“Long Time No See”, wie es bei Raymond Chandler heißt. Mit anderen Worten, ich war anders beschäftigt, nämlich mit dem Umzug vom Konstanz nach Heidelberg. Nach 30 Jahren am See war das nicht so leicht, aber jetzt sind wir eingerichtet und ich kann wieder Bücher lesen (statt sie nur zu ordnen). Und so lese ich die “Denkorte”, die die Max-Planck-Gesellschaft zum 100. Geburtstag ihrer Organisation herausgegeben hat, die sie als Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin begonnen hat. Dies ist hier nicht der Ort, die “Denkorte” zu rezensieren, aber eine Bemerkung mag Interesse finden. Sie betrifft das Vorwort des Präsidenten, der darin meint, die drei Begriffe “Forschen, Lehren, Diskutieren” durch einen ersetzen zu können, nämlich durch “Denken”. Da sollte er seine Denker an ihren Orten mal fragen, was sie davon halten.Historiker hätten dem Präsidenten von dem berühmten Röntgen erzählt, der auf die Frage, was er bei der Entdeckung seiner Strahlen geantwortet hat, er habe nicht gedacht, sondern experimentiert. Der Präsident hat auch nicht gedacht, aber geschrieben. Schön zu lesen.

Kommentare (10)

  1. #1 Sebastian R.
    April 6, 2011

    Ich hoffe dieses Buch auch bald mal in die Hände zu bekommen, da es nämlich einen gewaltigen Teil der deutschen Wissenschaftsgeschichte abdeckt., den ich mir mal wieder zu Herzen nehmen möchte.

  2. #2 tiptoph
    April 7, 2011

    Wer meint, unser Denken fände ausschließlich im Kopf statt, darf ab sofort nicht mehr ins Konzert! Das gilt auch für W.C. Röntgen.

  3. #3 Jörg Friedrich
    April 7, 2011

    Für Röntgen dürfte es noch selbstverständlich gewesen sein, im Sinne der Griechen zwischen dem bios theoretikos und dem bios praktikos zu unterscheiden. Die Lateiner nannten das erste vita contemplativa und das zweite vita activa. (ich führe die griechischen und lateinischen Namen hier auf, weil ihre Bedeutung so schön in den alten Worten erkennbar ist) Griechen und Römer hätten das, was der Präsident da unter “Denken” zusammenfassen will, alles dem bios praktikos, der vita activa, zugeordnet – wie es noch Hannah Arendt in den 1950ern tat.

    Wenn heute ein Präsident einer Forschungs-Gesellschaft meint, beides vermischen oder gleichsetzen zu können, dann zeigt das, wie sehr sich unsere Kultur in den allerletzten Jahrzehnten gewandelt hat. Letztlich läuft dieser Wandel auf eine Abschaffung des bios theoretikos, der vita contemplativa hinaus.

  4. #4 tiptoph
    April 7, 2011

    @ Jörg Friedrich
    Nichts läuft darauf hinaus, dass das eine oder das andere “abgeschafft” wird (¿..?! wie soll das denn gehen?). Die Trennung zwischen beiden Sphären macht aber in vielerlei Hinsicht keinen Sinn (oder wer liest ohne zu denken?). Das heißt aber nicht, dass es eine der beiden Seiten nicht mehr gibt, sondern beide in einem zusammenlaufen, quasi synthetisch gedacht werden, und genau da liegt der angeführte Präsident vollkommen richtig. Selbstredend kann jeder weiterhin “nur in seinem Kopf” denken, aber wer Schreiben nicht auch als Denken betrachtet, der weiss noch nicht so ganz, war er da tut, wenn er blogt. Muss er aber auch nicht – geschenkt!

  5. #5 Jörg Friedrich
    April 7, 2011

    tiptoph, das was Röntgen dort mit “Denken” meinte, und was ich mit dem griechischen bios theoretikos bzw mit dem lateinischen vita contemplativa verknüpft sehe, ist eben nicht das, was ich tue, wenn ich schreibe oder experimentiere – und genau das meine ich mit er “Abschaffung” dieses Denkens. Wir haneln im wahrsten Sinne des Wortes besinnungslos – ohne Besinnung. Das beste jüngste Beispiel ist die Verunglimpfung der Idee eines Moratoriums, dem die meisten in unserem Lande das besinnungslose Abschalten vorziehen, während die meisten anderen auf ein besinnungsloses “weiter so” setzen.

