Methodische Analyse des Projektberichts „Evaluierung islamischer Kindergärten/-gruppen in Wien“

Die Debatte rund um die Evaluierung islamischer Kinderbetreuungseinrichtungen zieht sich seit mehr als einer Woche. Der Projektbericht wurde am 16.12.2015 über ein Facebookposting von Thomas Schmidinger zugänglich und ist hier auf der Website des Standards hinterlegt.

Forschungsprojekt? Projektbericht? Vorstudie?

Der Projektbericht spricht von einem qualitativ-empirischem Forschungsprojekt im Zeitraum von 1.7. bis 30.11.2015 (S. 1 des Projektberichts) zur Kurzdarstellung von Zwischenergebnissen und qualifiziert die Inhalte des Projekts im jetzigen Stadium als Vorstudie (S. 3 des Projektberichts): „Die Ergebnisse der Studie in dieser Phase können nur als Vorstudie betrachtet werden“. Die Vielfalt der unterschiedlichen Bezeichnungen auf den ersten Seiten verweist auf eine erste Inkonsistenz: Worum geht es in dem Bericht genau? Was genau ist dieses Projekt?

Gleich ob Forschungsprojekt oder Vorstudie: Jede sozialwissenschaftliche Forschung unterliegt gewissen Kriterien bzgl. Qualität, Transparenz, Strukturierung, methodischer Vorgangsweise und Ergebnisdarstellung. Eine Vorstudie kann zwar bzgl. der Fallzahl oder Reichweite eingeschränkt sein, muss aber diesbezüglich nachvollziehbar gestaltet werden. Diese wissenschaftlichen Kriterien gelten für jede Form von Projekt, gleich ob Vorstudie oder Studie, da sonst die Arbeit an sich angreifbar ist.

Der Zeitraum der Studie ist mit 5 Monaten, zwei davon die Sommermonate Juli und August, ambitioniert gesetzt. Im Projektbericht ist Univ.-Prof. Dr. Ednan Aslan als Projektleiter angegeben, auf die auf der Website des Projekt https://iis.univie.ac.at/forschung/laufende-projekte/evaluierung-islamischer-kindergaerten/ angegebene Mitarbeiterin MMMMag. Helena Stockinger findet sich im Projektbericht kein Hinweis – es ist nicht davon auszugehen, dass Univ.-Prof. Aslan den Bericht ohne die Mitarbeit anderer verfasst hat.

Anzahl der Kindergärten und –gruppen: In den Vorbemerkungen wird auf die Qualifizierung als Vorstudie verwiesen. Als Begründung wird die Anzahl von „150 Kindergärten und 450 Kindergruppen“ (S. 3 Projektbericht) angeführt. Ein Hinweis auf die Quelle dieser Zahlen fehlt. Welche Kindergärten und –gruppen in Wien gemeint sind, ob dies ausschließlich islamische Kinderbetreuungseinrichtungen sind, bleibt unklar. (Vgl. dazu https://www.wien.gv.at/statistik/bildung/tabellen/kth-kinder-zr.html)

Um qualifizierte Aussagen treffen zu können, wird geschrieben, wäre „eine auf drei Jahre aufgeteilte ausführliche Studie“ (ebd.) nötig. Diese Einschätzung teile ich meiner qualitativen Erfahrung nach. Eine reine Analyse einer einzigen Ausrichtung von Kinderbetreuungseinrichtungen, ohne die anderen Ausrichtungen zu analysieren, würde nur ein Stück des Gesamtbildes liefern.

„Anliegen des Forschungsprojektes“, S. 3 Projektbericht: Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist das Thema begrüßenswert. Wer mit Kinderbetreuungseinrichtungen in Wien zu tun hat weiß um die Vielzahl der neu gegründeten Gruppen in den vergangenen Jahren. (Ich war in Kindergruppen als Obfrau aktiv, auch ein Jahr im Vorstand des Vereins Wiener Kindergruppen und hatte als Schulobfrau im Rahmen einer Hortgründung in den letzten 2 Jahren viel mit der MA 11 und MA 10 zu tun.)

