Im (für die nächste Zeit) letzten Artikel zu AlphaGo und den Spielen gegen Lee Sedol wage ich einen Ausblick in die Zukunft. Ein heiß diskutiertes Thema, vor, während und nach den Spielen. Seit ich den Artikel auf Golem veröffentlicht habe, sind eine Reihe von weiteren Diskussionsbeiträgen professioneller Spieler im (englischsprachigen) Internet aufgetaucht. Einer der besten und ausführlichsten ist wohl der von Hwang In-Seong:

Darin kommt er für sich zu dem Schluss, dass er das Go Spielen nochmal völlig neu studieren will und glaubt, dadurch besser zu werden. Er hatte auch im Oktober eine Vorlesung zur Entwicklung des Go Spielens gehalten, aus der einer meiner Artikel wurde. Er greift am Anfang seiner Analyse der Spiele von AlphaGo sogar auf diese Vorlesung zurück. Daher ist es wohl nicht überraschend, wenn ich im folgenden Artikel ungefähr zu den gleichen Schlüssen komme wie er. Es steht uns im Go eine neue Revolution ins Haus – aber nicht nur dort.

Die nächste Revolution im Go und anderswo

Alpha Go hat doch Schwächen, wie sich nach dem dritten Spiel gegen den weltbesten menschlichen Go-Spieler zeigte. Nach Ende des Matches ist aber klar: Die KI wird eine enorme Entwicklung anstoßen – nicht nur in dem asiatischen Brettspiel.

Die ersten drei Spiele im Match zwischen dem Computer Alpha Go und dem Südkoreaner Lee Sedol waren ein Lehrstück: Die künstliche Intelligenz (KI) gewann dank unerwartet aggressiven und kreativen Spiels – und weil sie ihr menschlicher Gegenspieler weit unterschätzt hatte. Myungwan Kim, der selbst schon gegen Lee gespielt hat, kommentierte die ersten drei Niederlagen Lees gegen Alpha Go so: “Nach dem ersten Spiel war er überrascht. Nach dem zweiten Spiel war er enttäuscht. Nach dem dritten Spiel sah er aus, als hätte ihn ein Pferd getreten.”

Erst danach gelang es Lee Sedol, dem weltbesten menschlichen Spieler des komplexen Brettspiels Go, die Schwächen seines Gegners ausfindig zu machen und auszunutzen. Das vierte Spiel gewann er. In der hart umkämpften letzten Partie machten Mensch und Maschine gleichermaßen Fehler, die nach fünf Stunden zu einem knappen Sieg von Alpha Go führten. Die Bilanz: Die KI ist in dem komplizierten Spiel in die Weltklasse aufgestiegen. Besonders das Fuseki, die Eröffnung in ihren Spielen, wird das Go-Spiel verändern. Doch auch in anderer Hinsicht wird Alpha Go wohl eine Revolution des Brettspiels anstoßen.

Die Eröffnung wird sich verändern

Mit ihrem Eröffnungsspiel hat die KI den selbstsicheren Lee Sedol überrascht und auch andere Experten in Erstaunen versetzt. Das wird nicht ohne Folgen bleiben. In der Pressekonferenz nach dem letzten Spiel sagte Lee, er habe begonnen, die aktuelle Eröffnungstheorie zu hinterfragen.

Alpha Gos geschicktes Ausweichen von Attacken und die Entwicklung von Einfluss auf dem ganzen Brett waren beeindruckend anzusehen. Ihr Spiel erinnert an den Spielstil des exzentrischen Japaners Takemiya Masaki, ist aber wesentlich flexibler. Es ist überhaupt keine Frage, dass die fünf Spiele zwischen Lee Sedol und Alpha Go zu einer neuen, flexibleren Eröffnungstheorie führen werden, bei der Züge wie Zug 37 im zweiten Spiel kein Erstaunen mehr hervorrufen werden – auch wenn sie dem Gegner, der alten Theorie nach, zu viel Territorium zugestehen.

