Wenn der Dachstuhl brennt, dann ist der Wasserschaden im Keller erst mal nicht so wichtig. Nachdem ich jetzt die schlimmsten Auswirkungen meiner Strahlenkrankheit von letzter Woche hinter mir habe, habe ich auch schon fast nebenbei die erste Woche ohne Immunsystem abgearbeitet. Das ist die Zeit nach der Transplantation, wo das alte Immunsystem schon zerstört ist, das neue, transplantierte, aber noch nicht seinen Dienst aufgenommen hat. In der Zeit ist man notorisch anfällig gegen… alles und daher in besonderer Isolation. Ich habe davon aber bislang noch gar nicht so richtig viel mitbekommen, weil ich eben noch mit den Auswirkungen der Strahlenkrankheit zu kämpfen hatte. Ich kann derzeit nichts essen, wegen einer weiteren ausgewachsenen Mukositis trotz penibler Prophylaxe und auch das Sprechen ist eher nur in Ausnahmesituationen möglich. Aber in die Versuchung, irgendwas essen zu wollen komme ich sowieso nicht, weil sich durch die Strahlenkrankheit bei mir sofort der Magen umdreht, wenn ich nur an feste Nahrung denke. Meine 1.500 kCal/Tag bekomme ich direkt in die Blutbahn gespritzt, was neben den ganzen anderen Infusionen aber nur einen Teil meines täglichen Medikamentenkonsums ausmacht.

Mir geht es eigentlich ganz gut, was aber vor allem an dem Morphintropf hängt, der permanent mit ca. 3 mg/h nebenbei läuft und bei Bedarf manuell erhöht werden kann. Vorgestern hatte ich nach dem ersten Einrichten des Morphins ein richtig schönes Opium-High, was aber mittlerweile zu einem diffusen Hintergrundrauschen zurückgefallen ist. Ansonsten geht bei mir momentan nur immer so eine Sache nach der anderen. Ich schlafe viel, vegetiere ansonsten im Dämmerzustand vor mich hin und warte darauf, dass mein neues Immunsystem anfängt, seine Arbeit aufzunehmen. Das sollte in einigen Tagen (man sagt so ca. 2 Wochen nach der Transplantation) so weit sein. Bis dahin wird das neue Immunsystem auch noch durch Chemotherapien und Immunsuppressiva künstlich klein gehalten, damit es nicht mit der Arbeit anfängt, bevor es sich darüber im Klaren ist, dass es sich nun in einem neuen Körper befindet, den es besser nicht zerstören sollte, wenn es selber überleben will.

Tja, ansonsten gibt es von hier eigentlich nicht mehr viel zu erzählen. Naturwissenschaftlich bzw. physikalisch Interessantes passiert gerade nicht mit mir. Bzw. alles das, was passiert sind nur die Auswirkungen von Mechanismen, die ich hier bereits in eigenen Artikeln beschrieben und mich damit darauf vorbereitet hatte. Ich hatte noch Besuch von der Medizinstudentin in ihrem PJ, die mich zur Strahlentherapie begleitet hat. Sie hatte mich mal gefragt, ob ich ihr ein wenig Nachhilfe in Strahlenmedizin geben könnte, weil das wohl in ihrem Studium recht kurz gekommen ist, sie aber trotzdem noch darüber geprüft wird. Ja klar, Physik-Nachhilfe für Mediziner ist ja quasi mein Steckenpferd und wenn ich hier neben Rumliegen auch noch was Sinnvolles tun kann… umso besser.