    Sicher wird es auch Röntgen nicht entgangen sein, dass er Gedanken im Kopf hat, wenn er experimentiert, sie dürfen also gewiss sein, dass er mit “Denken” eben etwas anderes meinte, wenn er sagt, dass er nicht denkt, wenn er experimentiert.

  6. #6 tiptoph
    April 7, 2011

    (obwohl wir hier so schön einsam denk…. äh: diskutieren? nee, wir schreiben… ach, egal, jdf. trotzdem die Anrede:)

    Lieber Jörg Friedrich, sicher meinte Röntgen das so – und deswegen lassen wir ihm natürlich seine Konzertbesuche… ;o). Und natürlich müssen wir von Griechen & Römern Gedachtes etc. genau wie er in unser Denken & Handeln mit einbeziehen. Aber wir haben ja im Ggs. zu Röntgen das Glück, nicht nur z.B. unseren Körper heute auch mit einem Bruchteil der Strahlenbelastung (und damit quasi gefahrlos) durchleuchten zu lassen, sondern überhaupt immer und überall ein gutes Jahrhundert Gedachtes mit aufsaugen zu können (z.B. von Villem Flusser). Daher sei darauf hingewiesen, dass es ein Rückschritt ist, den Begriff des Denkens so einseitig zu sehen (schon gar nicht, um sich über jmd. lustig zu machen, der es offensichtlich begriffen hat). Und noch mal: Das heißt nicht, dass das bios theoretikos (etc.) deswegen verschwindet (sonst könnte es hier nicht so aufgeweckte Kommentatoren wie Sie geben!).

    Was das “Abschalten” betrifft noch eine runde Denksport (naja, kleines Aufwärmtrainig): Kann man nur besinnungslos eine Maximalforderung stellen, oder geht das auch besonnen? Und – gesetzt den Fall, dass beides möglich ist – müssen diejenigen, die diese Forderung unter unterschiedlichen Voraussetzungen stellen dann gleichgesetzt werden?

    …und (etwas persönlicher und daher nur ganz am Rande): Wer meint, heutzutage noch besonnen ein Kernkraftwerk einschalten zu können, dessen Vorstellung von Besinnung ist meiner Ansicht nach höchst bedenklich. Das sofortige Abschalten ist natürlich Quatsch, aber das widerspricht sich nicht. Wenn das Kind im Brunnen liegt, muss man es wieder rausholen, und zwar so langsam wie nötig, aber so schnell wie möglich. Und wenn man das Seil dafür nicht hat, muss man schreien. Aber was macht man, wenn dann jmd. (mit oder ohne Seil) kommt, der einem sagt, da läge gar kein Kind… und man guckt noch mal genaur rein und sieht trotzdem eins?

  7. #7 tiptoph
    April 7, 2011

    (obwohl wir hier so schön einsam denk…. äh: diskutieren? nee, wir schreiben… ach, egal, jdf. trotzdem die Anrede:)

    Lieber Jörg Friedrich, sicher meinte Röntgen das so – und deswegen lassen wir ihm natürlich seine Konzertbesuche… ;o). Und natürlich müssen wir von Griechen & Römern Gedachtes etc. genau wie er in unser Denken & Handeln mit einbeziehen. Aber wir haben ja im Ggs. zu Röntgen das Glück, nicht nur z.B. unseren Körper heute auch mit einem Bruchteil der Strahlenbelastung (und damit quasi gefahrlos) durchleuchten zu lassen, sondern überhaupt immer und überall ein gutes Jahrhundert Gedachtes mit aufsaugen zu können (z.B. von Villem Flusser). Daher sei darauf hingewiesen, dass es ein Rückschritt ist, den Begriff des Denkens so einseitig zu sehen (schon gar nicht, um sich über jmd. lustig zu machen, der es offensichtlich begriffen hat). Und noch mal: Das heißt nicht, dass das bios theoretikos (etc.) deswegen verschwindet (sonst könnte es hier nicht so aufgeweckte Kommentatoren wie Sie geben!).

    Was das “Abschalten” betrifft noch eine runde Denksport (naja, kleines Aufwärmtrainig): Kann man nur besinnungslos eine Maximalforderung stellen, oder geht das auch besonnen? Und – gesetzt den Fall, dass beides möglich ist – müssen diejenigen, die diese Forderung unter unterschiedlichen Voraussetzungen stellen dann gleichgesetzt werden?

