Gestern fand sich in einer Schweizer Zeitung ein offener Brief an Jens Weidmann, den Präsidenten der Deutschen Bundesbank. Da der Brief auf französisch verfasst wurde, inzwischen hinter der Paywall verschwunden ist, von einem ehemaligen Professor von mir geschrieben wurde und Deutschland betrifft, möchte ich ihn hier kurz zusammenfassen. Er enthält nämlich ein paar interessante Gedanken.

Geschrieben wurde der Brief von Professor Charles Wyplosz, der die Währungspolitik zu seinen Spezialgebieten zählt. Adressiert ist der Brief an Jens Weidmann (“Lieber Jens”), Präsident der Deutschen Bundesbank, der sich vor kurzem offensichtlich dagegen ausgesprochen hat, dass die Europäische Zentralbank (EZB) als lender of last resort handeln soll. Der offene Brief ist eine Reaktion darauf.

Wyplosz sagt, dass Weidmanns Position jener einer wachsenden Zahl von Ökonomen widerspricht. Er sieht drei Einwände von Weidmann: Zweifel an der Existenz einer rechtlichen Grundlage für solche Massnahmen, das Problem des Moral Hazard und eine Gefährdung der Unabhängigkeit der EZB. Wyplosz argumentiert, dass dies einem “niemals” gleichkäme. Doch diese absolutheit sei gefährlich.

Beginnen wir mit der rechtlichen Grundlage: Wyplosz glaubt auch, dass die Rechtslage eigentlich eine Intervention untersagt (Artikel 213) aber dass dieses Prinzip schon mit dem Aufkauf von Griechischen Anleihen dieses Jahr gebrochen wurde und damit die Funktionsweise der Euro-Währungspolitik geändert wurde. Der Stabilitätspakt, der eine Einhaltung dieser Regel hätte garantieren sollen, sei gescheitert, weil er zum Funktionieren die Budget-Souveränität der einzelnen Staaten hätte einschränken müssen. Das einzige Disziplinarinstrument war die Nicht-Eingriffsklausel im Falle einer Zahlungunfähigkeit. Dieses wurde per Präzedenzfall sozusagen vergeben. Dies könne man nicht mehr aus der Welt schaffen auch nicht mit legalistishen Argumenten. Die Wahl sei zwischen dem Schlucken dieser Kröte oder dem Zusammenbruch der Währungsunion. Letzteres sei sicher auch für Deutschland das schlimmere Szenario.

Das Problem des Moral Hazard sieht auch Wyplosz. Er ortet bei “Weidmanns Landsleuten” eine Präferenz “die undisziplinierten Länder zu bestrafen”. Doch diese würde nicht funktionieren, da strikte Budgetdisziplin in einer Rezession die Defizite nicht beheben wird. Es braucht eine Lösung, die Budgetdisziplin durchsetzt ohne die Souveränität einzuschränken. Die Notenbank könne dies im Rahmen der existierenden Regelungen durchsetzen. Da in allen Ländern nun unabhängige Instanzen zur Haushaltskontrolle geschaffen werden und Defizitbremsen auf Verfassungsebene eingeführt werden, könnte die EZB dies einfach als Kriterien verwenden um über Refinanzierungen zu entscheiden. Diese Massnahme dient zwar nicht zum Beenden der jetzigen Krise, ist aber für ein stabiles zukünftiges System wichtig. Falls es Einwände gibt, warum das nicht funktional sein kann, müsse man die Gründe dafür explizit auslegen.

Zuletzt noch die Frage der Unabhängigkeit der EZB. De jure sei sie zwar unabhängig, de facto liegt die Sache aber komplizierter. Die Trennlinie zwischen Budgetpolitik und Geldpolitik ist nicht immer klar zu ziehen. Dies sei auch der Grund warum die EZB in der Griechischen Schuldenkrise interveniert hätte. Die Massnahmen seien aber nicht vergleichbar mit Ereignissen die zum Beispiel zur Hyperinflation der Zwischenkriegsjahre in Deutschland geführt hätten. Die EZB muss eine Verschuldung schliesslich nicht bezahlen sonder würde nur eine Garantie auf die Rückzahlung schon gemachter Schulden geben. Ein Absorbieren der Schulden könnte auch in limitierten Mengen geschehen und muss nicht den gesamten Schuldenberg umfassen. Ausserdem können solche Käufe an den Märkten sterilisiert (ich hoffe, dieses Wort existiert auf Deutsch in diesem Kontext) werden.

Das Schlusswort zitiere ich direkt aus dem Brief an Weidmann:

Im Endeffekt haben Sie die folgende Wahl: Die EZB kann sich weigern als Lender of Last Resort zu agieren und somit die Eurozone zusammenbrechen lassen. Oder aber sie kann Garantien für die nationalen Schuldenberge geben und das Risiko eingehen, dass sich Ihre Befürchtungen bewahrheiten. Sollten Sie einen besseren Vorschlag haben, so haben Sie diesen bisher noch nicht vorgebracht.

Au fond, votre choix est le suivant: la BCE doit-elle refuser d’agir en prêteur en dernier ressort et laisser la zone euro exploser, ou bien doit-elle garantir les dettes publiques et prendre le risque que vos craintes se réalisent? Si vous avez une meilleure proposition à nous faire, vous ne nous l’avez pas encore présentée.