Rückblickend bin ich heilfroh, die Idee mit der Neutronentherapie nicht weiter verfolgt zu haben. Wenn ich mir vorstelle, in meinem aktuellen Zustand in einem Krankentransport von München nach hier zu sitzen… ähem … nein. Wobei die Idee definitiv nicht vom Tisch ist. Letztens bei der Chefarztvisite haben wir noch darüber philosophiert, ob wir nicht mal für ein kombiniertes Forschungsprojekt zwischen der Uniklinik und dem FZ Jülich zur Neutronentherapie für Leukämiepatienten einen entsprechenden Antrag stellen sollten. Das würde sich natürlich nur lohnen, sobald bei uns in Jülich der Aufbau einer Neutronenquelle so konkret wird, dass in den nächsten 5 Jahren mit einer Einsatzbereitschaft zu rechnen ist … ja aber dann wäre das eine echt tolle Idee und eine super medizinische Ergänzung zu unserem eigentlich rein naturwissenschaftlich geprägten Portfolio. Ok, ok, ich gucke jetzt erst mal, dass ich meine Leukämie geheilt bekommen und dann kümmer ich mich um die von anderen Leuten. Nur, wenn man die entsprechenden Menschen sowieso jeden Tag sieht, dann kann man ja schon mal für die Zukunft planen, oder nicht?

 

Alle Leukämie-Tagebuch Einträge

Letzter Tagesbucheintrag – nächster Tagesbucheintrag

Strahlenphysiker hat Strahlenkrankheit – Blog 15 – Tag 2Strahlenphysiker hat jetzt Leukämie – Blog 17 – Tag 16

Kommentare (23)

  1. #1 RPGNo1
    15. November 2018

    Meine 1.500 kCal/Tag bekomme ich direkt in die Blutbahn gespritzt

    Sind pürierte Bananen darunter? 😉

    und wenn ich hier neben rumliegen auch noch was sinnvolles tun kann … umso besser.

    Gute Einstellung. Die ich in deinem geschwächten, halb-deliriösen Zustand um so bemerkenswerter finde.

    Weiterhin gute Besserung!

  2. #2 Tim
    15. November 2018

    Freut mich, dass … äh … Du Dich jetzt genauso übel fühlst, wie ich anfangs gedacht habe, dass Du Dich mal fühlen würdest. 🙁

    Spaß beiseite. Tut mir echt Leid, dass es Dir momentan so mies geht. Andererseits ist das ja ein Zeichen dafür, dass alles wie geplant läuft. Das ist eben die andere Seite der Medaille.

    Das Leben ohne Immunsystem ist kein Zuckerschlecken. Ich erinnere mich, dass ich mir bei sehr niedrigen Leukozyt-Werten einige Zeit lang das teuerste Medikament in die Bauchdecke spritzen musste, das ich jemals bekommen hab (übrigens basierend auf Gentechnik, wir werden alle sterben!). Einmal ist mir eine Spritze auf den Boden gefallen – gleich ab in den Mülleimer damit. 1.500 Mark futsch!

    Bald bist Du wieder der Alte und kannst wieder über die schönen Dinge schreiben, die man mit Strahlen so anstellen kann!

  3. #3 Aginor
    15. November 2018

    Yay, endlich mal high von Opiaten, und das auch noch legal! 😀

    Inzwischen geht es Dir richtig schlecht und Du schreibst trotzdem noch einen sauberen Beitrag mit Witz und positiver Sicht auf die Zukunft. Sehr gut, weiter so!

    Gruß
    Aginor

  4. #4 Sarah Freytag
    Berlin
    15. November 2018

    “..und kannst wieder über die schönen Dinge schreiben, die man mit Strahlen so anstellen kann!”

    Also ich finde, dem Strahlenphysiker das Leben zu retten fällt definitiv unter die schönen Dinge. 😀

    Ich wünsche weiterhin gutes Durchhaltevermögen. Bald ist es hoffentlich geschafft!

  5. #5 Peter K
    15. November 2018

    Hallo Tobias,
    ich empfehle mal ein bißchen Autosuggestion. Schaust Du hier: https://www.psychotipps.com/Autosuggestion.html
    “Es geht mir in jeder Hinsicht von Tag zu Tag immer besser und besser” (Emile Coué)
    LG
    Peter

  6. #6 Dr. Webbaer
    15. November 2018

    Schonen Sie sich bitte bestmöglich, nach der Transplantation, es wird schon wieder.
    Nicht zu viel denken,
    MFG
    Dr. Webbaer

  7. #7 Thomas
    Chemnitz
    15. November 2018

    Alles Gute dem Physiker von einem Physiker, der die Strahlentherapie schon hinter sich hat. Immerhin kann man sich selbst danach als Musterbeispiel für den Nutzen der Kernphysik verkaufen. 😉
    Du schaffst das! *Daumen drück*
    LG Thomas

