Wer sich mit der biomedizinischen Forschung der DDR beschäftigt, der stellt fest, dass man ab den 1960er Jahren – in überaus fortschrittlicher Weise – das Augenmerk auf Transdisziplinarität legte, ambitionierte Großprojekte startete und sich ausdrücklich am Diskurs der (westlichen) Scientific Community orientierte. Wesentlich dafür verantwortlich war der Biochemiker Samuel Mitja Rapoport.

Der Historiker Dr. Andreas Malycha skizziert die Bedeutung Rapoports und erklärt, weshalb sein ehrgeizigstes Projekt letztlich nicht erfolgreich war.*

Für die Profilierung und Wettbewerbsfähigkeit biowissenschaftlicher Forschungen in der DDR hat sich in besonderer Weise der Biochemiker Samuel Mitja Rapoport engagiert. Rapoport hat wie kein anderer die molekular- und zellbiologische Grundlagenforschung zu verschiedenen Anlässen immer wieder in das Zentrum biowissenschaftlicher Forschungsgramme gestellt und auf die praktische Bedeutung ihre Ergebnisse verwiesen. Die Erforschung molekularer Grundlagen der Lebensvorgänge beim Menschen, bei Tieren und Pflanzen, so versuchte er auch die SED-Führung unter Ulbricht in den 1960er Jahren zu überzeugen, habe entscheidende Bedeutung für die gesamte Entwicklung der menschlichen Gesellschaft.

Auch die politische Führung der DDR bemerkte, dass die molekularbiologische und biomedizinische Forschung international hinterhinkte.

Allerdings war – auch aus Gründen der zunehmenden internationalen Isolierung nach dem Mauerbau 1961 – die molekularbiologische und biomedizinische Forschung in der DDR der internationalen wissenschaftlichen Konkurrenz, insbesondere der amerikanischen schon damals nicht mehr gewachsen. Das wurde auch in den politischen Führungsinstanzen, erst recht in der innerwissenschaftlichen Kommunikation so wahrgenommen und mehrfach beklagt.

Daher unternahm Rapoport mit seinem nicht geringen Einfluss auf wissenschaftspolitische Grundsatzentscheidungen immer wieder Versuche, von der DDR-Regierung umfassende Förderprogramme für die biowissenschaftliche Grundlagenforschung und unkonventionelle Strukturentscheidungen im festgefügten Wissenschaftssystem mit seinem fünfjährigen Planungsmodus zu fordern. Als Referenzebene für die geplanten „Spitzenleistungen” biowissenschaftlicher Forschungen diente ihm keineswegs die Sowjetwissenschaft, wie dies beispielsweise noch in der Genetik der frühen 1950er üblich gewesen war, sondern die amerikanische Forschung mit ihrem innovativem Forschungsmodell.

Samuel Mitja Rapoport: Bewegte politisch-wissenschaftliche Karriere

Rapoports Engagement für das amerikanischen System der Forschung mit seinen flachen Hierarchien und interdisziplinären Denkweisen hatte gute Gründe. Der 1912 in der Ukraine geborene Biochemiker Rapoport wirkte vor seiner Übersiedlung in die DDR als Wissenschaftler in Wien und seit 1937 in Cincinnati (USA). Dort leitete er im Auftrag der „National Research Council” der Vereinigten Staaten eine Arbeitsgruppe, die sich mit Problemen der Konservierung des Blutes beschäftigte. Während seiner Forschungsjahre in den USA lernte er eine Form von Wissenschaftsorganisation schätzen, die auf autoritäre Hierarchien verzichtet, das Primat der Forschung vor der Politik betont, einen intensiven, interdisziplinären Austausch pflegt, die Neuverteilung von Verantwortlichkeiten unkonventionell regelt und kleine innovative Arbeitsgruppen bevorzugt.

Als Rapoport, der 1950 vor der Kommunistenverfolgung McCarthy`s wiederum nach Wien floh, im Januar 1953 zum Professor für physiologische Chemie an die Humboldt-Universität zu Berlin berufen wurde, war er den Ordinarien der Berliner Medizinischen Fakultät durchaus suspekt. Sie misstrauten ihm als Emigranten der USA, im Hinblick auf seine völlig andere wissenschaftliche Sozialisation, seinen andersartigen Forschungs- und Kommunikationsstil wie seine anderen wissenschaftlichen Methoden. Zudem galt er den „bürgerlichen” Medizin-Professoren als politischer Überzeugungstäter, der ihrer Ansicht nach den Einfluss der SED an der Berliner Universität erweitern wolle.

