Wenn es nach Jahrtausenden zu einem Bruch mit solchen Traditionen kommt, hat das meistens einen Auslöser. Leider gibt es aber keine Quellen, die darüber etwas sagen würden. Aber es lohnt sich, diese Zeit in der Geschichte Japans anzuschauen. Japan gehörte spätestens seit der Tang Dynastie im 8.-10. Jahrhundert zum Kulturkreis Chinas, als die chinesische Kultur ihre größte Blüte erreichte. Im 13. Jahrhundert wurde China, genauso wie fast der gesamte Rest Asiens, von den Mongolen überrannt. Zwei Invasionen 1274 und 1281 in Japan scheiterten nur, weil im passenden Moment ein Taifun die Flotten der Mongolen zerstörten. Man schrieb diesen glücklichen Umstand dem Geist (kami) des Windes zu – Kamikaze.

Es war die Geburtsstunde der nationalen Identität Japans. Das Land der Kulturstifter wurde von Barbaren überrannt und nur weil sie auf ihrer Insel ausharrten, blieb den Japanern das Schicksal erspart. Man kann sich gut vorstellen, wie es in diesem Umfeld zum Bruch mit Jahrtausende alten chinesischen Traditionen kommen kann.

Für die nächsten zwei oder drei Jahrhunderte spielten die Spieler nun auf diese Weise, aber das Denken hatte sich noch nicht geändert. Noch immer versuchte man Teile des Brettes mit relativ eng zusammenstehenden Steinen für sich zu beanspruchen und später in vielen Scharmützeln dem Gegner sein Territorium streitig zu machen. Alle Kämpfe wurden lokal ausgetragen, selbst wenn man ganz offensichtlich eine vorteilhafte Stellung anderswo auf dem Brett hätte ausnützen können.

Auch das änderte sich, zusammen mit der Geschichte Japans. Nach der Abwehr der ersten mongolischen Invasionen stellte man große Armeen in Japan auf, um auf eine Rückkehr der Mongolen vorbereitet zu sein. Die kamen aber nicht. 1368 wurden die Mongolen aus China vertrieben und nun hatte man eine stehende Armee ohne einen Feind. Diese Situation führte zu politischen Spannungen in Japan und letztlich zu über 100 Jahren Krieg im Land, einem desaströsen Krieg mit Korea und der Etablierung des Tokukawa Shogunats.

Japan wurde nun von reichen Adelshäusern regiert, deren luxuriöses Leben sehr viel bekannter ist, als die Knechtschaft der nicht-adligen Bevölkerung. Teil dieses luxuriösen Lebens war auch das Go Spielen, das zu großem Ansehen gelang. Es gab Wettbewerbe im Schloss des Shoguns und sogar den Posten des Ministers für Go. Objektiv betrachtet ist die nun folgende Entwicklung also nichts anderes als Resultat adliger Dekadenz.

In Japan gab es eine Familie aus der immer wieder gute Go Spieler kamen, die Honinbo. Das kam vor allem daher, dass die Familie die besten Go Spieler adoptierte. Es war Honinbo Dosaku im 17. Jahrhundert, der die erste grundlegende Arbeit zum Fuseki, der Eröffnungstheorie des Go Spielens, geleistet hat. Er erkannte, dass es gar nicht so wichtig ist, dass der Gegner zwischen die eigenen Steine im eigenen Territorium spielen kann. Zumindest dann nicht, wenn man darauf vorbereitet ist und ihn im Anschluss in eine schlechte Kampfsituation zwingen kann. Gleichzeitig kann man so größere Gebiete für sich selbst in Anspruch nehmen und der Gegner steht vor einem Dilemma. Spielt er ins eigene Gebiet, kommt er in einen schlechten Kampf. Tut er es nicht, bekommt man selbst ein viel größeres Gebiet, als es einem nach den alten Kampftaktiken zustehen sollte.

Heute mag das trivial aussehen, weil es jeder Anfänger lernt, aber das Wissen darum ist damals erst entstanden und dafür brauchte es viel Zeit und Arbeit.

Die nächste große Änderung im Stil gab es erst im 19. Jahrhundert. Es braucht nicht zu überraschen, dass es wieder ein Honinbo war, Honinbo Shusaku, der diese Revolution ins Rollen brachte. Aber es war nicht die einzige Revolution. Das Tokugawa Shogunat war am Ende. Mit der gewaltsamen Öffnung Japans 1853 für den Rest der Welt durch Commodore Perry kam es zu Umwälzungen in der gesamten japanischen Gesellschaft. Zu dieser Zeit schlug sich Shusaku durch Japan. Geboren wurde er 1829 und galt mit 20 Jahren als bester Go Spieler Japans und wird auch heute noch als einer der besten Spieler aller Zeiten verehrt. (Und hat eine nicht unerhebliche Rolle in dem Go-Manga Hikaru no Go.) Er starb mit 33 Jahren in einer Cholera-Epidemie in Japan, als er sich um die restlichen Mitglieder der Honinbo Familie kümmerte.

