Plumplori (Nycticebus sp.)
Photo: Lionel Mauritson, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4849871 (Public Domain)

Ob gewollt oder ungewollt, Wissenschaftler treten oft als Bescheidwisser auf. Spannende, wichtige, lustige Fakten über die Welt sind Außenstehenden leichter zu vermitteln als der Theorienstreit, das Untersuchungsdesign und das Scheitern plausibler Ideen, die erst den Weg zu konkreten Forschungsergebnissen bereiten. Das gilt nicht nur für die allgemeine Öffentlichkeit. Auch Studierende sind es oft gewohnt, Fakten zu lernen, und verlangen schlicht nach mehr davon. Wer sie nicht bieten kann oder will, läuft Gefahr, nicht für voll genommen zu werden, auch unter Forscherkollegen. Als Ethiker bekomme ich das oft zu spüren. Das beständige Ringen um Anerkennung in einem faktenzentrierten Wissenschaftsbetrieb mag auch zu einem Teil erklären, weshalb manche Ethiker und Philosophen die Existenz moralischer Wahrheit verteidigen oder quasi-empirische Forschungsprojekte bevorzugen, wie die Untersuchung einer gegebenen Literatur. Daß da zum Beispiel einer etwas geschrieben hat, kann ja als Fakt durchgehen.

Doch im Zentrum unseres Selbstverständnisses als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sollte nicht das vermeintlich gesicherte Faktenwissen stehen, sondern die Methoden, die uns immer wieder zu neuen und besseren Erkenntnissen, Einfällen und – ja, Methoden führen. In der Ethik macht sich dieser Unterschied besonders scharf bemerkbar. Eine bestimmte Moral zu predigen, die man selbst für richtig hält, ist eine Sache. Etwas ganz anderes ist es zu zeigen, wie wir unterschiedliche moralische Überzeugungen erkennen, hinterfragen, begründen und trotz bleibender Differenzen und offener Fragen zu praktischen Entscheidungen gelangen können.

Methodische Ergriffenheit

Wenn ich über den Jahreszeitraum seit meinem letzten Freiburg-Aufenthalt zurückblicke, dann sehe ich auch, daß ich darin immer entschlossener die Methoden in den Vordergrund gerückt habe. Beispiel Lehre: Bei meinem Umweltethik-Grundlagenseminar für Landschaftsökologen im Wintersemester 2016/17 stellte ich nicht mehr einen Textekanon, sondern die Methodiken des Argumentierens und Schreibens in den Mittelpunkt. Beim entsprechenden Masterseminar im Sommersemester 2017 war es erstmals das Schema der ethischen Entscheidungsfindung nach Bleisch und Huppenbauer*, das sich jetzt auch in meinem Freiburger Kurs bewährt. Ebenfalls im Sommer 2017 bot ich zusammen mit der Anglistin Mascha Hansen das neuartige Seminar »Ökologische Utopien in Fiktion und Ethik« an. Darin erarbeiteten wir uns mit einer kleinen, aber hochengagierten Gruppe von Studierenden überhaupt erst umweltethische Interpretationen des Romans The Dispossessed* (neueste Übersetzung: Freie Geister*) von Ursula K. LeGuin – und des Disney-Animationsfilms Wall-E*. Stets ging es nicht in erster Linie darum, Fakten zu vermitteln, sondern Methoden der Analyse, Interpretation und fruchtbaren Diskussion zu üben.

Im Unterricht kommt es auf diese Weise immer wieder zu Momenten der Erkenntnis, die in Alltagsgesprächen mit Forscherkollegen leider vergleichsweise rar sind. Ich denke dabei zum Beispiel an das Zwischenfinale meines Freiburger Kurses letzten Dienstag. Die Studierenden hatten in Kleingruppen selbstgewählte moralische Fallbeispiele durchgearbeitet. Zuletzt rief ich eine sehr stille Gruppe auf, einerseits um mehr Studierende auf die Bühne des Unterrichtsgesprächs zu holen, andererseits mit der leisen Befürchtung, dieser Kurzvortrag könnte an Lampenfieber scheitern. Aber es kam anders: Eine kleine, unauffällige Studentin stand selbstbewußt auf, nahm ihre Notizen in die Hand und führte uns durch die Überlegungen ihrer Gruppe: Angenommen, ich wäre unheilbar an Krebs erkrankt, wäre es moralisch besser, Selbstmord zu begehen oder die Krankheit zu erdulden? Anfangs mußte ich andere Studierende um Ruhe bitten, die noch hörbar das vorige Thema diskutierten. Doch von Stichpunkt zu Stichpunkt wurde es stiller im Raum. Die Gruppe hatte ihr Fallbeispiel so einfühlsam, detailbewußt und dabei analytisch klar ausgedeutet, das sich geradezu existentielle Ergriffenheit breitmachte. In der Lehre die philosophische Methodenkompetenz zu betonen, reizt mich nicht zuletzt deshalb, weil sich Anfänger dadurch schnell zu interessanten Gesprächspartnern entwickeln.

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Das soll nicht bedeuten, daß mir Fakten keine Freude machen. Wußten Sie zum Beispiel, daß die niedlichen Feuchtnasenprimaten aus der Gattung der Plumploris (Nycticebus) zu den wenigen giftigen Säugetieren zählen? (Und dabei gucken sie so lieb!) Eine Drüse am Arm gibt ein Sekret ab, das in Verbindung mit Speichel zum Gift wird. Damit lecken sie sich das Fell ein und schützen sich so gegen Feinde. (Und dabei möchte man sie am liebsten gleich streicheln!) Soviel habe ich neulich im Leipziger Zoo gelernt.

Wie man das herausgefunden hat? Keine Ahnung. (Aber jetzt mal ehrlich: Sind sie nicht süß?)

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Kommentare (2)

  1. #1 Laie
    27. November 2017

    Interessant ist der Ansatz, ideologische Begriffe wie “Moral” an konkreten Beispielen festzumachen und zu untersuchen.

    Geht es darum, noch unbefangen an ein Thema ranzugehen zu können, ohne dogmatischen oder ideologischen Zwängen zu unterliegen?

    Durch Anpassung an den Erwartungswert erfolgt eine Ausrichtung – Wenn nun dieser Erwartungswert wegfällt, kann dann Orientierungslosigkeit eintreten, oder sich der Geist frei entfalten bzw. Wissen schaffen?

  2. #2 Philipp P. Thapa
    27. November 2017

    @ Laie:

    Ja, es geht erst einmal darum, sich von eigenen Werturteilen distanzieren zu können und zu verstehen, daß andere Menschen aus guten Gründen zur anderen Urteilen kommen. Und dann können wir fragen, wie genau die Begründungen aussehen, ob sie in sich stimmig sind und vielleicht schon in den Voraussetzungen, auf denen sie beruhen, Gemeinsamkeiten liegen, die uns einander näherbringen.