Eine eigene KI für jeden Go-Spieler

Aber nicht nur die Eröffnungstheorie wird von Alpha Go profitieren. Schon jetzt gibt es erste Projekte, die auf Grundlage der Veröffentlichungen von Googles Deepmind eine Open-Source-Variante von Alpha Go erstellen wollen. Auch das Deepmind-Projekt selbst denkt über eine Veröffentlichung der Software nach. Damit würde erstmals jedem Go-Spieler ein Computerprogramm mit menschlichen Charakteristiken und hoher Spielstärke zur Verfügung stehen.

Im Allgemeinen sind Spiele von gleichrangigen Spielern üblich, schon um der Langeweile vorzubeugen. Doch mit Alpha Go und ähnlichen Programmen könnten auch Anfänger Spiele gegen einen starken Spieler spielen, der sich niemals über zurückgenommene Züge oder die ewig gleichen Anfängerfehler beklagen wird.

Der Spielstil bisheriger Computerprogramme war so unausgewogen und mit spezifischen Fehlern behaftet, dass Anfängern vom Spielen gegen Computerprogramme abgeraten wurde. In den nächsten Jahren dürfte sich die Spielstärke der Go-Spieler überall stark verbessern, eine Entwicklung, die schon durch das Internet und öffentliche Go-Server begonnen hat, auf denen im Laufe der Zeit viele Spieler schon Zehntausende Spiele gespielt haben.

Auch professionelle Spieler haben davon profitiert. Es wurde möglich, experimentelle Eröffnungen gegen starke Spieler auszuprobieren und so mögliche Schwächen zu identifizieren. Während die Entwicklung neuer Eröffnungen früher Monate dauerte, sind es jetzt nur noch Tage. Dazu kommt eine noch stärkere Zusammenarbeit der Spieler untereinander bei der Untersuchung von Spielen. Es herrscht eine allgemeine Einigkeit darüber, dass die heutigen Profispiele dadurch auf einem deutlich höheren Niveau gespielt werden als noch in den 90er-Jahren.

Das Ende von Traditionen hat im Go Tradition

Aber auch früher hat es schon Revolutionen im Go gegeben. Das gilt besonders für die Eröffnung. Nachdem der Vorteil des ersten Zugs durch die Einführung der Komi-Punkte ausgeglichen worden war, musste der Spieler mit den schwarzen Steinen nun einen Vorsprung erkämpfen, anstatt nur seinen Vorteil zu verwalten. Im 19. Jahrhundert wurde der Japaner Honinbo Shusaku so gut darin, dass er mit den schwarzen Steinen als unbesiegbar galt.

Die klassische Eröffnungstheorie war zwar damit eigentlich veraltet, dennoch hielten die Spieler Japans an ihr fest. Bis ein Chinese names Wu Qingyuan zum Go-Unterricht nach Japan gebracht wurde. Dort wurde er berühmt als Go Seigen – die japanische Aussprache seines Namens. Zusammen mit Kitani Minoru entwickelte er in seiner Jugend die Shinfuseki, die neuen Eröffnungen. Es folgten experimentelle Spiele, in denen zuerst um das Zentrum gekämpft wurde. Eröffnungszüge, die bis dahin als zu schlecht bekannt gewesen waren, wurden zum neuen Standard, weil sie sich bewährt hatten.

1933 traf der 19-jährige Go Seigen auf den 60-jährigen Honinbo Shusai. Schon die Eröffnung, mit Steinen auf den Sternpunkten und in der Mitte (Tengen), war ein Bruch mit alten Traditionen, die der Honinbo als Beleidigung durch den jungen Spieler auffasste. In einem Spiel, das über drei Monate dauerte, wurde Go Seigen zwar mit 2 Punkten Rückstand besiegt, aber der Honinbo missbrauchte sein Recht, das Spiel jederzeit zu unterbrechen und später fortzusetzen. Er beriet sich in den Pausen mit den anderen Spielern seines Hauses. Es wurde als das Spiel des Jahrhunderts bekannt und kam einer Zeitenwende gleich.