Aus der MA 11 war von unterschiedlichen Seiten schon länger zu hören, dass die enorme Zunahme an neugegründeten Kindergruppen, wie auch die unterschiedlichen Qualitäten der Betreuungseinrichtungen, brisante Themen sind. Auf der Website der Stadt Wien sind die Statistiken bis 2012/13 zugänglich, hier sind die Steigerungen bzgl. der Platzzahl entnehmbar. Die Tendenz wird sich bis 2015 fortgesetzt haben, aktuelle Zahlen liegen noch nicht vor. Ebenso wird auf der Ebene der Stadt schon des längeren über die Qualifikationen des Personals in den Einrichtungen und die unterschiedlichen Ausbildungen debattiert. Eine konstruktive, öffentliche Debatte wäre diesbezüglich wünschenswert, die unterschiedlichen Konzepte der pädagogischen Ausrichtungen sozialwissenschaftlich zu analysieren, wäre mehr als sinnvoll  – Kurz: Die Relevanz des Vorhabens ist gegeben.

Gerade aus dieser Perspektive heraus ist es schade, dass der vorliegende Projektbericht aufgrund seiner Qualität polemisierende und polarisierende Diskurse, wie in den letzten Tagen verfolgbar, (mit)ermöglicht. Das Thema verfügt über eine hohe gesellschaftliche Relevanz und zeigt einen hohen damit verbundenen Forschungsbedarf.

Forschungsfragen, S 4 oben, Projektbericht: Die Studie stellt in der ersten Forschungsfrage sehr allgemeine und grundsätzliche Themen in den Mittelpunkt, schränkt diese dann auf ausgewählte, islamische Kindergärten in Wien ein: „Welche pädagogischen Schwerpunkte, welche Werte und welche Inhalte bestimmen aus Sicht der Pädagoginnen, der Leitung und der Eltern die Bildungsarbeit in ausgewählten islamischen Kindergärten in Wien?“

Nachdem – wie im Folgenden ausgeführt – nicht klar wird welche Fälle mit welcher Begründung ausgewählt wurden, sind diese sehr allgemeinen Fragen durch die Art der Vorgangsweise nur bedingt beantwortbar und bräuchten eigentlich eine andere methodische Vorgangsweise. Die Forschungsfragestellung und die gewählte Methodik wiedersprechen sich hier auf methodologischer Ebene. Wenn mittels Leitfäden gearbeitet wird, müsste zumindest das Sampling, d.h. die Fallauswahl, genau dargestellt werden – siehe dazu weiter unten.

Die zweite Forschungsfrage „Inwieweit sind die theologischen und ideologischen Orientierungen der Trägervereine in der pädagogisch-religiösen Erziehung der Kinder sichtbar?“ bleibt indifferent und zieht weitere Fragen nach sich: Das Wort „inwieweit“ verweist darauf, in welchem Rahmen bzw. in welcher Weite theologische und Ideologische Orientierungen sichtbar werden. Das Wort „sichtbar“ ist dabei schwierig: Für wen sichtbar? Was genau meint Sichtbarkeit? Hier bräuchte es eine stärkere begriffliche Ausdifferenzierung, um die Forschungsanliegen exakter auszuführen.

Die Aspekte, wie sich die aufgeführten Orientierungen darstellen, äußern und im Alltag gelebt bzw. umgesetzt werden, fehlen in den Fragestellungen. Dies kann zwar als sprachliche Ungenauigkeit ausgelegt werden, ist aber gerade bei Forschungsfragestellungen zu vermeiden. Bei Forschungsfragestellungen geht es üblicherweise darum möglichst exakt zu erfassen, was beforscht werden soll und alle beforschten Aspekte zu beleuchten.

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Kommentare (18)

  1. #1 Dr. Webbaer
    Dezember 20, 2015

    Liest sich so, als ob da bereits auf Grund einer bloßen Überschau möglicher Handlungsbedarf entstanden und gemeldet worden ist bevor eine sogenannte Grounded Theory zum Zuge kommen könnte, die anscheinend den Zeitrahmen “drei Jahre” benötigt.

    Anderswo wird so etwas Ad-hoc-Meldung genannt, die insbesondere auch Gewinnwarnungen meinen kann; in diesem Fall ist von ‘relevanten Zwischenergebnissen’ die Rede und die Meldung derselben lässt sich kaum anders interpretieren, als dass da die “Hütte brennt”:
    -> https://images.derstandard.at/2015/12/10/ProjektberichtIslamischeKindergaertenErgebnissefinal-2.pdf (verantwortlich: Univ.-Prof. Dr. Ednan Aslan)

    Vielen Dank für Ihren Bericht und Ihre Einschätzung, Frau Mag. Andrea Schaffar,
    MFG
    Dr. W

  2. #2 Anderer Michael
    Januar 31, 2016

    Frau Schaffar,
    zum weiteren Verständnis brauche ich Ihre Hilfe.
    Folgt auf diese “Vorstudie ” noch eine weitere und genauere Ausarbeitung /Beschreibung der Methodik/Eegebnisse.?
    Oder war das alles, was die Gruppe um Prof.Aslan lieferte?

