Buchrezension: Gauck, Joachim mit Hirsch, Helga: Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen, München 2009.

Von Zeittaucher-Gastautor Carlos A. Haas*

i-e2834132c7130b9e796518433bc0641e-Gauck1-thumb-300x479.jpg

Joachim Gauck gehört zu den Guten. Dahingehend lässt seine Autobiographie „Winter im Sommer – Frühling im Herbst”, die im Herbst 2009, pünktlich zum 20. Jahrestag des Mauerfalls, im Siedler-Verlag erschienen ist, keinerlei Zweifel aufkommen. Auch die Würdigungen, die er zu seinem 70. Geburtstag am 24. Januar 2010 erfahren hat, machen dies eindrucksvoll bewusst. Dass Bücher aus der Feder schreibender Zeitzeugen dennoch alles andere als unproblematisch sind, wird bei genauerem Hinsehen auch an Gaucks Memoiren deutlich. Ob der Autor zu den Guten gehört oder nicht, ist für die Frage nach einem angemessenen Umgang mit Geschichte eher zweitrangig.

Im ersten Kapitel des weitestgehend chronologisch aufgebauten Buches schildert Gauck seine Kindheit an der Ostsee. 1940 als Sohn eines Kapitäns geboren, wuchs er offenbar unbeschwert und glücklich auf. Die in froher Unbekümmertheit verbrachten Kindheitsjahre bilden einen deutlichen Kontrast zu dem von klein an bewusst als unfrei empfundenen Leben in der 1949 gegründeten DDR. Das Schlüsselerlebnis des jungen Gauck war die Deportation des Vaters in ein sibirisches Internierungslager im Jahr 1951. Seine Gegnerschaft zum SED-Regime ergab sich aus der emotionalen Erschütterung, die dieses Ereignis in ihm auslöste, im Laufe der Schulzeit festigte sich diese Oppositionshaltung intellektuell.

Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit:

Joachim Gauck in der Sternstunde “Philosophie” des Schweizer Fernsehens vom 29. Oktober 2009.

Ereignisse wie z.B. den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 erwähnt Gauck pflichtgemäß als Hoffnungsschimmer im Dunkel der Nacht, es ist völlig klar, dass bereits der Jugendliche die Atmosphäre der Freiheit, die in den Tagen des Aufstands herrschte, erkannte und sehnsuchtsvoll genoss. Als ihm nach dem Abitur der Zugang zum Germanistikstudium verwehrt wurde, entschied er sich für die Theologie. Studium, Kirche und sein späteres Wirken als Pastor waren für ihn nicht zuletzt politischer Schutz- und Freiraum, auf den das Regime keinen Zugriff hatte. Mit dem Ende der DDR, das einen solchen Rückzugsbereich überflüssig machte, hörte Gauck auf, als Pastor zu arbeiten. Hierfür gab es natürlich verschiedenste Gründe, es ist aber dennoch bemerkenswert, dass diese Koinzidenz mit keinem Wort erwähnt wird, besonders, weil der Autor ansonsten zu allem und jedem Stellung bezieht.

So thematisiert ein Kapitel das Phänomen der sog. „Republikflucht”, das vor allem nach dem Mauerbau 1961 an Brisanz gewann. Für Gauck selbst kam die Flucht aus Gründen der Solidarität mit den übrigen „Aufrechten” nicht in Betracht, er blieb in der DDR „nicht weil ich musste, sondern weil ich wollte”. Auch für das relativ lange Funktionieren der DDR und ihren dann um so überraschenderen Zusammenbruch hat Gauck eine Erklärung parat, für die er auf das Eigen-Sinn-Konzept Alf Lüdtkes zurückgreift, ohne es explizit ins Feld zu führen: Trotz innerlicher Distanz zum Regime hätten viele DDR-Bürger das Funktionieren des Staates durch ihre Mitwirkung in parteinahen Organisationen oder gar als Mitglied der Partei möglich gemacht. Der von der SED intendierte Sinn dieser Handlungen sei hierbei aber von jedem Einzelnen durch einen eigenen, die jeweilige Distanz aufrechterhaltenden Sinn, eben den Eigen-Sinn, ersetzt worden. Und so sei es letztlich keine Überraschung gewesen, dass sich dieser Eigen-Sinn am Ende der 1980er-Jahre Bahn brach und zum Zerfall der DDR von innen heraus führte. Beide Sichtweisen, die Haltung zur Flucht in den Westen ebenso wie der Eigen-Sinn-Ansatz, scheinen im Jahr 2009 nicht mehr sonderlich originell. Die auf den ersten Blick eindrucksvolle, predigerhafte Sprache verschleiert hier wie auch an anderen Stellen die Konventionalität des Gesagten.

Vor allem aber eines wird nicht ohne eine gewisse unterschwellige Penetranz transportiert: Joachim Gauck zählt sich zu den Aufrechten und Freiheitsliebenden, Gerechten und Anständigen, schon immer und von Anfang an. Das mag nicht falsch sein, und Gaucks Wirken in der DDR demzufolge auch aller Ehren wert. Leider wird jedoch aus dieser Position sozusagen durch die Hintertür die Deutungshoheit über 40 Jahre DDR-Geschichte abgeleitet. Und das ist eines der Hauptprobleme von Gaucks Autobiographie, wie es letzten Endes jeder Zeitzeugenäußerung innewohnt: Das eigene Miterleben der Ereignisse, an prominenter Stelle und moralisch völlig integer, soll als Legitimation für die Interpretation von Geschichte ausreichen. Einem Leser, der ein entsprechendes Buch in seiner Freizeit, als Nebenbeschäftigung „einfach so zum Spaß” liest, und der womöglich noch wie im vorliegenden Fall von einer stark emotionalisierenden Sprache angerührt wird, fällt vielleicht gar nicht auf, wie ihm ein fix und fertiges Geschichtsbild untergejubelt wird, das keine kritische Reflexion, sondern bestenfalls wohlig bestätigendes Nicken auslöst.

