Dieser Roman ist bereits Kult. Science Fiction vom Feinsten und es kommt nicht von ungefähr, dass sich gerade Naturwissenschaftler für dieses Werk begeistern können.

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Einen großen Reiz dieses Buches macht es aus, dass es Stephenson gelingt eine neue Welt zum Leben zu erwecken. Anfangs ist der Leser etwas verwirrt. Denn der Autor schmeißt ihn nach einer kurzen Einführung – die man auch überlesen kann – mitten in das Geschehen hinein:
Man findet sich zum Ende des Jahres 3689 in der Haut von Erasmus wieder. Einem jungen Mann um die 20, der in einer klosterähnlichen Gemeinschaften lebt. Einem Math, das kurz davor steht, nach 10jähriger Abschottung für 10 Tage vorübergehend die Tore für die Welt da draußen, dem Extramuros, zu öffnen.

Und man befindet sich nicht auf der Erde, sondern auf Arbre. Einer Parallelwelt, in der die Geschichte einerseits anders verlaufen ist, aber dann doch nicht so anders, dass man nicht in den Ereignissen vertraute Elemente aus der eigenen Geschichte erkennt. Gleichzeitig ist uns Arbre ein paar tausend Jahre in der Entwicklung voraus.

Der technische Entwicklungsstand ist aber der gleiche wie der unserer Gesellschaft, weil die Zivilisation auf dieser Welt mindestens dreimal eine Blütezeit erreichte und dann kollabierte. Während des Kollaps wurden die wissenschaftlichen Einrichtungen und Bibliotheken geplündert. Nur unter großen Opfern gelang es den Gebildeten auf Arbre zumindest einen Teil des Wissens über die Jahrtausende zu retten. Als letzte Konsequenz und weil die politischen Mächte die misstrauisch beäugten Wissenschaftler/Philosophen/Mathematiker unter Kontrolle haben wollten, entstanden die weitestgehend abgeschotteten Klöster/Festungen/Ghettos. Die verschiedenen Math, die unterschiedlichen Ordern bzw. Fachrichtungen gewidmet sind.

Stephenson schildert diese fremde und doch seltsam vertraute Welt lebendig und mit Liebe zu Detail. Man lernt Erasmus Freunde kennen, seinen Mentor Fraa Orolo und die Riten, Pflichten und täglichen Arbeiten, die das Leben eines Wissenschaftler/Philosophen/Mathematikers in dieser Welt ausmacht.

Nach einiger Zeit merkt auch der Leser, dass in dieser Welt irgendetwas nicht stimmt. Die astronomischen Observatorien werden eines Tages auf Anordnung der politischen Kräfte Extramuros geschlossen. Was also gibt es am Himmel, dass die Wissenschaftler nicht sehen sollen? Und Fraa Orolo scheint mehr zu wissen, als er zugibt. Oder will er nur den jungen Raz – kurz für Erasmus – und seine Freunde schützen? Raz begibt sich schließlich auf eine Reise, die ihn um den halben Erdball führt, in dessen Verlauf er mehr als nur einmal dem Tod entkommt, und die schließlich im Weltall ihren Höhepunkt findet, weil dort des Rätsels Lösung liegt – und eine große Überaschung, welche Arbre für immer verändern wird.

Ich fand das Buch klasse und kann es eigentlich nur jedem naturwissenschaftlich interessiertem Leser empfehlen. Oder jedem, der mal was Anderes auf diesem Sektor lesen will. Es handelt sich hier um intelligente Science Fiction, in der die Science einen wichtigen Raum einnimmt. Auch die “Action” im Weltraum hat rein gar nichts mit epischen Raumschlachten zu tun. Stattdessen werden unsere Helden in einer Selbstmordaktion in Raumanzüge gesteckt, die als Miniraumanzüge fungieren, und dann mehr oder weniger einfach auf eine Rakete draufgeschnallt. Klingt nicht sehr bequem? ist es auch nicht.

Die Raumanzüge wurden übrigens nach Plänen konstruiert, die auf dem Rücken eines Gelehrten unter Einsatz seines Lebens aus einer brennenden Bibliothek nach der letzten Plünderung vor ein paar Jahrhunderten gerettet wurden.

Anathem ist definitiv kein 0815 Hollywood-Beststeller, indem atemlos von Handlung zu Handlung und Action und Action geeilt wird. Das heißt nicht, dass das Buch langweilig ist. Ganz im Gegenteil. Aber bei Stephenson nehmen die Überlegungen und Diskussionen der beteiligten Wissenschaftler unteinander ebenfalls einen breiten Raum ein.

Z.B. wird ganz zu Anfang geschildert wie zwei junge “Mönche” ein verbotenes Kraut verbrennen und dabei die Hypothese testen, ob man Feuer mit Gegenfeuer eindämmen kann. Was damit endet, dass der Gegenfeuerring, der das Gegenfeuer, welches das ursprüngliche Feuer eindämmen sollte, völlig außer Kontrolle gerät und alle “Mönche” und “Nonnen” vereint versuchen zu verhindern, dass ihnen alles abbrennt. Stephensons humorvolle und lebendige Erzählweise verhindert das Abgleiten in eine staubtrocken Philosophiestunde.