    Danke

    • #3 Andrea Schaffar
      Januar 31, 2016

      Angeblich kommt noch was. Ist für den Jänner 2016 angekündigt worden, bis dato ist mir noch nix untergekommen. Auf der Projekthomepage findet sich noch kein Hinweis. Bin zugegeben auch gespannt, ob sich da qualitativ noch was verbessert. 😉

  3. #4 Anderer Michael
    Januar 31, 2016

    Frau Schaffar,
    ich bin kein Sozialwissenschaftler ( sondern Arzt). Ich habe im Internet nachgelesen und zumindestens im Wirtschaftsbereich gefunden, was man unter einer Vorstudie versteht. Danach ist das wirklich etwas dürftig.
    Fragen:
    Zur Kindergruppe in Österreich. Ist damit das gemeint, worunter man in Deutschland eine Krabbelgruppe versteht?

    Sofern noch die Hauptstudie sich anschließt, kann man diese aufgrund der geringen Anzahl von untersuchten Kindergärten überhaupt als Studie bezeichnen (unabhängig von der Qualität)?. In der Medizin spräche man von Fallberichten.

    Danke

    • #5 Andrea Schaffar
      Februar 13, 2016

      Sorry für die späte Antwort: Kindergruppe in Österreich ist eine parallel zu Kindergärten bestehende Kinderbetreuungsform. Die Altersgruppen sind gleich: 0-6 jährige. Kindergruppen haben besondere Anforderungen (maximal 14 Kinder, andere Ausbildungsvoraussetzungen der BetreuerInnen – das wird aber grad diskutiert und geändert, eine bauliche Einheit, d.h. eine Wohnung ist eine Kindergruppe; sind privat geführt und haben unterschiedliche pädagogische Konzepte, die nicht zentral gesteuert werden). Ist eine Post-68er-Entwicklung, die ersten Kindergruppen waren selbstverwaltete Strukturen. In den vergangenen Jahren kam es im Bereich der Kindergruppen zu einem massiven Ausbau – sind billiger – ohne aber genügend auf die Qualitätssicherung zu achten. Die elternverwalteten Kigrus, d.h. die mit den ursprünglichen Gedanken, sind inzwischen in der Minderzahl.

      Bzgl. der Fallzahl: Sofern transparent gesampelt wird, kann man von einer qualitativen Studie sprechen. Ich erklär das in der Langversion ausführlicher, aber um nochmal kurz zusammenzufassen. Die Fälle stehen dann für bestimmte Konzepte im Feld. Diese Konzepte werden gesampelt. D.h. es wird nach allen Ausrichtungen im Feld gesucht und jede Ausrichtung muss im Sample repräsentiert werden. lg 🙂

  4. #6 Karsten
    Berlin
    Februar 14, 2016

    Offenbar eher vergleichbar mit der deutschen EIKita (Eltern-Initiativ-Kita, vulgo “Kinderladen”) bzw. mit der Betreuung durch eine Tagesmutter.

    • #7 Andrea Schaffar
      Februar 16, 2016

      Ja, genau. Nur dass unter dem Label Kindergruppe inzwischen kaum mehr die Elterninitativen zu verstehen sind, weil die in der Minderzahl sind. Ziemlich typisches Wiener Beispiel. Eine Lösung hinpfuschen, weil vermeintlich billig. Und dann draufkommen, sie ham jetzt den Scherbn auf (wie man bei uns sagt) und es hatscht an der Qualität. Dann kam die Studie, der Skandal und jetzt endlich ein paar Lösungsvorschläge. Viel zu spät halt und als Reaktion. Auch typisch Wien. 😉

  5. #10 Dr. Webbaer
    März 20, 2016

    Howdy!

