Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009.

Von Claudia Kruhl (Universität Heidelberg)

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Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler erläutert in seinem Buch „Die Deutschen und ihre Mythen” den Zusammenhang von Mythen mit den großen historischen Ereignissen der Deutschen. In fünf Kapiteln folgt er dabei der politischen Mythenbildung.


Von Tacitus bis zum Rhein

Die Nationalmythen, wie Kaiser Barbarossa, die Nibelungensage oder Faust, werden im ersten Kapitel behandelt. Das zweite, mit der Überschrift „Ein Kampf gegen Rom”, zeigt den Versuch, durch Abgrenzung eine „germanische” Identität mit Hilfe der Mythen zu schaffen. Als Beispiele dienen Tacitus, Arminius, Luther und Kaiser Heinrich IV. in Canossa, die alle im Streit mit Rom lagen. Im dritten Kapitel wird Preußen in den Vordergrund gerückt mit Friedrich dem Großen, Königin Luise und der deutschen Sonderrolle. Das vierte Kapitel unterscheidet sich insofern von den anderen, als Münkler sich auf historische Orte konzentriert: die Wartburg, Weimar, Nürnberg, Dresden und natürlich den Rhein. Hier nimmt er immer wieder Bezug auf die vorangegangenen Kapitel.

Antifaschismus und Wirtschaftswunder

Zuletzt untersucht er die politischen Mythen nach dem Zweiten Weltkrieg. Genannt seien hier der „antifaschistische Widerstand” als Gründungsmythos der DDR und der „Gegenmythos” der Bundesrepublik: das „Wirtschaftswunder”. Im letzten Abschnitt betrauert Münkler des Weiteren die Ablösung des Mythos durch Schlagzeilen und Kampagnen. Und genau darin liegt auch die Schwäche des Buches: Gleich zu Anfang stellt er fest, dass Deutschland, ganz im Gegensatz zu seinen europäischen Nachbarn und den USA, kaum Mythen aufzuweisen hat und es keinen Gründungsmythos für die Bundesrepublik gebe. Frankreich habe stattdessen seine Französische Revolution und die Vereinigten Staaten ihren Unabhängigkeitskrieg – und diese positiven Bilder überlagerten jede negative Phase in der Geschichte der beiden Staaten.

Fehlender Gründungsmythos für die Bundesrepublik

Münkler möchte nun unbedingt einen Gründungsmythos für die Bundesrepublik Deutschland finden, da er der Meinung ist, das Selbstbewusstsein einer Nation speise sich aus politischen Mythen oder umgekehrt, „in politischen Mythen wird das Selbstbewusstsein eines politischen Verbandes zum Ausdruck gebracht”. Durch dieses Bedürfnis wird der Eindruck erweckt, dass die vorausgegangene Analyse der Mythen nur diesem Zweck dient, einen geeigneten Gründungsmythos zu erschließen. Dazu erforscht Herfried Münkler die deutschen politischen Systeme der Vergangenheit und ihre Mythen, um festzustellen, dass diese im Grunde nur ins Negative geführt haben, wie zum Beispiel die Absicht, die „heroische Opferbereitschaft der Jugendlichen” im Dritten Reich mit dem Nibelungenlied zu fördern, oder der Ehrenkodex der Germanen, niemals in der Schlacht den Tod des Anführers zu überleben. Diese Idee findet sich in der Kapitulationsverweigerung der 6. Armee 1943 in Stalingrad wieder.

Mythos-Begriff wird nicht für die Gegenwart definiert

Münkler will aus diesen misslungenen Modellen lernen, ohne aber zu erläutern, wie das aussehen könnte. Er hätte einen Ansatz darlegen können, wie die Deutschen wieder einen Zugang zu politischen Mythen bekommen könnten. So stellt sich dem Leser die Frage, ob wir heutzutage überhaupt Mythen brauchen, da bis jetzt die Demokratie in Deutschland auch ohne großen Bezug auf Mythen funktioniert hat. Ein anderes Problem ist der Begriff „Mythos”. Obwohl das Buch letztendlich flüssig und gut zu lesen ist, wird das Hineintauchen in das Thema dadurch erschwert, dass der Autor sich nur ansatzweise mit diesem Begriff beschäftigt. Die genaue Erklärung und Bedeutung eines Mythos an sich lässt sich in seinen Ausführungen in der Einleitung schwer entschlüsseln. Nichtsdestotrotz ist das Buch durchaus interessant geschrieben, mit vielen weiterführenden Anmerkungen und Literaturhinweisen.