Es dauert viele Jahre, bis Rapoport am Ende der 1960er Jahren seinen Vorstellungen von interdisziplinär arbeitenden Forscherteams im Rahmen der laufenden Diskussion über neue Formen und Inhalte der Wissenschaftsorganisation überhaupt erst Gehör verschaffen konnte und dazu nutzte, seine Ideen zur biowissenschaftlichen Forschung auch letztlich zu placieren. Er machte in wissenschaftspolitischen Beratungsgremien, so im Forschungsrat der DDR, seinen Einfluss dahin geltend, in „Sozialistischen Großforschungsvorhaben” der Biowissenschaften einen neuen Arbeitsstil zu realisieren, der von Interdisziplinarität und einer stärkeren Problemorientierung geprägt sowie am „Weltniveau” orientiert war.

Die institutionelle Zusammenführung bislang regional angesiedelter Forschungseinrichtungen der Universitäten und der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Großforschungszentren bzw. Großforschungsverbänden sollte zur Konzentration des Forschungspotentials führen, eine zentralistische Planung und Leitung der Wissenschaft und einen möglichst effektiven Einsatz der materiellen und personellen Ressourcen ermöglichen, also zur Rationalisierung der Forschung beitragen.

Das Großforschungsvorhaben MOGEVUS

Krönung dieser ehrgeizigen Pläne war die Etablierung des Großforschungsvorhabens MOGEVUS (Molekulare Grundlagen der Entwicklungs-, Vererbungs- und Steuerungsprozesse) im Jahre 1971. Seine Gründung fiel in eine Zeit, in der der internationale Durchbruch zu molekularbiologischen Forschungsprogrammen längst vollzogen war und die klassische biologische Forschung zunehmend in den Hintergrund drängte.

Kam MOGEVUS zu spät? Woran scheiterte das ehrgeizige Großprojekt?

Schwerpunkt dieses „Sozialistischen Großforschungsvorhabens” bildeten molekularbiologische Schlüsselprobleme der Grundlagenforschung bei höheren Zellen, deren Aufklärung die Voraussetzungen für anwendungsorientierte Lösungen in humanmedizinischer Diagnose und Therapie, in der Züchtung von Pflanzenzellen in Zellkulturen, gentechnischen Projekten in der Tierzüchtung und der Erhöhung der Erträge in der Landwirtschaft schaffen sollte.

Am 1. Februar 1971 eröffnet, verkörperte MOGEVUS mitnichten eine genuine Neugründung, sondern vielmehr eine formelle Zusammenfassung verschiedener Akademie- und Universitätsinstitute, deren Kern das „Forschungszentrum für Molekularbiologie und Medizin” der Akademie in Berlin-Buch bildete. Innerhalb des Wissenschaftssystems der DDR war es einzigartig, nicht nur wegen seiner Größe, sondern auch, weil es als einziges Großforschungsvorhaben nicht unmittelbar an einen Industriezweig und damit an einen staatlichen Produktionsbetrieb gebunden war. Wie weitreichend der Plan angelegt war, lässt sich auch daran ablesen, dass über 800 Wissenschaftler der Akademie und aus Universitäten und Hochschulen der DDR in „MOGEVUS” zusammengeführt und der Leitung des Ministeriums für Forschung und Technik unterstellt wurden. Insgesamt sollten sich mehr als 2.000 Wissenschaftler an diesem Forschungsverbund beteiligen.

Doch schon bald erwies sich dieses gigantomanische Vorhaben als undurchführbar, da Pläne und Möglichkeiten immer stärker auseinander klafften. Letztlich konnte das ambitionierte Programm aufgrund seiner Komplexität sowie der drastischen Einschränkung der Mittel für die Ausstattung und den laufenden Betriebsbedarf nicht umgesetzt werden. Der Schwerpunkt der Investitionen wurde in die Sozialpolitik verlagert. MOGEVUS scheiterte angesichts eklatanter Mängel in der technologischen Basis biowissenschaftlicher Forschung, insbesondere bei Forschungsgeräten, elektronischer Datenverarbeitung und Laborchemikalien. Nach dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker wurde das neue „Großforschungszentrum” unauffällig wieder demontiert, ehe es nennenswerte Forschungsergebnisse präsentieren konnte.

Mit dem Scheitern von MOGEVUS in den 1970er Jahren endeten auch die Versuche Rapoports, unkonventionelle Strukturen für die Erforschung komplexer biologischer Phänomene und neue Organisationsmethoden zu schaffen. Er scheiterte auch an dem Unwillen der Honecker-Führung, den Forschern Autonomie zu gewährleisten und die Forschung dort großzügig zu fördern, wo sie erfolgversprechend schien. Hinzu kam, dass der ostdeutsche Staat in den 1970er Jahren immer stärker in die Organisation der Forschung eingriff. Letztlich hatte die Einsicht kaum eine Chance, dass in modernen Gesellschaften wirtschaftliches Wachstum und wissenschaftliche Leistungsfähigkeit überwiegend auf nicht sicher planbarer und voraussehbarer Innovation beruht.

