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In meinem Eintrag zur Frage, was eigentlich die Realität in den Sozialwissenschaften ist, hat sich eine interessante Diskussion entwickelt. In deren Verlauf wurden auch konstruktivistische Strömungen erwähnt. Ich möchte hier ein Beispiel anbringen, wie wichtig dieser Blickwinkel sein kann.

Das Beispiel stammt aus den Internationalen Beziehungen und ist schon etwas älter. Aber bevor ich zurück in die frühen Neunziger Jahre gehe, zuerst eine kurze Erklärung für diejenigen, die die gängigen Denkschulen in den internationalen Beziehungen nicht kennen.1

Realisten konzentrieren sich auf Staaten und beschäftigen sich vor allem mit deren Macht. Gemäss den Realisten verfolgen Staaten ihre Eigeninteresse mit rationalen Strategien. Dementsprechende Fakten werden zum unterlegen einzelner Hypothesen gesucht. Konstruktivismus in Internationalen Beziehungen hingegen (häufig auch Critical Studies genannt) betrachtet (viele) solcher Fakten als sozial konstruiert und bestreitet, dass es sich um wirkliche ‘Fakten’ handelt. Die meisten Konstruktivisten, die ich getroffen habe verneinen nicht, dass es auch eine mehr oder weniger objektiv feststellbare Realität gibt und variieren vor allem in ihren Ansichten, wieviel dieser Realität konstruiert sei.

Aber nun zum eigentlichen Beispiel: Der Krieg um die Desintegration Jugolsawiens im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde oft als ‘ethnischer Konflikt’ qualifiziert (genau genommen änderte die Qualifizierung im Verlaufe der Zeit). Als was ein Konflikt wahrgenommen wird, hat aber einen riesigen Einfluss auf die Wahl der Rezepte zur Konfliktsbeilegung.

Die im Kalten Krieg im Denken der Realisten ausgebildeten Berater der Administration Clinton übertrugen das Staatenkonzept auf diese Art von Konflikt. Da es in diesem Denken nicht wirklich eine Ebene unterhalb des ‘Staates’ gibt, wurden die Einheiten entsprechend verkleinert. Ethnische Gruppen wurden als feste Grösse angesehen und als klar von einander unterscheidbar wahrgenommen. In diesem Denken entstehen bei einer starken Durchmischung dann Sicherheitsdilemmas. Das heisst, jede Massnahme zur Erhöhung der eigenen Sicherheit hat auch offensives Potential und erhöht somit die Unsicherheit der anderen Gruppe, die wiederum die eigene Sicherheit mit ähnlichen Massnahmen zu erhöhen versucht. Was tut man also um die Sicherheit der Menschen zu garantieren? Man versucht die Gruppen von einander zu trennen, baut Mauern und zur Not muss man die Menschen zwangsverschieben (das Wort ‘Deportation’ vermeidet man wohl bewusst).2

Es waren vor allem Vertreter der Critical Studies die diesen Identitätsbegriff in Frage stellten. Identitäten sind unscharf, können sich überlagern oder sogar im Widerspruch zu einander stehen. Im ehemaligen Jugoslawien, war es kaum ein Thema, Mischehen waren häufig und die Kinder solcher Ehen können nicht einfach in eine der zwei Gruppen zugeteilt werden. Ich habe andernorts schon auf die Probleme mit diesem sich hartnäckig haltenden angeblich so ‘objektiven’ Ethniebegriff hingewiesen (einmal zum Kongo und einmal zu Senegal).3 Es ist vielleicht entlarvend, dass zum Beispiel in Nordirland oder auch im Baskenland diese Leute nie Zwangsumsiedlungen als Lösung vorgeschlagen haben.

Nicht zuletzt dank solcher Kritik wurde die Mauerbau-Politik hinterfragt und auch später empirisch widerlegt.4 Dies wäre wohl auch ohne Critical Studies gegangen. Diese bieten keine allumfassende Theorie um die internationalen Beziehungen zu erklären, bringen aber eine unbedingt notwendige Kritik ein, die zum Überdenken von vermeintlichen Wahrheiten zwingt. In einem Feld in dem Falsifikation nicht immer einfach ist, ein extrem wichtiger Beitrag.

1Die Erklärung ist sehr oberflächlich und soll nur dazu dienen, den Post verständlich zu machen. Es ist mir bewusst, dass diese Erklärungen den angesprochenen Konzepten nicht gerecht werden und es einiges mehr an Differenzierung nötig wäre.
2Ein Beispiel: Chaim Kaufmann, “Possible and Impossible Solutions to Ethnic Civil Wars,” International Security , 20:4, Spring 1996, 136-175.
3Siehe zum Beispiel: Stathis Kalyvas, “The Ontology of ‘Political Violence’: Action and Identity in Civil Wars,” Perspectives on Politics , 1:3 (September 2003), 475-494.
4Eine empirische Studie zum Thema ist z.B.: Nicholas Sambanis, “Partition as a Solution to Ethnic War: An Empirical Critique of the theoretical Literature,” World Politics , 52 (July 2000), 437-483.