Kommentare (7)

  1. #1 danker
    Mai 2, 2010

    Meinetwegen haben wir im Vergleich zu Amiland keine Mythen aber wir haben Geschichte. 😉
    Habe schon einige Amis und Kanadier durch ältere deutsche Städte geführt und wenn die begreifen das die Steine dort länger liegen als ihre Länder alt sind – helfen auch keine Mythen mehr. So gesehen sind die Mythen nur ein Ausgleich für fehlende Geschichte und sogleich befreit uns unsere mehr tausendjährige Geschichte davon Mythen bemühen zu müssen.
    Aus Geschichte kann man lernen, ob dies auch so für Mythen gilt?

  2. #2 WeinuFeinkost
    Mai 2, 2010

    Ich denke unsere Geschichte ist mit herausragenden Persönlichkeiten nur so gespickt. Mythen müssen gar nicht hinzugezogen werden. Leider überlagert eine nicht herausragende Persönlichkeit, immer noch viele andere. Wenn mann sich mal auf die wahren Größen besinnen würde ( auch im Ausland ), dann haben wir genug Potential um es mit (fast) jeder anderen Nation aufnehmen zu können. Und vielleicht sogar den ein oder anderen Mythos:) Natürlich geschichtlich gesehen….

  3. #3 Stefan
    Mai 2, 2010

    Also ich würde sagen, für die moderne Bundesrepublik ist doch Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Antifaschismus und Wiedervereinigung genug Stoff, um den Ist-Zustand historisch einzuordnen.

    Was einen Mythos für die Deutschen anbelangt, so sehe ich einen großen Trend zum europäischen Mittelalter. Die Germanen scheinen nicht so richtig zu ziehen, weil sich mit ihnen kein romantisch-verklärtes Bild städtischen Lebens verknüpfen lässt. Die Entstehung der Städte mit ihren ersten freien Bürgern, Handwerkern und Kaufleute neben dem (Raub-)Rittertum, das ist ein Thema, das zumindest auf dem Buchmarkt sehr gut funktioniert. In Deutschland (und wohl auch bei unseren Nachbarn) gelten Städte um so schöner, desto mittelalterlicher sie wirken. Die Zeit zwischen Mittelalter und Gründung der Bundesrepublik scheint in der Wahrnehmung der Deutschen dagegen so gar nicht “sexy” zu sein.

  4. #4 G.J.
    Mai 2, 2010

    Das große Problem sehe ich darin, dass Deutschland keine Gründungsmythen hat, die in irgendeiner Weise mit der europäischen Aufklärung in Verbindung stehen. Sowohl die amerikanische Unabhhängigkeitserklärung als auch die französische Revolution waren die versuchte Umsetzung von bürgerlicher Aufklärung (mit allen Fehlentwicklungen, die damit verbunden waren). Diese Mythen bilden auch heute noch die Möglichkeit, das Projekt der Aufklärung weiterzuführen. Die deutsche Geschichte kennt zwar Aufklärer, jedoch keine erfolgreiche bürgerliche Aufklärung.

  5. #5 Stefan W.
    Mai 4, 2010

    Wenn ich mir anschaue, wie zum Tag der dt. Einheit immer wieder die gleichen Bilder vom Mauerfall abgespult werden, und wie das ganze kaum mit politischer Analyse unterlegt wird, sondern als gefühlsduselige Story mit Happy End, Genscher auf dem Balkon usw. – mhm. Was dann?

    Dann sind die großen Ziele der Einheit Reisefreiheit und Marktwirtschaft gewesen. Die Anführer des Widerstands wollten auch Meinungsfreiheit, freie Wahlen und Demokratie – aber der Masse ging es um weniger.