* Der Beitrag beruht auf einem von der DFG geförderten Projekt „Biowissenschaften/Biomedizin im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik in der DDR und der Bundesrepublik in den sechziger und siebziger Jahren”, das am Institut für Geschichte der Medizin der Charité von Sabine Schleiermacher geleitet und von Ulrike Thoms und Andreas Malycha bearbeitet wird.

Dr. Andreas Malycha ist Panel-Teilnehmer des Symposiums “Wissenschaft und Wiedervereinigung”. Mehr Informationen findet man auf dieser Homepage.

Kommentare (4)

  1. #1 Thilo Kuessner
    November 17, 2009

    Die institutionelle Zusammenführung bislang regional angesiedelter Forschungseinrichtungen der Universitäten und der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Großforschungszentren bzw. Großforschungsverbänden sollte zur Konzentration des Forschungspotentials führen, eine zentralistische Planung und Leitung der Wissenschaft und einen möglichst effektiven Einsatz der materiellen und personellen Ressourcen ermöglichen, also zur Rationalisierung der Forschung beitragen.
    […]
    Hinzu kam, dass der ostdeutsche Staat in den 1970er Jahren immer stärker in die Organisation der Forschung eingriff. Letztlich hatte die Einsicht kaum eine Chance, dass in modernen Gesellschaften wirtschaftliches Wachstum und wissenschaftliche Leistungsfähigkeit überwiegend auf nicht sicher planbarer und voraussehbarer Innovation beruht.

    Mit ein paar kleineren Änderungen würde vieles auch auf manche aktuellen Entwicklungen zutreffen. Man sollte solche geschichtlichen Beiträge an die heutigen Wissenschaftspolitiker verschicken, sozusagen zur Warnung … (Helfen wird es sicher nichts – wann haben Leute je aus der Geschichte gelernt?)

  2. #2 Thilo Kuessner
    November 17, 2009

    Als Referenzebene für die geplanten „Spitzenleistungen” biowissenschaftlicher Forschungen diente ihm keineswegs die Sowjetwissenschaft, wie dies beispielsweise noch in der Genetik der frühen 1950er üblich gewesen war,

    Dieses Statement überrascht mich etwas. Ich dachte, in der UdSSR der Stalin-Ära galt Genetik als bourgeoise Wissenschaft?
    https://de.wikipedia.org/wiki/Lyssenkoismus

  3. #3 Max Schewe
    November 18, 2009

    Interessanter Beitrag. Da wird wieder einmal deutlich, wie stark die (Forschungs-)Politik dann doch von einzelnen Personen abhängig ist und gestaltet wird. Zu fragen wäre natürlich, welches Verhältnis andere Entscheidungsträger der damaligen Kultus- und Wissenschaftsbürokratie der DDR zum westlich dominierten Wissenschaftssystem hatten.

    @Thilo:

    Kann nur zustimmen. Beispiele für ähnliche Fehlschläge der zentral gesteuerten Forschungsförderung gibt es natürlich zuhauf. In Ost und West!

  4. #4 Andreas Malycha
    November 23, 2009

    Zur Frage nach der Genetik in der Stalin-Ära einige Anmerkungen:

    Das ist durchaus richtig, dass in der UdSSR der Stalin-Ära die Genetik als bourgeoise Wissenschaft galt. Aber für die 1960er Jahre trifft das eben nicht mehr zu. In der DDR wurde schon am Anfang der 1960er Jahre ein wissenschaftspolitischer Kurswechsel vollzogen. So hielt ZK-Sekretär Kurt Hager auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 ein Plädoyer für die Genetik.
    Für die DDR gilt zudem auch in den 1950er Jahren: Der Lyssenkoismus als Theorie- und Methodengebäude konnte auch mit politischen Mitteln als Lehrdoktrin nicht vollständig durchgesetzt werden. Es gab zwar massive politische Eingriffe vor allem an den Hochschulen, aber die kritiklose Übernahme der Thesen von Mitschurin und Lyssenko scheiterte letztlich am unlösbaren Konflikt zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und ideologischer Indoktrination. Die Abwehr der Lyssenko-Doktrin durch die Mehrheit der Fachwissenschaftler hatte hier demonstriert, dass sich die wissenschaftliche Rationalität auch unter ungünstigen Rahmenbedingungen gegen politischen Dogmatismus durchsetzen kann. Gleichwohl hinterließen die Erfahrungen mit dem „Lyssenkoismus“ auch in der DDR tiefe Spuren.