Der wissenschaftliche vorgebildete Leser wird sich daran erfreuen, das eine oder andere wissenschafts-philosophische Konzept in neuem Gewand wiederzufinden. Wenn sich beispielsweise während einer hitzigen Diskussion jemand auf Diaxs Rechen Gardan’s Steelyard beruft und im Verlauf der Beschreibung des Konzepts der Leser Ockhams Rasiermesser erkennt. Der nichtwissenschaftliche Leser wird das zwar nicht merken, aber dennoch das Konzept begreifen. Er könnte also sogar im Vorbeigehen was über wissenschaftliches Denken lernen.

Manche Physiker haben sogar ihren Blog nach Konzepten aus Anathem benannt 😉

Leider ist das Buch bislang nur auf Englisch erschienen. Ich lese ja nun schon gerne und viel auf Englisch, aber der 800 Seiten Wälzer war auch für mich recht schwer. Stephenson hantiert viel mit eigens für diese Welt erfundenem Vokabular und gleichzeitig einer etwas altertümlichen Sprache. Als Nichtmuttersprachler war das für mich teilweise sehr ermüdend, weil ich über mir unbekannte Worte stolperte, die ich im Anhang nachschlagen wollte, nur um noch mal ein englisches Wörterbuch zu Rate zu ziehen.

Leser, die nicht so firm im Englischen sind, sollten also lieber auf die deutsche Ausgabe warten.

Aber nun lasse ich mal den Autor selbst zu Wort kommen und sein eigenes Buch vorlesen:

“Anathem” ist Teil eines richtigen Kulturphänomens.

Ich empfehle daher mal die Long-Now-Foundation – Anathem, die sich mit der Frage beschäftigt: Wie wollen wir unser Wissen für die kommenden Jahrhunderte und Jahrtausende bewahren. Ach und hier gibt es auch einige Goodies zum Buch. Einen Trailer und Videos zu Projekten, deren Konzepte sich auch im Buch wiederfinden.

Es gibt sogar inzwischen Musikstücke, die von Anathem inspiriert wurden (Mit Kostproben). Denn in dem Buch werden Hymnen beschrieben, die gesungene mathematische Beweise darstellen. Zu kaufen gibt es die CD hier.

Einen kleinen Kritikpunkt habe ich dann allerdings doch: Die Liebesgeschichte in einer Nebenhandlung hätte sich Stephenson sparen können. Es wirkt irgendwie leblos und aufgepfropft und nicht sehr glaubhaft, wenn sich zwischen Raz und einer Schwester des Math auf einmal eine Liebesbeziehung entwickelt, die getrennt und dann hinterher auf Umwegen wieder aufgefrischt wird und in Kitsch endet.

Kommentare (9)

  1. #1 Jörg
    März 6, 2009

    Ah der lang erwartete Post zum Buch zu meinem Blog 😉 Eindeutig mein Lieblingsbuch 2008 🙂

    Diax’s Rake ist aber nicht Occam’s Razor. Gardan’s Steelyard ist Occam’s Razor, und der Rake hat keine direkt Entsprechung, stammt aber auch von einem griechischen Philosophen.

  2. #2 Ludmila
    März 6, 2009

    Jepp, hast Recht. Ist korrigiert.

  3. #3 Alexander Knoll
    März 8, 2009

    Von der Long Now Foundation stammt übrigens auch die Millennium Clock [JPG], der die Uhren in Anathem nachempfunden sind.

  4. #4 Erchen
    März 9, 2009

    Der nichtwissentschaftliche Leser hat aber vielleicht andere Romane gelesen, z.B. R. A. Wilsons “Der Sohn der Witwe”, und ist daher mit “Ockhams Rasiermesser” vertraut. 🙂

  5. #5 jge
    März 10, 2009

    Danke, auf die Rezension habe ich schon lange gewartet :-).

    Es gibt immer Liebesgeschichten bei Stephenson — wieso sollte es diesmal anders sein? Und dass die “draufgepropft” ist, würde ich nicht unbedingt sagen: schließlich lebt Raz ja in Zeiten, in denen die Geschichte die kleinen persönlichen Geschichten in den Schatten stellt.

  6. #6 ali
    März 10, 2009

    Das Buch ist bei mir jetzt auf dem Tisch und war als Nachurlaubslektüre geplant. Kann ich deine Besprechung trotzdem lesen oder enthält sie Spoilers (wie heissen die eigentlich auf Deutsch?)?

  7. #7 Ludmila
    März 10, 2009

    @ali: Ich hab nur leichte Spoiler drin, hoffe ich.

    Ich hab mich eigentlich bemüht, es so zu machen wie diese Werbefilmchen für Kinofilme. Kurze Ausschnitte, die nicht allzu viel verraten, aber Appetit auf mehr machen 😉

    Aber vielleicht frag mal Jörg. wie schlimm meine Spoiler sind.

  8. #8 Jörg
    März 10, 2009

    Ne, keine Spoiler. Der Weltraum-Teil vielleicht minimal, aber in Wirklichkeit ist das spannende wie Stephenson das erzählt.

  9. #9 SciFi
    April 12, 2010

    Hört sich wirklich sehr interessant an. Aber bei 700 Seiten auf englisch und dazu noch mit einem eigenen Vokabular kanne s bestimtm sehr holprig werden.
    Habe mal versucht Paradise Lost zu lesen ….
    Link zur Webseite, die tiefbraunen Science-Fiction-Dreck bewirbt, wurde entfernt.