  8. #8 gedankenknick
    15. November 2018

    …was aber vor allem an dem Morphintropf hängt, der permanent mit ca. 3 mg/h nebenbei läuft und bei Bedarf manuell erhöht werden kann…

    Erinnert mich immer an eine Szene in “Scrubs”, wo der Patient den Arzt “J.D.” anspricht:
    Herr Doktor! Immer, wenn es mir schlecht geht und ich klingel, kommt keine Schwester. Aber dann geht es mir trotzdem besser!
    Das ist auch nicht der Klingelknopf, sondern der Zudosier-Knopf ihrer Morphinpumpe…
    Das erklärt so einiges…
    🙂

    Gute Besserung! Und immer dran denken – hohe Morphindosierungen machen als Nebenwirkung Verstopfung…. genau wie hohe Bananendosierungen.

  9. #9 Till
    15. November 2018

    ein richtig schönes Opium High

    Na wenigstens ein kleines highlight 😉

    Nur wenn man die entsprechenden Menschen sowieso jeden Tag sieht, dann kann man ja schon mal für die Zukunft planen, oder nicht?

    Das ist auf jeden Fall eine gute Idee – ich würde den Antrag sofort finanzieren!

    Weiter gute Besserung – ich drück’ die Daumen, dass das neue Immunsystem sich bald häuslich einrichtet und dann für die Unterkunft und Verpflegung auch mal arbeitet und die Pilze und anderen Mikroorganismen wieder raus wirft.

  10. #10 Thilo
    15. November 2018

    Alles Gute!

  11. #11 Spende bald
    15. November 2018

    Dachte früher so eine Spende wäre ein riesen Drama.
    Dann noch für einen Fremden.

    Jetzt wo ich durch diesen Artikel mich damit beschäftigt habe, werde ich definitiv mal das Ganze in Angriff nehmen und versuchen noch Weitere dafür zu gewinnen.

    Gute Besserung.

  12. #12 noch'n Flo
    Schoggiland
    16. November 2018

    In Abwandlung eines bekannten Zitates:

    Gib nie dem Tobi Obium, denn Obium haut Tobi um!

    Oder anders ausgedrückt:

  13. #13 Tobias Cronert
    16. November 2018

    @Spende bald: Vielen Dank. Glaub mir es gibt ein paar Fremde Menschen dort draußen, die sich allein schon über die Typisierung sehr freuen … und dann im Falle des Falles über eine wirkliche Spende noch viel mehr. … Danke, auch im Namen der zwei anderen Leute, die bei mir am Flur sitzen und auch gerade eine Spende bekommen haben.

    Ansonsten vielen Dank für die ganzen guten Wünsche.

    Das ist auf jeden Fall eine gute Idee – ich würde den Antrag sofort finanzieren!

    Hey, dass ist doch mal ne tolle Aussage. Da kommt mir direckt wieder die Idee mit dem “Crowdfunde dein lieblings-Wissenschaftsprojekt” in den Sinn. Vielleicht werde ich das in zwei Jahren tatsächlich mal durchziehen 😉

  14. #14 Dominik
    16. November 2018

    Hallo Tobias,

    bisher war ich immer nur stiller Mitleser deines Blogs.
    Vor deiner Erkrankung und auch mit Begeisterung danach. Ich habe wirklich großen Respekt davor, dass du es weiterhin schaffst, regelmäßig zu bloggen.
    Ich hatte selbst vor ein paar Jahren eine 3 monatige, stationäre Chemo mit nachträglicher Bestrahlung.

    Ich kann derzeit nichts essen, wegen einer weiteren, ausgewachsenen Mukositis trotz penibler prophylaxe und auch das Sprechen ist eher nur in Ausnahmesituationen möglich.

    Dabei hatte ich mir eine orale Candidose eingefangen. Trotz vielen Spülungen mit Salbei und so ekligem Wurzelextrakt. Letztens Endes hat mir am Meisten das Spülen mit NaCl geholfen. (Einfach mit einem Kochsalzbeutel den Mund durchspülen.) Deutlich besser als alles andere. Vor allem auch, weil mich der Salbei und dieses rote Wurzelzeug recht schnell angeekelt haben.
    Vielleicht hilft dir das ja auch etwas.