Das Haus Honinbo stammte noch aus dem 17. Jahrhundert, als das Go-Spiel in Japan erstmals professionalisiert wurde. Spieler wurden dafür bezahlt, sich ganz dem Go zu widmen und Spiele zur Unterhaltung des Shoguns zu spielen. Konkurrierende Häuser suchten und förderten die besten Spieler des Landes, es gab sogar den Posten des Go-Ministers. Das berühmteste Haus war das Haus Honinbo, dessen stärkster Spieler in die Familie Honinbo adoptiert wurde und ihren Namen tragen durfte. Drei Jahre nach dem Spiel zwischen Go Seigen und Honinbo Shusai wurde das Haus aufgelöst und der “Honinbo” nur noch als Titel eines Turniergewinners verliehen.

Alpha Go macht neue Theorien unausweichlich

Die Professionalisierung war auch der Ausgangspunkt für die Entwicklung einer formalen Eröffnungs- und Spieltheorie im Go, seit man im Japan des 14. Jahrhunderts erstmals Spiele regulär auf einem leeren Brett begann, um sich von den damals von Mongolen beherrschten Chinesen abzugrenzen.

Im 17. Jahrhundert führte Honinbo Dosaku dazu eine Reihe von Werkzeugen ein. Er erfand die “Tewari”-Zuganalyse, bei der Spielzüge in unterschiedlichen Reihenfolgen gespielt und bewertet werden. Wenn eine andere Zugreihenfolge so aussieht, als hätte ein Spieler einen groben Fehler gemacht, dann gibt es wahrscheinlich eine effizientere Sequenz aus anderen Zügen. Er hat auch die Eröffnung auf die Formel gebracht, dass zuerst um Territorium in den Ecken, dann an den Seiten und erst am Ende im Zentrum gekämpft wird.

Nachdem schon die Shinfuseki diese Theorie infrage stellten, dürften die letzten fünf Spiele von Alpha Go nun endgültig dazu führen, dass diese Formel nach über drei Jahrhunderten neu formuliert werden muss. Lee Sedol macht sich darüber jedenfalls jetzt schon Gedanken.

Deep Mind kann mehr als nur Go spielen

Für die weitere Entwicklung des Go-Spielens dürfte Alpha Go kein Hindernis darstellen, ganz im Gegenteil. Wenn die Entwicklung des Schachs seit Deep Blue ein Vorbild für die Entwicklung von Go in den nächsten Jahren ist, dann haben die Spieler nicht viel zu befürchten. Auch 20 Jahre nach der ersten Niederlage eines Schachgroßmeisters gegen einen Computer wird die Schachweltmeisterschaft ausgetragen und ein Preisgeld von etwa einer Million Euro ausgeschüttet. Es wird nichts daran ändern, dass Go weiter in Turnieren gespielt wird und Menschen gegen Menschen antreten.

Viel wichtiger wird die Wirkung aber außerhalb von allen Denkspielen sein. Alpha Go wurde von Deep Mind mit generischen Algorithmen programmiert, die überall zur Lösung hochspezialisierter Probleme zum Einsatz kommen können – vor allem in der Medizin und Wissenschaft. Auch das ist nichts Neues. Selbst Computerchips können nicht mehr ohne Computerhilfe entworfen werden. Fast die gesamte Wissenschaft ist von Computeralgorithmen abhängig, Wettervorhersagen konnten erst so die heutige Zuverlässigkeit erreichen.

Deep Learning steht erst am Anfang

Nach ihren eigenen Aussagen sind die Deep-Learning-Algorithmen von Deep Mind vielversprechend, aber die Arbeit steht noch am Anfang. Auf der Pressekonferenz nach dem letzten Spiel von Alpha Go wurde vor allem die ethische Verantwortung betont, neuronale Netze richtig zu erstellen und sie für die richtigen Zwecke einzusetzen. Die Einrichtung eines “ethics board” war eine der Grundvoraussetzungen bei der Übernahme von Deepmind durch Google.

Wie bei allen Technologien gehen die Chancen mit einer Verantwortung einher. Dazu gehört aber nicht nur die Verantwortung, mit möglichen Risiken umzugehen, sondern auch die Verantwortung, die Chancen zu nutzen, der Menschheit nutzen können und sie ihr nicht vorzuenthalten.