    Ich zweifle, daß man so einen Mythos braucht – nur weil die Franzosen einen haben, die Schweizer und die Amis – haben die Briten einen, die Italiener, Spanier, Polen?

    Blöd ist nur, wenn man andere darum beneidet.

  6. #6 Kritias
    Mai 25, 2010

    Blöd ist nur, wenn man andere darum beneidet.

    Sehr richtig, das sehe ich auch so. Leider ist das Thema viel eingehender.
    Nicht zu allen Zeiten gab es “Nationen”, bzw. waren diese nicht so wichtig. Warum denken so wenige darüber nach? Identität durch Nationalität? Ich persönlich finde das sehr flach, und wird vor allem von jenen für wichtig empfunden, denen es an sonstiger Identität mangelt. Es wird doch an allen Orten und Enden, vor allem im Netz eingeredet, dass Nationalität so wichtig wäre. Was für ein Unsinn denke ich da immer. Daraus folgt auch eine krampfhafte Suche nach Mythen. Nationale Mythen werden dann vorzugsweise vor 1933 gesucht, weil es sonst verdächtig ist, und mit plattem Sachverstand kommt man vor 1918 an, – weil kein Nationalsozialismus, – weil kein Hitler.

    Da man aber auch da nicht gerade demokratisch dachte und handelte, wird nun das Bild dieser “Nationalen Zeit” mit Kaiser und Heer verklärt, bzw. passend gemacht (“es war nicht alles schlecht”) Das geschieht auch durch das “Geschichts-Entertainment” des Fernsehens.

    Die Mittelalterszene hält es ähnlich. Ständegesellschaft ist hier kein Thema, man sucht “Helden”. Auf Märkten verkauft man sich als die authentischen “Geschichtsvermittler”

    Ich sehe überhaupt nicht ein, mich mit meinen Mitmenschen, Volksvertretern, Bank-Managern usw. zu identifizieren nur weil sie meine Sprache sprechen! Nationalismus war einmal notwendig, um die Masse dirigieren zu können, um Feindbilder ausmachen zu können. Wozu Nibelungentreue? Um das Denken auszuschalten?

    Irgendwie sollte man die Verbindung zur Aufklärung zu schaffen. Allerdings gelingt das nicht durch Hohenzollern-Schlossfassaden an einem Humboldt-Forum in Berlin, noch durch neue Pseudofachwerkhäuser in Frankfurt …

  7. #7 goedekaer
    November 10, 2011

    Auch die Bundesrepublik hat einen Gründungsmythos. Er heißt nur nicht ‘antifaschistischer Widerstand’ wie bei der DDR, sondern für die BRD heißt er “Zusammenbruch und Wiederaufbau” oder “Befreiung” Der Begriff ‘Zusammenbruch’ setzt ein intaktes Gefüge voraus, über dessen totale Zertsörung blankes Entsetzen, Verzweiflung und Resignation herrschen. ‘Der Begriff ‘Wiederaufbau’ meint genau das, was er sagt: Wiederherstellen der alten und liebgewonnenen Strukturen. In einem Interview aus dem Jahre 1949 hat Bischof Dibelius, Ratsvorsitzender der EKD, sinn gemäß gefragt, was uns denn anderes übrigbliebe, als dort wieder anzufangen, wo wir 1933 aufhören mußten. Nationalsozialismus als politisch-geistiger Betriebsunfall? Die Nichtaufarbeitung der NS-Zeit in der Adenauer-Ära spricht beredte Bände. Der Begriff ‘Befreiung’ suggeriert, daß alle die NS-Zeit als eine schreckliche Zeit der Unterdrückung empfunden haben. Wie kam es aber dann zu einer massenhaften Zustimmung zum Regime Hitler? Zusammenbruch, Wiederaufbau und Befreiung, das sind die mythischen Grundbegriffe, mit denen das ‘Wirtschaftswunder’ und die ‘Soziale Marktwirtschaft’ der Bevölkerung als Zukunftsvisionen erklärt wurden.