    Und Bonus-Kommentar hierzu:
    “Kurzes Fazit nach dem ersten Reinlesen:
    – Klingt alles viel weniger dramatisch als in der ‘Vorstudie’.” (Quelle: Ihr Webverweis)

    Ham’Se mal die geradezu unglaubliche Härte erkannt, die aus einer Einschätzung wie dieser spricht?! :

    Die wachsende Präsenz der Muslime in Österreich stellt unsere Gesellschaft vor
    Herausforderungen, die in dieser Form in der jüngeren Geschichte einzigartig sind.
    […]
    Den Muslimen ihrerseits scheint die Opferrolle, in die sie sich gedrängt sehen, nicht unwillkommen zu sein, erlaubt sie ihnen doch ein Festhalten an dem Narrativ, dass sie in Europa deswegen unerwünscht seien und der Islam deswegen bekämpft werde, weil die hiesigen Gesellschaften die Überlegenheit des Islam nicht ertragen könnten. [Hervorhebungen: Dr. Webbaer]

    MFG
    Dr. Webbaer

  6. #11 Dr. Webbaer
    März 21, 2016

    PS:
    Ednan Aslan ist ein politischer Mensch und kann, ähnlich wie bspw. Bassam Tibi als (einer der wenigen) Reformatoren des Islam verstanden werden, er ist insofern auch politische Partei.
    Hat dieser Sachverhalt bei Ihrer Kritik an der Aslanschen Arbeit eine Rolle gespielt, liebe Frau Schaffar?

    • #12 Andrea Schaffar
      März 21, 2016

      Warum sollte das eine Rolle spielen? Das ist ein Scienceblog, kein Meinungsblog. Ich hab bei beiden Versionen der Studie – die Kritik am Abschlussbericht kommt noch – die wissenschaftliche Qualität beurteilt. Dass Aslan das Ganze veröffentlicht hat, um Politik zu machen, schlechte und polarisierende noch dazu, steht auf einem anderen Blatt. (Vermeintliche) Wissenschaft so zu instrumentalisieren, kann ich nicht gut heißen.

      Btw.: Alles was ich als “weniger dramatisch” eingestuft habe, stammt aus Aslans empirischen Daten. Alles was medial skandalisierend verwendet wird, stammt aus einem unfundiert erstellten – mit schleißiger Angabe von Quellen – Meinungsteil, der mehr als ein Drittel des Abschlussberichts einnimmt. Aslan weigert sich btw. öffentlich auf die Qualität der Arbeit einzugehen, deshalb ist meine Kritik am Abschlussbericht auch noch nicht online. Aber mehr dazu irgendwann diese Woche.

  7. #13 Dr. Webbaer
    März 21, 2016

    Dass Aslan das Ganze veröffentlicht hat, um Politik zu machen, schlechte und polarisierende noch dazu, steht auf einem anderen Blatt.

    Vielen Dank für die Antwort auf die obige Frage.

    Ihr Kommentatorenfreund harrt auf weitergehende (Studien-)Kritik Ihrerseits,
    MFG
    Dr. Webbaer

  8. #14 Surfer
    Wien
    März 24, 2016

    S.g. Frau Schaffar,

    Sie behaupten oben:

    “Die Überthemen, die sich in dem Teil „Auswertung“ ab S. 6 des Projektberichtes finden, werden höchstwahrscheinlich die Themenbereiche der Leitfadeninterviews abbilden. Dazu wurden Zusammenfassungen und Zitate aus den Interviews zugeordnet. Diese Vorgangsweise ist eine, die in sozialwissenschaftlichen Ausbildungen aus gutem Grund als unwissenschaftlich qualifiziert wird:” , worauf Ihre Begründung folgt:
    “Die individuellen Auswahlkriterien der auswertenden Person fließen so ungefiltert, ohne methodische Abstraktions- und Strukturierungsschritte, in die Daten ein. Die Ergebnisse bilden so die Sichtweise der auswertenden Personen ab und können keinen Anspruch darauf stellen aus den Daten hervorgegangen zu sein. ”

    Ich halte diesen Vorwurf für verfehlt und möchte Sie daher um folgendes bitten: Wenn dies – wie Sie es darstellen – tatsächlich die gängige Lehrmeinung ist, die Sie eventuell unhinterfragt übernommen haben, nennen Sie mir bitte möglichst konkret eine Belegstelle mit Seitenzahl in der Fachliteratur, wo ich diese Argumentation nachlesen kann.