    …und ganz am Rande: Wer meint, heutzutage noch besonnen ein Kernkraftwerk einschalten zu können, dessen Vorstellung von Besinnung ist meiner Ansicht nach höchst bedenklich. Das sofortige Abschalten ist natürlich Quatsch, aber das widerspricht sich nicht. Wenn das Kind im Brunnen liegt, muss man es wieder rausholen, und zwar so langsam wie nötig, aber so schnell wie möglich. Und wenn man das Seil dafür nicht hat, muss man schreien. Aber was macht man, wenn dann jmd. (mit oder ohne Seil) kommt, der einem sagt, da läge gar kein Kind… und man guckt noch mal genauer rein, und noch mal und noch mal mit anderen, die den Brunnen gut kennen, und sieht trotzdem eins?

  8. #8 Jörg Friedrich
    April 8, 2011

    tiptoph, Sie können den Begriff “Denken” gern so weit fassen, dass auch jegliches Handeln da mit hineinfällt, ich kann aber nicht erkennen in wie fern es ein “Rückschritt” sein soll, eine Unterscheidung aufrecht zu erhalten von Gegenständen, die unterschieden werden können und sollen.

    Was die Besinnung angeht da erlaube ich mir mal, in den Archiven von ScienceBlogs zu graben, in die Zeiten zurückzuschauen als es noch ein Blog “Arte-Fakten” gab, da gab es auch einen Artikel über “Besinnung” und da heißt es

    “Besinnung ist der Mut, die Wahrheit der eigenen Voraussetzungen und den Raum der eigenen Ziele zum Fragwürdigsten zu machen.” schrieb Martin Heidegger in seinem Aufsatz “Die Zeit des Weltbildes” (Holzwege, Seite 75). In einer Fußnote ergänzt er: “Solche Besinnung ist weder für alle notwendig, noch von jedem zu vollziehen oder auch nur zu ertragen. Im Gegenteil: Besinnungslosigkeit gehört weithin zu den bestimmten Stufen des Vollbringens und Betreibens.”
    Besinnungslosigkeit ist hier nicht kritisch oder gar abwertend zu verstehen. Heidegger macht mit seiner Fußnote deutlich, dass ein permanentes In-Frage-Stellen der eigenen Voraussetzungen und Ziele dem Handeln die Kraft nimmt und das Erreichen von Ergebnissen somit unmöglich macht. Diese Einsicht ist uns weniger durch Heidegger, sondern vor allem durch Shakespeares Hamlet vertraut.
    Andererseits ist Besinnung spätestens dann sinnvoll, wenn trotz eifrigen Betreibens wenig vollbracht wird: Dann ist es Zeit, nach der Wahrheit dessen zu fragen, was man vorausgesetzt hat, dann ist es notwendig, den “Raum der eigenen Ziele” zu erkunden.

    Insofern: Es dürfte schwer sein, besonnen eine Maximalforderung zu stellen, es dürfte überhaupt schwer sein, besonnen irgendetwas zu fordern. Besinnung war auch der Grund, warum Arte-Fakten bei ScienceBlogs nicht mehr existiert.

  9. #9 tiptoph
    April 8, 2011

    Nochmal: Ich sage nichts gegen den Hinweis auf eine altbekannte Trennung (allerdings schon dagegen, dass man trennen “solle” – das ist doch wieder eine Ablehnung des Gewonnenen), sondern gegen die Verneinung einer bereits erkannten Synthese (oder wie habe ich dieses müde Lächeln über o.g. MPG-Präsidenten zu verstehen?).

    Und die Forderung “Abschalten” – spätestens nach Fukushima – sehe ich durchaus als eine Frage “nach der Wahrheit dessen (…), was man vorausgesetzt hat” und ebenso als Notwendigkeit, “den ‘Raum der eigenen Ziele’ zu erkunden”.

    (Naja, vielleicht besinne ich mich jetzt auch mal und fordere erst mal von mir selbst meine Arbeitszeit ein…)

  10. #10 Jörg Friedrich
    April 8, 2011

    tiptoph, ich halte das Analysieren, also das Aufteilen, differenzieren, Auseinanderhalten von Phänomenen, die zunächst gleich erscheinen für einen wesentlichen Teil des Philosophierens und damit jedes Zusammenmischen von Differenziertem eben eher als Verlust an Klärung – was Fortschritt und was Rückschritt ist, ist mir dabei genau genommen egal, oft genug ist ja ein Schritt zurück (eine Rück-Besinnung) etwas sehr Erhellendes.