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Kommentare (8)

  1. #1 Dampier
    31. Oktober 2015

    Sehr spannend, toll erzählt! Vielen Dank! Auch als Nichtspieler (hab mich vor ~20 Jahren mal dran versucht) hab ich es mit Spaß und Gewinn gelesen.

  2. #2 egal
    31. Oktober 2015

    Können Sie was zu Backgammon schreiben? Mich würde die Mathematik dahinter interessieren, ab wann man wieviel Risiko eingehen sollte, wie errechnet man Gewinnwahrscheinlichkeit etc

    https://www.gnubg.org/

    • #3 wasgeht
      31. Oktober 2015

      Nein. Ich hab davon keine Ahnung.

  3. #4 BreitSide
    31. Oktober 2015

    Da werden Erinnerungen wach :-) Schöner geschichtlicher Aufriss!

    Im Studentenwohnheim hatten wir ein paar Go-Enthusiasten, die mir das Spiel schmackhaft gemacht hatten. Gibt aber kaum Gegner, und heute ist es mir doch zu langwierig…

    Damals hatten die mir auch erklärt, dass Go einerseits sehr einfach sei, andererseits auch auf dem Niveau von Schach zu spielen sei. Ich fand es immer einfacher als Schach, da man sich mit einem diffusen Blick auf das Feld immer einen ganz guten Überblick verschaffen konnte. Zumindestens am Anfang bis etwa zur Mitte.

    Hast Du ab+zu einen weißen Stein dabei, um die Leute zu foppen? Schmecken ja so gar nicht, wie sie aussehen…

    Ich könnte mir vorstellen, dass Go in D nicht so viele Freunde gefunden hätte, hätte man es weiter “Weichi” genannt. Wer ist schon gerne ein Weichi… :lol:

    Für die Eröffnung hatte ich noch das Wort “Joseki” im Kopf: Heißt das jetzt anders oder ist mit meinem Gefühl was nicht in Ordnung;-)?

    PS: Fragen Dich die Leute auch immer noch, ob Go “5 in einer Reihe” ist?

    • #5 wasgeht
      31. Oktober 2015

      Joseki sind (mehr oder weniger) feste Steinabfolgen in den Ecken, die im allgemeinen für beide Spieler ein brauchbares Resultat bringen. Die entwickeln sich auch im Lauf der Zeit, gehen durch diverse Moden etc.

      Sie sind ein wesentlicher Teil der Eröffnung (=Fuseki) aber nicht alles. Wenn die Josekis nicht zusammen passen, dann hat man eine schlechte Eröffnung.

      • #6 BreitSide
        Beim Deich
        1. November 2015

        Danke :-)

  4. #7 Dr. Webbaer
    4. November 2015

    Backgammon ist ein Skill-Game, der sogenannte Dopplerwürfel hat die dem Spiel innewohnende Schwierigkeit noch erhöht, denn es kann eine Verdoppelung ja nur angenommen werden, wenn die Odds stimmen, also die Gewinnwahrscheinlichkeit bei mindestens 33,33 % liegt. [1]
    Backgammon ist insofern ein Spiel, in dem gewusst werden muss, wie groß die eigenen Chancen zu gewinnen sind, weben wegen des sogenannten Dopplerwürfels.
    Die besten Spieler sind, ähnlich wie im Schach und in anderen Brettspielen, mittlerweile Programme, die teilweise auch über umfangreiche Datenbanken verfügen, wenn es um das Auswürfeln geht, das End-Game sozusagen.
    Für Eröffnung und Mid-Game sind bisher keine Datenbasen verfügbar, “wg. Komplexität” nicht.

    MFG
    Dr. W

    [1]
    Der Besitz des Würfels hat auch einen wert, insofern kann oft bei geringeren Odds angenommen werden, bspw. bei 30% Gewinnwahrscheinlichkeit.
    Überschrieben wird diese Aussage aber durch die Möglichkeit im Backgammon auch doppelt (“Gammon”) und dreifach (“Backgammon”) zu gewinnen, was die Sache dann wieder komplexer macht.

  5. […] werden. Er hatte auch im Oktober eine Vorlesung zur Entwicklung des Go Spielens gehalten, aus der einer meiner Artikel wurde. Er greift am Anfang seiner Analyse der Spiele von AlphaGo sogar auf diese Vorlesung zurück. […]