    Also: Eine Belegstelle, in der explizit argumentiert wird, warum es “aus gutem Grund” unwissenschaftlich sei, in der eigenen Gliederung und Darstellung Themenbereiche von Leitfadeninterviews abzubilden und dazu Zusammenfassungen und Zitate aus den Interviews zuzuordnen.

    Vielen Dank.

    P.S. Mich verschlug es über den science.orf-Artikel, der Ihre Kritik in den Vordergrund stellt, hierher. Die von Ihnen kritisierte Studie kenne ich noch gar nicht und ich habe auch nicht vor, diese zu verteidigen.

    • #15 Andrea Schaffar
      März 25, 2016

      Das ist sozialwissenschaftliches Einmaleins.(Und btw.: Dass ich keinerlei gängige Lehrmeinungen “unhinterfragt” übernehme, sollte aus meinen Blogbeiträgen eindeutig hervorgehen. Qualitative Forschung zeichnet sich dadurch aus alle(s) zu hinterfragen, deshalb macht sie imho auch so viel Spaß.)

      Auf welcher Basis halten Sie den Vorwurf für verfehlt?

      Um dem folgen zu können, reicht logisches Denken: Die Stelle, die Sie anführen, ist eine Vermutung – deshalb das “höchstwahrscheinlich”. Die Arbeitsweise wird im Abschlussbericht ja nicht transparent gemacht, es wird nicht angeführt, ob bzw. welcher inhaltsanalytische Ansatz zum Einsatz kommt. Das allein ist schon Grund genug für das Label ‘Unwissenschaftlichkeit’. Eine Bakkalaureatsarbeit in dem Stil gebe ich zum Überarbeiten zurück bzw. bewerte ich negativ.

      Warum? Weil dies schlicht eine inhaltliche Zusammenfassung und keine wissenschaftliche Arbeit ist. Einen Text nach den eigenen, subjektiven Auswahlkriterien zusammenzufassen und mit Zitaten zu illustrieren, hat mit einer Inhaltsanalyse nichts zu tun. Dies bildet die subjektiven Wertungen der zusammenfassenden Person ab, macht die Auswahlkritierien nicht transparent, macht nicht klar was ausgewählt wurde und was vernachlässigt wurde.

      Inhaltsanalysen sind das systematische, strukturierte und nachvollziehbare Erfassen _aller_ Aspekte eines Textes. Qualitative Inhaltsanalysen – und diesen Anspruch stellt der Abschlussbericht methodisch ja – haben zusätzlich den Anspruch die Kategorien aus dem Text zu entwickeln und eben diesen Prozess zugänglich zu machen. Die Texte werden in mehreren Schritten, folgt man dabei z.B. einem der gebräuchlichsten Verfahren nach Mayring, paraphrasiert und abstrahiert. Die Prioritäten der auswertenden Personen sind dabei nicht ausschlaggebend, sondern die Strukturen im Material und die forschungsleitenden Fragen.

      Sozialwissenschaftliche Ausbildungen beinhalten, wie ich in anderen Blogbeiträgen ausgeführt habe, den Aspekt von eigenen Wertvorstellungen und Prioritäten abstrahieren zu lernen und sich am Material und dem wissenschaftlichen Vorgehen zu orientieren. Heißt: Ich kann Themen bearbeiten zu denen ich z.B. eine komplett andere Meinung habe und trotzdem inhaltsanalytisch die Textstrukturen und – inhalte herausarbeiten. Methoden und deren Umsetzung sind die Techniken, um dies zu gewährleisten. Meiner Erfahrung nach ist es dieser Aspekt, den Nicht-SozialwissenschafterInnen am schwierigsten nachvollziehen können, da dies nicht Teil üblicher Alltagspraxis ist. (Dazu habe ich vor ein paar Jahren diesen Blogbeitrag geschrieben.)

      Nachzulesen sind diese Ausführungen in diversen Einführungslehrbüchern in die Methoden: Quanti – Atteslander, Diekmann, Kromrey, usw.. Quali – Lamnek, Flick, Przyborski/Wohlrab-Sahr (imho eins der besten) und vielen anderen mehr.

      Hier schließt sich der Kreis: Und deshalb sind subjektive Zusammenfassung unzulässig und keine (sozial)wissenschaftliche Praxis. Außerhalb einer sozialwissenschaftlichen Arbeit ist dies ein üblicher Vorgang – z.B. Journalismus, in einer sozialwissenschaftlichen Arbeit haben subjektive Zusammenfassungen nichts verloren.

