Nationalsozialistische Verbrechen – Historische Aufklärung immer noch nicht abgeschlossen

Zeittaucher-Interview mit Prof. Dr. Wolfram Wette. Siehe dazu auch den am 21.4.2011 erschienene Bericht “Der unauffällige Massenmörder aus der Nachbarschaft“.

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Der Historiker und Holocaust-Experte Prof. Dr. Wolfram Wette. (Foto: privat)

Wie konnte der SS-Verbrecher Karl Jäger von 1945 bis 1959 unbehelligt von der Öffentlichkeit in Wiesenbach und auf dem Kümmelbacher Hof bei Neckargemünd leben? Hatte er unter Umständen Unterschlupf bei alten Kameraden gefunden?

Jäger befürchtete, dass die Strafverfolgungsbehörden in seiner Heimatstadt Waldkirch i. Br. nach ihm suchen könnten, und hoffte, dass er im Raum Heidelberg unentdeckt bleiben könnte, wo er über einen verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkt verfügte. Bemerkenswert ist, dass er es nicht für erforderlich hielt, ins Ausland zu fliehen oder unterzutauchen und eine neue Identität anzunehmen. Die Tatsache, dass der Massenmörder Karl Jäger nach dem Kriege insgesamt vierzehn Jahre unter seinem richtigen Namen ein verhältnismäßig ruhiges und ungestörtes Leben führen konnte, wirft natürlich Fragen nach dem Umgang der westdeutschen Gesellschaft mit NS-Verbrechern in den 1950er Jahren auf.

Der Filmregisseur Wolfgang Staudte brachte die Lage so auf den Punkt: „Die Mörder sind unter uns.” Keiner fragte nach, niemand wollte Genaues wissen. Beschweigen und beredte Unbußfertigkeit waren angesagt. Wenn nötig, deckte man sich gegenseitig. Der Verwalterin des Kümmelbacher Hofes hatte Jäger nicht verschwiegen, dass er bei der SS und Kommandeur der Sicherheitspolizei „im Osten” gewesen war. Sie hat dieses Wissen offenbar für sich behalten. Hier kann man beobachten, wie die vormals propagierte Idee der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft” auch noch viele Jahre nach Kriegsende im realen Verhalten der Deutschen nachwirkte.

Was war Ihre Motivation, die Lebensgeschichte des SS-Verbrechers zu rekonstruieren?

1989 gab mir ein Waldkircher Heimatforscher den vagen Hinweis, dass der hier beheimatete SS-Offizier Karl Jäger „irgendetwas mit den Juden in Litauen zu tun gehabt” habe. Da ich seinerzeit als Historiker im Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) in Freiburg beschäftigt war, hatte ich raschen Zugriff auf die SS-Ranglisten, in der Jäger verzeichnet war. In Adalbert Rückerls Buch „NS-Prozesse”, 1971 in Karlsruhe erschienen, fand ich den Faksimile-Abdruck des handschriftlich unterzeichneten „Jäger-Berichts” vom 1. Dezember 1941. Überschrift: „Gesamtaufstellung der im Bereich des EK. 3 [Einsatzkommando] bis zum 1. Dez[ember] 1941 durchgeführten Exekutionen.” Hier meldete Jäger seinem Vorgesetzten, dass bislang im deutsch besetzten Litauen 137346 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet worden seien. Als ich diese Fakten in Waldkirch veröffentlichte, erntete ich weit mehr Beschimpfungen und Verunglimpfungen als Dank für die aufklärerische Arbeit. In der Stadt der Orgeln („Waldkirch klingt gut”) schien man sich informell auf die Lesart verständigt zu haben: „Hier war doch nichts los.” Die schlechte Nachricht wurde angstvoll abgewehrt.

Die verweigerte Erinnerung „vor Ort” forderte mein Selbstverständnis als kritischer Historiker heraus. Zwar kannte ich die alte Regel, dass man tunlichst nicht über die NS-Geschichte jener Gemeinde forschen soll, in welcher man wohnt. Der Fall der Anna Rosmus aus Passau hatte exemplarisch gezeigt, welche Widerstände gegen eine lokale Aufklärungsarbeit mobilisiert werden können. Andererseits, so glaubte ich, ließe sich am Beispiel des Waldkircher Nazi-Führers Karl Jäger deutlich machen, dass auch die NS-Täter unterhalb der Führungsspitze der SS aus der Mitte der Gesellschaft kamen, in diesem Falle mitten aus der – stark vom politischen Katholizismus geprägten – Schwarzwald-Kleinstadt Waldkirch. Ich habe dann zwei Jahrzehnte lang neben meiner sonstigen wissenschaftlichen Forschungstätigkeit her aus eigenem Antrieb und auf eigene Kosten Informationen über Jäger gesammelt, besonders in Ludwigsburg, Wiesbaden und in Litauen, und einen regen Austausch über den Fall Jäger mit Historikern aus verschiedenen Ländern gepflegt. Uwe Neumärker, der Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, gab schließlich den letzten Anstoß, das Buch „Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden” zu schreiben. Es erscheint nun zum 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 in der „Schwarzen Reihe” des Fischer-Taschenbuch-Verlages in Frankfurt/Main.

Wie erklären Sie die Probleme bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit und der Person Jägers in ihrer „gemeinsamen” Heimatstadt Waldkirch?

Was die Waldkircher in dem knappen halben Jahrhundert zwischen 1941 bis 1989 über Jägers mörderische Tätigkeit in Litauen wussten, ließ sich nicht ermitteln. Als die Mordbilanz 1989 bekannt wurde, war nicht etwa eine neugierige Nachfrage nach weiteren Informationen zu beobachten, sondern vielmehr eine angstvolle Abwehr. Man befürchtete offenbar, die Verknüpfung der Geschichte dieses Massenmörders mit dem Namen der Stadt könne deren Image als Fremdenverkehrsort schaden. In der Erinnerung der Älteren, die Jäger aus den 1920er- und 1930er-Jahren persönlich kannten, als er am Ort die NSDAP und einen SS-Sturm aufgebaut hatte und daher der „Hitler des Elztals” genannt wurde, war er eine rundum positive Gestalt. Sie schildern ihn als einen feinsinnigen, musikalisch begabten, charakterfesten, immer korrekten, politisch engagierten und führungsstarken Mann, als Schwarm der Frauen zudem. Nun kollidierte diese Erinnerung mit den dramatischen historischen Fakten. Die Zeitgenossen Jägers hatten wohl das Gefühl, ihnen werde nun etwas genommen. Die Chance, diesen Konflikt zu bearbeiten, wurde nur im Geschwister-Scholl-Gymnasium der Stadt ergriffen. Mit solchen Schwierigkeiten der Aufarbeitung der NS-Zeit steht die Heimatstadt von Karl Jäger gewiss nicht allein. Die Tendenz, die Täter zum Verschwinden zu bringen, ist allerorten mit Händen zu greifen. Historische Aufklärung ist daher eine bleibende Herausforderung.

Kommentare (1)

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    April 22, 2011