Kommentare (4)

  1. #1 Christian A.
    Dezember 12, 2008

    Höchst spannend! Ich weiß gar nicht, was Sie haben, als sie von der Objektivität der Naturwissenschaften schwärmten 😉 Spannend ist es allemal, wenn man einen Ansatz für die Erklärung des Verhalten der politisch aktiven Parteien in diesem Konflikt hat. Wenn man das ganze auf eine Denkschule zurückführen kann, ist doch wunderbar!

    Ich habe von Geisteswissenschaften keine Ahnung. Aber ich unterhalte mich ganz gerne mal einem Freund von mir, der Kulturwissenschaften studiert hat, und was er erzählt bringt mich auch immer wieder zum Nachdenken.

  2. #2 Jane
    Dezember 14, 2008

    Wirklich schön erklärt Ali, so einfach wie möglich, trotzdem angemessen. “Ethnizität” ist ein Paradebeispiel für konstruierte Realität und kann dramatische Folgen haben. Siehe Hutu und Tutsi, die von zwei verschiedenen Klassen (Bauern und Adel) zu unterschiedlichen Ethnien gemacht wurden, denen die Kolonialherren auch noch unterschiedliche “rassische Wertigkeit” zusprachen (Tutis = “höherwertige” Hamiten, Hutu = “minderwertige” Bantu).

  3. #3 Thilo
    Dezember 14, 2008

    Ich stimme dem Beitrag im Grundsatz natürlich zu. Die Anwendung auf den Jugoslawien-Krieg finde ich aber etwas konstruiert.
    Es waren doch nicht die Clinton-Berater, die den Ethnienbegriff in den Jugoslawien-Konflikt eingeführt haben, sondern diese “ethnischen” Konflikte sind eher von innen heraus in Jugoslawien entstanden.
    Daß der Ethnienbegriff aus den von Dir genannten Gründen fragwürdig ist und es bei “ethnischen” Konflikten in Wirklichkeit meist um irgendetwas ganz anderes geht, ist natürlich richtig. Aber SUBJEKTIV ist dies doch ab ca. 1980 in Jugoslawien offensichtlich ein “wichtiges” Thema gewesen. Die Frage ist natürlich, warum das damals plötzlich wieder zum Thema wurde.
    Vielleicht habe ich den Post hier mißverstanden, aber jedenfalls kann ich mir kaum vorstellen, daß die Entwicklungen in Jugoslawien mit der Vorherrschaft der einen oder anderen Denkschule zu tun haben. Die USA hat sich doch erst ab 1999 in den Krieg eingeschaltet.

  4. #4 ali
    Dezember 15, 2008

    @Thilo
    Du hast natürlich völlig Recht, die ‘Ethnisierung’ fand vorher statt (schliesslich basierte auf dieser ‘Idee’ ein grosser Teil des Konfliktes) und es lag mir fern zu behaupten, dies sei von den Clinton Leuten erfunden worden.

    Es ging mir um die Annahmen zur (sozialen) Faktenlage die getroffen wurden. Ethnische zugehörigkeit wurde eben nicht als soziales Konstrukt betrachtet, sondern als biologisches Faktum. Darauf wurden dann bekannte Konzepte angewendet (Sicherheitsdilemma zum Beispiel), die für klarer definierte Einheiten (Staaten) früher schon angewendet wurden. Dies führte dann zum Dayton Abkommen (1995), bei dessen Entstehung die Administration Clinton die treibende Kraft war. Die Grundzüge des Abkommens kristallisierten sich aber schon früher in den 90ern heraus (die Papa-Bush Administration war vorerst skeptisch, aber ich vermute sie hätten gleich wie die Clinton Leute gehandelt 1995). In diesem Abkommen wurde die Trennung der Gruppen (häufig als ‘Kantonisierung’ bezeichnet) festgeschrieben.

    Ich wollt also nicht sagen, dass eine der erwähnten Denkschulen den Krieg ‘kreierte’. Die vermeintliche Lösung für den Konflikt entstammt jedoch einem spezifischen Denken respektive Weltsicht und diese verschlimmerte vermutlich das Problem, da die Gruppen physisch getrennt wurden (oder eine solche Trennung festgeschrieben wurde) und somit plötzlich tatsächlich viel klarer definierte Gruppen waren.