Joachim Gauck bei der Friedrich-Naumann-Stiftung (26. Januar 2009).

Ein zweiter Punkt, der Gaucks Autobiographie stellenweise nicht ganz unproblematisch macht – zumindest bei vorhandener Bereitschaft, ein klein wenig selbständig zu denken – ist der starke Automatismus, dem seine Darstellung unterliegt. In der zweiten Buchhälfte, die der Zeit nach 1989/90 vorbehalten ist, wird dies u.a. an der Frage nach dem geeigneten Zeitpunkt für eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten deutlich. Gauck war natürlich von Anfang an für die schnellstmögliche Wiedervereinigung, selbst als deren Realisierbarkeit noch in weiter Ferne schien. Auch wenn Gauck tatsächlich schon im Herbst 1989 für diese Option plädierte, so wirkt die Darstellung in ihrer zielgerichteten Geradlinigkeit beinahe platt. Es kann und soll Joachim Gauck hier beileibe nicht unterstellt werden, es handle sich um Schönfärberei. Sicher ist Gauck restlos von dem Wert seines Wirkens überzeugt, das hier ja auch in keiner Weise in Frage gestellt werden soll. Es muss aber dennoch die Überlegung erlaubt sein, inwiefern eine solche – zwangsläufig vereinfachende – Stringenz der Komplexität, die viele Sachverhalte im Kontext der DDR-Geschichte aufweisen, gerecht werden kann.

Den Aufbau der Behörde für die Stasi-Unterlagen, deren erster Leiter Gauck war und die im Volksmund nach ihm benannt wurde, schildert der Autor im letzten Drittel des Buches. Er lässt die Anfechtungen, denen die Behörde nicht nur in ihrer Anfangszeit ausgesetzt war, Revue passieren, so etwa die Vorwürfe, Behörde und Leiter stünden im Dienste von Siegerjustiz oder Gauck sei zum Verräter an der eigenen Sache geworden, was nicht zuletzt von ehemaligen Weggefährten aus dem Umfeld des Neuen Forums oder des Bündnis 90 artikuliert wurde. Selbstverständlich hat Gauck hierauf Erwiderungen anzubieten, denen man sich nur zu gerne anschließt, um wieder einmal behaglich feststellen zu können, dass man auch auf der Seite des Guten steht – genau wie Gauck. Dessen Position gründet sich eigentlich gar nicht so sehr auf Argumente, sondern vielmehr auf seine moralische Integrität. Dieses Selbstverständnis spricht aus einem kurzen Satz, der im Zusammenhang mit der Arbeit in der Gauck-Behörde fällt: „Wir haben uns als Leuchttürme der Aufklärung verstanden.”

„Winter im Sommer – Frühling im Herbst” ist die persönliche Geschichtsinterpretation eines unbestritten verdienstvollen Zeitzeugen. Dies gilt es sich bewusst zu machen. Wie gesagt: Die Anerkennung des Denkens, Handelns und Wirkens Joachim Gaucks nicht nur in der Wendezeit und danach, sondern auch in der kirchlichen Opposition in der DDR soll hier nicht geschmälert werden. Dennoch drängt sich nach der Lektüre dieser Autobiographie eine kritische Frage auf: Inwiefern kann ein solches Buch dazu beitragen, bei den Lesern ein Reflektieren über diese für das Selbstverständnis des wiedervereinigten Deutschlands so wichtige Zeit auszulösen, ein Reflektieren, das gleichzeitig ein bewusstes und daher auch langfristigeres Weitererinnern bedeutet? Oder leistet es nicht doch vielleicht – sicherlich ungewollt – einer Mentalität Vorschub, die sich mit einem pflichtgemäßen Betroffenheitsgefühl pünktlich zum Mauerfalljubiläum zufrieden gibt, um dann wieder zur Tagesordnung übergehen zu können?

* Carlos A. Haas
Kontakt E-Mail

Der Rezensent wurde 1985 in Guatemala-Stadt, Guatemala, geboren und wuchs im unterfränkischen Aschaffenburg auf. Nach dem Abitur im Jahr 2004 arbeitete er ein Jahr als freier Mitarbeiter in der Kulturredaktion einer Regionalzeitung. Zum Wintersemester 2005/2006 begann er an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg das Studium der Fächer Musikwissenschaft und Mittlere und Neuere Geschichte. Im Wintersemester 2007/2008 studierte er an der römischen Universität La Sapienza und ist außerdem seither Sänger in der 1513 von Papst Julius II. gegründeten Cappella Giulia, dem liturgischen Chor der Peterskirche zu Rom. Das Musizieren als Chorsänger und Klarinettist gehört zu seinen bevorzugten Freizeitbeschäftigungen.

Zu seinen fachlichen Schwerpunkten zählen Musiktheater (v.a. Händel und Wagner) und Kirchenmusik, außerdem Überlegungen zur allgemeinen Methodik der (Musik-) Geschichtsschreibung. Weiterhin stehen die Papstgeschichte des hohen und späten Mittelalters sowie die Zeitgeschichte im Mittelpunkt seines Interesses. Seit 2007 ist Carlos A. Haas Stipendiat des Cusanuswerks. Als Mitglied des Leitungsteams der Fachschaft Musik im Cusanuswerk hat er zwei Fachtagungen mit vorbereitet und durchgeführt. Praktika in den Bereichen Wissenschaft, Wissenschaftsorganisation und Kulturmanagement vervollständigen seine extracurricularen Qualifikationen.

Der “DDR-Ausflug” – Berliner Abendschau vom 16. Oktober 1984.