Amerikas, unsere Geschichte von Sklaverei und rassistischer Unterdrückung, hat bei dieser Wende von den Demokraten zu den Republikanern eine große Rolle gespielt.

In Deutschland haben wir uns das Wahlverhalten bisher mit weitaus positiveren Eigenschaften der Amerikaner erklärt – etwa ihrem Optimismus. Der Washington-Korrespondet des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel” hat die These formuliert, die Bürger ihres Landes würden „rechts” von ihren derzeitigen Interessen wählen, weil sie davon ausgingen, bald selbst zu den Wohlhabenden im Land zu zählen – und sie sich dann über höhere Steuersätze ärgern würden.

Die Aufstiegschancen sind in Westeuropa deutlich größer als in den USA. Aber wir pflegen den Mythos, dass es in den USA jeder vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen kann.

Vielleicht haben einige Wähler diese Hoffnung, aber die Realität der vergangenen Jahrzehnte spricht eine andere Sprache. Es gibt eine Masse an empirischen Studien zur sozialen Mobilität. Das Ergebnis: Die Aufstiegschancen sind in Westeuropa deutlich größer als in den USA. Aber wir pflegen den Mythos, dass es in den USA jeder vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen kann. Und die Bürger glauben offenbar stärker dem Mythos als harten Fakten. Es heißt, in Umfragen würden 19 Prozent der US-Bürger angeben, dass sie zum reichsten Prozent der Einkomensverteilung gehörten! Es rechnen auch viel mehr Leute damit, dass sie irgendwann Erbschaftsteuer zahlen müssen, als es tatsächlich der Fall ist.

Diese Phänomene können aber nur einen kleinen Teil des Wahlverhaltens erklären. Die drei Harvard-Ökonomen Alberto Alesina, Edward Glaeser und Bruce Sacerdote haben die Frage, warum der Wohlfahrtsstaat in Amerika kaum existiert, umfassend und sehr sorgfältig analysiert. Sie zeigen, dass die Gegner von mehr Umverteilung und stärkerer sozialer Sicherung in Wahlkämpfen immer wieder auf rassistische Rhetorik gesetzt haben. Denn es ist klar, dass mehr Umverteilung vor allem den Minderheiten, aufgrund ihres hohen Anteils an der armen Bevölkerung, zu gute käme.

Alle Umfragen sprechen dafür dass der Demokrat Barack Obama sehr gute Chancen hat, als nächster Präsident ins Weiße Haus einzuziehen. In ihrem Buch, das in der deutschen Fassung den Titel „Nach Bush” trägt, gehen Sie aber weit über die kommende Wahl hinaus und prophezeien gleich den Beginn einer demokratischen Ära. Was macht sie so sicher, dass der Wahlsieg von 2004 „das letzte Hurra der konservativen Bewegung” war?

Zwei langfristige und sehr grundlege Entwicklungen wirken sich zu Gunsten der Demokraten aus. Erstens ist die amerikanische Bevölkerung in den vergangenen Jahren immer vielfältiger geworden. Das Land wird weniger von Weißen dominiert als früher, die Wählergruppen mit lateinamerikanischem und asiatischem Hintergrund werden immer größer. Kalifornien ist wie immer ein guter Gradmesser für den Wandel unseres Landes. Kalifornien war früher ein sehr konservativer Staat, dort wurde Reagan zum Gouverneur gewählt, und aus Südkalifornien kamen sehr weit rechts stehende Kongressmitglieder.

Heute ist Kalifornien sehr liberal, wenn auch mit einem komischen Gouverneur. Wenn man nach den Gründen fragt, kommt man am starken Wachstum der hispanischen Minderheit nicht vorbei, die tendenziell für die Demokraten stimmt. Hinzu kommt, dass wir Amerikaner heute zum Glück weniger rassistisch sind. Noch 1988 schaltete George Bush Vater im Präsidentschaftswahlkampf eine Fernsehwerbung mit eindeutig rassistischen Untertönen. Das wäre heute nicht mehr möglich.


In Deutschland gibt es aufgrund von Aussagen im Nominierungswettlauf die Sorge, dass eine demokratische Administration die Epoche des Freihandels beenden und eine Phase des Protektionismus beginnen könnte.

Ich kann mir vorstellen, dass das von außen danach aussieht. Es wird aber nicht zu einer Kehrtwende in der Handelspolitik kommen. Die demokratische Partei ist sehr international orientiert, sie glauben an Verträge und das Einhalten internationaler Vereinbarungen. Bestehende Handelsabkommen werde daher bestimmt nicht aufgekündigt. Die ökonomischen Kosten wären einfach zu groß. Es gibt keinen Grund für Alarm.

Aber auch keine Hoffnung auf weiteren Forschritt. Oder würde ein demokratischer Präsident die Doha-Runde wiederbeleben?

In dieser Frage wird es bestimmt keinen Fortschritt geben. Ein Republikaner im Weißen Haus würde durch den demokratischen Kongress blockiert. Und ein demokratischer Präsident würde sein politisches Kapital nicht für die Doha-Runde aufs Spiel setzen. Das ist aber kein Drama. Ein Großteil der berechneten Handelsgewinne der Doha-Runde würde entstehen, wenn Europa sich zur Aufgabe seiner Agrarsubventionen durchringen könnte. Das ist Europas Entscheidung.

Was hat Sie eigentlich motiviert, die Hochschule zumindest teilweise zu verlassen und ihren exzellenten Ruf als Ökonom durch angriffslustige Kolumnen aufs Spiel zu setzen?

Vielleicht hat es etwas mit meinem fortgeschrittenen Lebensalter zu tun? Spitzenforschung wird ja normalerweise von jungen Leuten gemacht. Und 55-jährige Akademiker wie ich werden üblicherweise Dekan oder fangen an, als Berater in der Wirtschaft richtig Geld zu verdienen. Mir erschien das Schreiben eine sehr sinnvolle Wahl. Dass man in der zweiten Hälfte der Karriere über die Wissenschaft hinausgeht, ist doch ein normaler Vorgang. Schauen Sie sich Joseph Stiglitz an, ein großer Theoretiker, der sich jetzt vor allem in Kampagnen für die Entwicklungsländer engagiert. Oder nehmen Sie Ökonomen wie Larry Summers oder Jeffrey Sachs. Wir haben inzwischen alle den Elfenbeinturm verlassen, um die Welt ein bisschen zu verbessern.

Das Interview führte Niels aus dem Moore