Die meisten Beobachter sind sich einig: es gab kaum eine realistische Alternative zur Art und Weise wie der wissenschaftliche Wiedervereinigungsprozeß ablief. Prof. Dr. Manfred Erhardt war einer der Akteure, die diesen Transformationsprozeß mitgestaltet haben. Der Jurist und Wissenschaftspolitiker war ab 1991 Berliner Wissenschaftssenator.

In diesem Gastbeitrag resümiert er den wissenschaftlichen Vereinigungsprozeß:

Berlin ist heute eine der führenden Wissenschaftsregionen. Beim Exzellenzwettbewerb standen sowohl HU als auch FU auf der Short-List, wobei Letztere gekürt wurde. Die BBAW ist im Verbund mit Leopoldina und Acatech zur National-Akademie erhoben worden. Die Kunst- und die Fachhochschulen spielen an der Spitze ihrer jeweiligen Liga. Der Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Adlershof ist eine blühende Landschaft. Und die außeruniversitäre Forschung floriert in einer Qualität, Dichte und Breite, wie sonst nur noch in Bayern und Baden-Württemberg.

Ich halte deshalb an meiner schon 1993/94 verlautbarten Bewertung fest, wonach die Wissenschaft der Bereich ist, in dem die Wiedervereinigung vergleichsweise am besten und darüber hinaus erstaunlich rasch und gut gelungen ist.

Zu verdanken ist dieser gelungene Erneuerungsprozess dem Einigungsvertrag und dem Wissenschaftsrat, dessen Empfehlungen nicht nur die Ziele, sondern auch die Wege und Instrumente aufzeigten:

So wurden in Berlin

  • eine prominent besetzte Landeshochschulstrukturkommission unter dem Vorsitz von Jürgen Mittelstraß eingesetzt,
  • für alle Fachbereiche Struktur- und Berufungskommissionen gebildet,
  • für jede Hochschule neben den Ist- auch neue Soll-Stellenpläne erstellt,
  • alle Professuren neu definiert und öffentlich ausgeschrieben.
  • Bloße Überleitungen gab es nicht,
  • lediglich das Hausberufungsverbot wurde ausgesetzt.
  • Und zur Erleichterung von Hausberufungen war eine Prognose abzugeben, ob sog. „systembedingte Defizite” (wegen fehlender wissenschaftlicher Austauschbeziehungen, fehlender Literatur, mangelhafter Ausstattung usw.) in einigen Jahren behoben sein könnten. Bei positiver Prognose wurde berufen.

Für die Hausbewerber nachteilig und belastend war es, dass quasi über Nacht neue, nämlich an internationalen Standards orientierte Bewertungsmaßstäbe galten, denen in den Geistes- und Sozialwissenschaften diejenigen kaum genügen konnten, denen der Zugang zur einschlägigen Literatur fehlte, die nicht Reisen und internationale Kontakte pflegen durften.

Aber auch hier gab es Ausnahmen. Ich erwähne beispielhaft den Fall eines Philosophen, dem – wie vielen – das Publizieren verwehrt war, der jedoch erklären konnte, er habe zwar nicht publiziert, wohl aber geschrieben und lege deshalb seine unveröffentlichten Werke als maschinenschriftliche Manuskripte vor, womit er die Berufungskommission überzeugte, aber bei seinen Kollegen aneckte. Er wurde alsbald auf eine C 4-Stelle empfohlen und berufen.
Hatte der Wissenschaftsrat noch 1990 gefordert, selbstkritisch zu prüfen, inwieweit das bundesrepublikanische Bildungs- und Forschungssystem der Neuordnung bedürfe, bevor es einfach auf das Beitrittsgebiet übertragen werde, so setzte der Einigungsvertrag nicht auf Reform, sondern auf Einpassung.

Diese „Einpassung” war eine fast zwangsläufige Folge des von den Repräsentanten der DDR gewünschten „Beitritts”. Und sie war zweifellos die bessere Lösung, auch wenn Jürgen Mittelstraß mit seiner Prophezeiung aus dem Jahre 1993 Recht behielt:

„Am Ende werden wir im Osten nur den Westen wiederfinden – mit seiner Stärke, sprich Wissenschaftsfreiheit, und seiner Schwäche, sprich Reformunfähigkeit.”

Aber gerade diese Reformunfähigkeit wäre es gewesen, die die – heute gleichrangigen – Ost-Einrichtungen einer Geduldsprobe ausgesetzt und die rasche Erlangung internationaler Wettbewerbsfähigkeit verzögert hätte.

Auf der einen Seite steht die Wissenschaftsfreiheit. Auf der anderen die Implementierung all jener Systemmängel und Reformdefizite, die zuvor schon Elend, Bürde oder Nachteil des Westens waren.

Einpassung bedeutete freilich auch die Implementierung all jener Systemmängel und Reformdefizite, die zuvor schon Elend, Bürde oder Nachteil des Westens waren.

Mein Fazit also:

Gelungen ist der Erneuerungsprozess, wenn wir ihn am Maßstab des Hochschulsystems West messen. Misst man ihn aber am Reformbedarf, den auch die West-Hochschulen angesammelt hatten, so sind mit der Einpassung in das West-System auch dessen organisatorische und strukturelle Mängel mit implantiert worden.

Misst man die Ost- und die West-Hochschulen an den Rahmen-, Struktur- und Arbeitsbedingungen von internationalen Spitzenuniversitäten, so fehlt es an Gestaltungsfreiheit, Wettbewerbs-, Qualitäts- und Leistungsorientierung, an Geld und politischer Unterstützung.

Prof. Dr. Manfred Erhardt ist Panel-Teilnehmer des Symposiums “Wissenschaft und Wiedervereinigung”.