      Ihr Vorwurf der Verfehlung ist übrigens auch auf einen weiteren Aspekt zurückzuführen auf den man in der Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlicher Forschung oft trifft – interessanter Weise auch sehr häufig bei Menschen, die meinen wissenschaftlich zu arbeiten: Methodisches Arbeiten besteht immer aus mehreren Schritten. Die Erhebungsmethodik ist nur die halbe Miete. Die Auswertungsmethodik stellt die andere Hälfte dar. Es muss immer Interview und Inhaltsanalyse, Gruppendiskussion und z.B. Auswertungsstrategie nach der dokumentarischen Methode oder – um ein quantitatives Beispiel zu bringen – Fragebogenerhebung und statistische Auswertung sein. Nur den ersten Schritt zu machen und den zweiten wegzulassen, ist kein wissenschaftliches Vorgehen.

    • #16 Andrea Schaffar
      März 25, 2016

      Die zum science.orf.at-Artikel gehörende Kritik finden Sie übrigens hier: Langfassung Kritik am Abschlussbericht Der Blogbeitrag hier war die Kritik an der Erstversion vom Dezember letzten Jahres.

  9. #17 Surfer
    Wien
    März 25, 2016

    (Antwort auf Kommentar #15)

    S.g. Frau Schaffar,

    danke für Ihre Antwort. Mir scheint, wir reden aneinander vorbei. Deshalb wiederhole ich: Folgende Aussagen hatten Sie in der von mir aufgegriffenen Passage getroffen:

    1. Im Auswertungsteil des Projektberichts finde man eine Gliederung nach Überthemen, welche höchstwahrscheinlich die Themenbereiche der Leitfadeninterviews abbilden.
    2. Den einzelnen Überthemen/Gliederungspunkten habe der Autor Zusammenfassungen und Zitate aus den Interviews zugeordnet.
    3. “Diese [die in 1+2 erwähnte, Anm.] Vorgangsweise” sei unwissenschaftlich.

    Dass dieses Vorgehen per se schon den Vorwurf “unwissenschaftlich” verdient, habe ich angezweifelt und um Belegstellen dazu aus der Literatur gebeten.

    Sie haben sich nun die Mühe gemacht, Ihren Standpunkt dazu noch einmal in extenso darzulegen. Sie haben mir wie ich Sie verstehe erklärt, dass Sie bei der kritisierten Studie den Hinweis auf eine systematische Inhaltsanalyse vermissen. Ihre Annahme lautet: Hätte der Autor eine solche durchgeführt, hätte er es wohl erwähnt, was er aber unterlassen hat. Daher nehmen Sie im Umkehrschluss an, der Autor habe seine Zusammenfassungen irgendwie “subjektiv” erstellt, ohne sich an bestimmte formale Handwerksregeln und Zwischenschritte zu halten, die Sie für nötig halten. Dies klassifizieren Sie als unwissenschaftlich. Hier stimmen wir denke ich überein: Ein Endbericht, der sich einerseits als empirische Studie versteht, andererseits aber in keiner Weise kenntlich macht, wie die enthaltenen Thesen mit dem empirischen Material korrespondieren, muss sich den Vorwurf der Beliebigkeit gefallen lassen.

    Der Gegenstand Ihrer Kritik war aber zuvor semantisch ein anderer: Ursprünglich bezog sich Ihr Urteil mit dem Demonstrativpronomen klar auf den Aufbau des Berichts nach Oberthemen gemäß Leitfaden und die Tätigkeit des Zuordnens von Zusammenfassungen und Zitaten zu den einzelnen Gliederungspunkten. _Dies_ pauschal und ohne nähere Beweisführung zu kritisieren – was Sie getan haben, auch wenn Sie es anscheinend nicht ganz so drastisch gemeint haben? – halte ich für verfehlt.

    Sie fragen mich, warum. Ich glaube, wenn Sie sich ihre eigene Originalaussage einmal unbefangen durchlesen unter dem Aspekt, was Sie wirklich geschrieben haben, ungeachtet dessen, was sie vielleicht ausdrücken _wollten_, dann kommen Sie selber schnell darauf, warum ich Ihre Aussage in dieser pauschalen Form nicht teilen kann.