Kommentare (6)

  1. #1 Gast
    17. März 2016

    Was ist eigentlich passiert?
    So gut wie nichts. Ein Computerprogramm schlägt einen menschlichen Go-Spieler, wenn auch einen der besseren (den besten?). Dieser hat wohl auch den Computer unterschätzt (Arroganz?). Damit teilt er das Schicksal der Schachprotagonisten Kasparov und Kramnik, die weit unter ihren Möglichkeiten gespielt hatten. Kasparov spielte bekannte Patzervarianten. Kramnik stellt einzügig eine Partie ein.
    Warum sage ich es ist so gut wie nichts passiert?
    • 5 Partien gegen 1 Mensch bilden keine statistische Datenbasis!
    • Wer spielt eigentlich GO? In Deutschland gibt es ca 100.000 aktive Schachspieler, die Zahl der Go-Spieler liegt ca. um den Faktor 10 drunter, also rund 10.000. Im asiatischen Raum könnten die Zahlen etwas höher sein. Wer von diesen interessierten spielt überhaupt auf einem passablen Niveau, vielleicht 1%. Für alle anderen inclusive der gesamten Zivilbevölkerung ist das Ergebnis eines Matches gegen einen Computer völlig irrelevant. (Wen interessiert‘s? Kann sowieso keiner Go!)

    Also ob der Computer schneller die Wurzel zieht, oder gegen mich im GO gewinnt ist kein Unterschied.

  2. #2 Dr. Webbaer
    17. März 2016

    Wie bei allen Technologien gehen die Chancen mit einer Verantwortung einher. Dazu gehört aber nicht nur die Verantwortung, mit möglichen Risiken umzugehen, sondern auch die Verantwortung, die Chancen zu nutzen, der Menschheit nutzen können und sie ihr nicht vorzuenthalten.

    Risk-Reward-Überlegungen, um einmal das Fachwort zu nennen, sind wichtich.
    Sie dienen, bei eher minderkomplexen Herausforderungen, dazu das Fortkommen zu sichern, leider gehören bspw. Go, Schach & Mühle hier mittlerweile hinzu, wegen ihrer Begrenztheit, allerdings ist es jederzeit möglich Spiele oder „Spiele“ zu entwickeln, die nicht von Gerät geschlagen werden können.
    Insofern muss hier auch niemand traurig sein.

    MFG
    Dr. Webbaer (der den allgemein-philosophischen Inhalt der Nachricht bemerkt hat)

  3. #3 ZeT
    17. März 2016

    Hm… Go gegen den Computer spielt sich anders als gegen Menschen. Der Grund is simpel – beim Go gibt es ungeschriebene Regeln der Höflichkeit und des Respekts.

    Die fallen natürlich bei einem Computer weg. Daher wird ein Spiel gegen Go niemals wie ein Spiel gegen einen Menschen sein.

    Vergleich Schafkopf,… da wirst vom Tisch geprügelt wenn man “Blödsinn” spielt. Auch wenn man damit erfolgreich sein könnte wird man das nächste mal nicht mehr an diesem Tisch sitzen.

  4. #4 Ulfi
    18. März 2016

    Am Ende wird sich Go also ähnlich weiter entwickeln wie damals Backgammon, nachdem TD-Gammon die weltelite abgeräumt hat. Auch damals haben die menschlichen Spieler gegen die Ki gespielt und neue Züge gelernt bis sie schließlich das Programm schlagen konnten.

  5. #5 Dr. Webbaer
    18. März 2016

    @ Ulfi :

    Es kann nur sehr begrenzt menschlicherseits von Algorithmen gelernt werden, die Spiele sehr gut beherrschen.
    Das liegt daran, dass Menschen an Regeln oder Muster gebunden entscheiden, die eine bestimmte Komplexität nicht überschreiten dürfen, Menschen sind sehr gut darin in hoch komplexen Umgebungen näherungsweise angemessen sozusagen zu navigieren, sie sind aber immer unpräzise.

    Das mit den Backgammon-Pros, die „auf einmal“ die o.g. Algorithmen schlagen konnten, hat Ihr Kommentatorenfreund übrigens zum ersten Mal gehört, hat noch nicht diesbezüglich recherchiert, können Sie vielleicht (zum Einstieg) einen Webverweis beibringen?

    MFG
    Dr. Webbaer

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