Das italienische Begriffspaar “Traduttore-Traditore” soll erfassen, dass Übersetzen rasch zu einem Verrat werden kann. Übersetzen ist nicht so leicht, wie es vielen Leuten vorkommt, und nicht umsonst ist schon mal empfohlen worden, das Wort mit Bindestrich zu schreiben – also ÜB-ERSETZEN.

Nun soll hier keine allgemeine Theorie der Sprachverwandlung unternommen und nur eine kleine Beobachtung berichtet werden. Neulich in Venedig – wie pompös das klingt – habe ich mir ein Konzert der “Interpreti Veneziani” angehört, die in der Chiesa San Vidal unter anderem Stücke von Vivaldi und Paganini spielten. In dem dazu gehörigen Programmheft lobt der Veranstalter seine geliebte Stadt Venezia als eine unverwechselbare Schönheit, die einzigartig in der Welt dasteht, und zwar deshalb, weil sie sich entwickelt hat mit besonderer Hilfe. Venedig verfügt nämlich über “un codice genetico scritto al di lá del tempo”, wie zu lesen ist. Da die meisten Zuhörer Touristen sind, wird dieser hohe Anspruch vielfach übersetzt. Im Englischen ist von einem “genetic code written beyond time” die Rede, im Französischen kann man von einem “code génétique qui est en Dehors du temps” lesen, im Spanischen erfährt man von einem “código genético escrito más allá del tiempo”, und spätestens jetzt will man endlich wissen, was das auf Deutsch heißt. Und dann die Überraschung. In der deutschen Fassung fehlt der Satz mit dem genetischen Code, und zwar komplett.

Wie gesagt – es geht um ein Programmheft in Venedig und nicht um einen Text mit philosophischem Anspruch. Aber es lässt einen wenigstens schmunzeln, dass ausgerechnet die gründlichen Deutschen beim Übersetzen den Autor verraten, indem sie ihm seinen pompös formulierten Gag klauen. Venedig als Stadt, die sich nach einem genetischen Code entwickelt hat. Was für ein Stuss. Am nächsten Tag sieht man all die vielen Mutationen und Krebsgeschwüre, die es dabei gegeben hat – und natürlich fällt einem spätestens jetzt auf, wie unsinnig es ist, eine Stadt als biologischen Organismus zu verstehen. Venedig hat diesen sprachlichen Unfug nicht verdient, und es ist schön, dass der deutsche Übersetzer das gemerkt und seine Leser verschont hat. Nicht der Übersetzer ist der Verräter, sondern derjenige, der den zu übersetzenden Text verfasst und überladen hat. Beide bleiben anonym. Die Musik klingt durch die Nacht. Sie braucht nicht übersetzt zu werden.