    Dennoch zum besseren Verständnis hier meine Antithese zu ihrer Behauptung:

    Mag man von der Methode, Leitfadeninterviews zu führen, halten was man will. WENN ein solcher Weg eingeschlagen wird, und – sagen wir – ein dutzend Personen mit dem selben Leitfaden befragt werden, dessen “Überthemen” ja i.d.R. mit der Forschungsfrage korrespondieren – dann ist es auch in Ordnung, die konzeptuelle Gliederung, die bei der Forschungsfrage beginnt und sich in den Leitfaden übersetzt, auch bis zum Ende, als Basis für die Gliederung zu verwenden. Freilich: Nicht immer wird man mit dieser Variante (!) glücklich sein, und es gibt je nach Forschungsfrage auch noch andere zweckmäßige Möglichkeiten des Textaufbaus. Es handelt sich aber um ein Vorgehen, das ganz klaren Regeln folgt und für absolut jeden nachvollziehbar ist. Und für jedes einzelne Ober/unterthema wird man nicht darum herumkommen, Zusammenfassungen und Zitate des relevanten Materials zuzuordnen – was denn auch sonst? Das ist geradezu eine Notwendigkeit. Dem Autor bereits diesen Aspekt vorzuwerfen, halte ich für verfehlt. Mehr Aufmerksamkeit verdient dagegen – hier stimmen wir denke ich überein – die Frage, WIE dieser Schritt nun im Einzelnen genau geschieht und ob man sich hier um gegenstandsadäquate Abstraktion bemüht oder nicht.

    • #18 Andrea Schaffar
      April 1, 2016

      Sry, Grippe. 😉

      Wir reden nicht aneinander vorbei. Ich weiß nur, im Gegensatz zu Ihnen, nicht mit wem ich rede und damit auch nicht welchen Hintergrund Sie haben. Deshalb war meine erste Antwort so formuliert, wie ich es hier auf Scienceblog meistens handhabe: Gerichtet an eine Zielgruppe ohne sozialwissenschaftlichen Background. Das war ja auch meine Intention beim Start von SocioKommunikativ.

      Warum Sie meine – immer im Kontext des Abschlussberichts zu den islamischen Kindergärten – getroffenen Aussagen auf eine allgemeine Ebene gehoben sehen möchten und von mir für diese Abstraktion Belege fordern, erschließt sich mir nicht und dementsprechend komme ich dem auch nicht nach. Meine in der Analyse getroffene Aussage bezieht sich darauf, dass in der Studie das ‘Wie’ der Arbeitsweise nicht nachvollziehbar ist und dass dies unwissenschaftlich ist.

      Sie geben sich Ihre Antwort in ihrem langen Kommentar ja selbst. Beschließt jemand Leitfadeninterviews zu machen, fließen die diesbezüglichen Forschungsfragen in den Analyseprozess ein. Wird in dem Prozess ein Kategorienschema erarbeitet und die Verarbeitung des Textmaterials nachvollziehbar in diese Kategorien eingeteilt – sei das durch Paraphrase und Generalisierung, wie bei Mayring; oder in einer Arbeitsweise, ähnlich der formalen Interpretation der dokumentarischen Methode – dann ist dies wissenschaftlich. Wird ein eigenes Verfahren entwickelt und die Verfahrensweise transparent gemacht, dann ebenso. Das schöne an (sozial)wissenschaftlicher Arbeit ist ja, dass alles möglich ist solange transparent, überprüfbar und nachvollziehbar gearbeitet wird.

      Was aber nicht geht, und genau das war es was ich in meiner Kritik formuliert habe: Den Strukturierungselementen eines Leitfadens willkürlich ausgewählte Zitatstellen zuzuteilen, andere Zitatstellen nicht zu nutzen und die Art und Weise der Zuordnung nicht transparent zu machen. Dann auch noch zu behaupten qualitativ vorgegangen zu sein – was ja eigentlich hieße die Kategorien aus dem Material zu entwickeln – ist diesbezüglich eine besondere Chuzpe und wird gerne von Menschen gemacht, die meinen qualitativ hieße unwissenschaftlich und beliebig mit Material umgehen zu können.

      Btw.: Ich sehe Methoden als Werkzeuge und bin keine Freundin von methodischen Schulen oder Ausschließlichkeiten. Insofern stehe ich dem Leitfadeninterview ebenso neutral gegenüber, nutze es recht häufig in Projekten und werte, je passend nach Erkenntnisinteresse, mit unterschiedlichen Auswertungsverfahren aus.