    Ich wünsche Dir alles Gute für die nächsten Wochen.

    Beste Grüße
    Dominik

  15. #15 DasKleineTeilchen
    terra
    19. November 2018

    meine fresse, alter! deine zähigkeit und dein nie versiegender witz unter diesen umständen nötigt mir mit jedem weiteren post nur mehr und mehr an ehrlicher bewunderung ab. die letzten etappen bekommste auch noch rum, alles gute bis dahin und auf ein adäquat eingeheimtes immunsystem.

  16. #16 Laie
    19. November 2018

    Wünsche weiterhin gute und rasche Heilung!

    (Vielleicht unnötig der Hinweis, aber sicher ist sicher: Hoffe die PC-Tastatur (falls verwendet) ist unproblematisch, PC-Tastaturen und PC-Mäuse können eine Infektionsquelle sein:
    https://www.pressebox.de/pressemitteilung/hoffmann-krippner/Hygiene-in-Krankenhaeusern-und-Kliniken/boxid/376802
    )

  17. #17 Tobias Cronert
    19. November 2018

    Danke für die guten Wünsche und natürlich auch die guten Tips. Ich bin da immer sehr dankbar für Erfahrungswerte, von Leuten, die das schon mal gemacht haben. Merci

    Ansonsten: Ja, Tastatur und ähnliche Dinge sind durchaus ein Gefahrenherd, trotz regelmäßiger Desinfektion. Aber ich bin auch noch nicht so weit eine Touchscreen Tastatur zu verwenden. Da würde ich wahrscheinlich gar nicht mehr zum Schreiben kommen.

  18. #18 Alderamin
    19. November 2018

    @Tobias

    Weiterhin gute Besserung auch von mir. Wie sieht’s aus mit der Strahlenkrankheit? Wieder besser? Ich hoffe, die heilt komplett aus, ohne Folgen.

    Drücke Dir alle Daumen!

  19. #19 UMa
    19. November 2018

    @Tobias:
    Auch von mir gute Besserung.
    Die von Dir im Text angesprochen 2 Wochen sind nun (fast) ‘rum. Gibt es schon etwas zum neuen Immunsystem zu berichten?

    Auch von mir alles verfügbaren Daumen gedrückt!

  20. #20 Tobias Cronert
    19. November 2018

    Merci

    Ja, die Strahlenkrankheit ist mehr oder wenig ausgeheilt und im Blut gibt es erste Anzeichen, dass das neue Immunsystem anfängt zu arbeiten. Aber bei letzterem reichen die Anzeichen noch nciht aus um da definitiv den Dauemn draufzulegen und zu behaupten, dass das jetzt funktioniert.

  21. #21 UMa
    19. November 2018

    @Tobias: Das klingt super. Weiter so!

  22. #22 Spende bald
    21. November 2018

    Hallo.
    Freut mich zu hören, dass es bergauf geht, bzw. das schlimmste wahrscheinlich überstanden ist.

    Heute sind meine Wattestäbchen zur Typisierung gekommen.

    Wie so eine Typisierung von statten geht wäre doch mal einen Artikel wert 😀

    Nicht dass die dort Zellen von meinem letzten Hamburger Patty analysieren, weil mein Mund nicht sauber war !?

    Weiter gute Besserung

  23. #23 Spende bald
    21. November 2018

    Ausserdem konnte ich, als ich den Internetbogen ausfüllte bei Herkunft nur “Deutschland” auswählen.

    Also, ich gehöre jetzt nicht zu den wichtigtuerischen Heulsusen die unbedingt jede Minderheit repräsentiert sehen wollen (wie auch immer die sich das vorstellen), aber ich habe mütterlicherseits griechischen Migrationshintergrund.

    Spielt das eine Rolle für die Auswertung?

    Außerdem hab ich den Briefumschlag mit den Wattestäbchen in einen recht kalten Briefkasten geworfen.

    Können die Proben bei der Kälte irgendwie unbrauchbar werden?

    Hat da jemand Insider-Infos?