Kommentare (8)

  1. #1 roel
    November 25, 2011

    Der verlinkte offene Brief ist (jetzt) wieder verfügbar. Ansonsten funktioniert evtl. noch folgender link
    https://www.letemps.ch/Page/Uuid/0414dd4e-1609-11e1-8db3-ac201aa133c4|0

  2. #2 ali
    November 25, 2011

    @roel

    Ich donnere immer gegen die Paywall. Cache geputzt, Cookies gelöscht. Hilft alles nichts. Aber gut wenn andere Zugriff immer noch Zugriff haben.

  3. #3 Odysseus
    November 26, 2011

    Ich komme auch nicht zu dem Originaltext, deswegen und wegen meiner eingerosteten Französischkenntnisse danke für die Übersetzung. Vielleicht taucht der Brief ja demnächst auf Wyplosz’ Homepage auf, aber selbst dann würde ich spätestens beim Wirtschaftsfranzösisch straucheln.

  4. #4 ali
    November 26, 2011

    Übrigens: Falls jemand griffige Übersetzungen kennt für Lender of Last Resort und Moral Hazard nur zu. Bei Wikipedia gibt es nur umständliche wörtliche Übersetzungen.

  5. #5 roel
    November 26, 2011

    @ali über die links selber komme ich jetzt auch nicht mehr rein.Wenn ich in google “Au fond, votre choix est le suivant: la BCE doit-elle refuser d’agir” als Suchbegriff eingebe erhalte ich deinen Blog und auch Le Temps und zwar den ganzen Text. Würd mich interessieren ob das bei dir auch noch klappt.

    https://www.google.de/search?source=ig&hl=de&rlz=1G1ACEW_DEDE333&q=%22Au+fond%2C+votre+choix+est+le+suivant%3A+la+BCE+doit-elle+refuser+d%27agir%22&oq=%22Au+fond%2C+votre+choix+est+le+suivant%3A+la+BCE+doit-elle+refuser+d%27agir%22&aq=f&aqi=&aql=&gs_sm=e&gs_upl=7192l11333l0l11955l3l3l0l1l0l0l237l411l0.1.1l2l0

  6. #6 Economicus
    November 26, 2011

    Die Ansicht der Bundesbank verstößt gegen die herrschende Meinung der “Ökonomen” – ebenjener Ökonomen, die aus quantitativen Modellen US-amerikanischen Ursprungs meinen, aus ihrer eigens über die Jahrzehnte konstruierter Gedankenwelt auch unmittelbar auf die Realität übertragbare Aussagen ableiten zu können.

    Ich kenne nicht Herr Wyploszs wissenschaftlichen Hintergrund und möchte insofern nicht abschließend über seine Vorschläge urteilen, aber generell vertrete ich die Ansicht, nicht in der Realität verankerten Ökonomen (was nunmehr doch zunehmend die Mehrheit auch im deutschprachigen Raum darstellen dürfte) sollte kein allzu großes Gehör verschafft werden.

    Herr Weidmann hat guten Grund dazu, das Brechen aller Dämme ins negative Licht zu rücken – die dringend nötige kurzfristige Erholung hätte enorme mittel- bis langfristige Auswirkungen zur Folge, entsprechend sollten die uns verbleibenden Alternativen durchgespielt und umgesetzt werden. Das Argument, das man erst mal mit dem Zaubertrank das Ende der Krise herbeiführen und sich erst später um die eklatanten Bauchschmerzen und das darauf folgende Erbrechen kümmern soll, finde ich trotz der geradezu verführerischen Attraktivität nicht überzeugend.

  7. #7 ali
    November 26, 2011

    @roel

    Ja, so funktioniert es bei mir auch.

    @Economicus

    Erstens habe ich den Eindruck, aber da du relativ vage bleibst bin ich mir da nicht sicher, dass du mit den “Modellen” wohl eher an finanzpolitisches denkt. Ich glaube nicht, dass man den Schwächen makroökonomischer Modelle (die sicherlich zu Hauf existieren) eine Teilschuld an der Krise geben kann. Ausser dein Argument ist: Ökonomen haben X oder Y nicht vorausgesagt, also sollte man am Besten nicht auf sie hören. Absurd wird es dann, wenn wir bedenken, dass Weidmann auch einer ist. Viele Makrökonomen haben schon die Imobilienblase in den USA kritisiert, lange bevor dem Platzen. Ich hatte auch nie den Eindruck (zumindest was meine Berührungspunkte mit der Ökonomie betreffen), dass sich im akademischen Bereich gross Illusionen gemacht wurden, was die Vorhersagekraft makrökonomischer Modelle betrifft. Was Wyplosz spezifisch betrifft, kann ich sagen, dass er den Stabilitätspakt schon zur Zeit als ich noch Vorlesungen besuchte für ein untaugliches Instrument hielt und wies auf das Problem der Schuldenberge hin.

    Ansonsten wird im Brief eben nicht ein “Brechen aller Dämme” propagiert, im Gegenteil. Er stimmt ja auch vielem im Prinzip zu sagt aber nur, dass die Alternative noch schlimmer wäre. Auch du bleibst diesbezüglich halt vage. Nichts tun könnte das Ende des Euros sein und das wäre für die deutsche Wirtschaft bestimmt kein wünschenswertes Szenario (und auch sonst nicht gerade erfreulich, aber darüber habe ich vor ein paar Tagen schon geschrieben).

    Wenn die Wahl zwischen zwei Übeln besteht, ist es einfach eine Lösung als schlecht darzustellen. Darum scheint mir auch deine Zaubertrankmetapher hohl. Der Brief sagt ja, man solle den Zaubertrank verabreichen, weil der Patient sonst tot umfällt. Dann kann man sich um die Bauchschmerzen kümmern. Aber wie gesagt, substanziell bringt das nicht viel in die Diskussion ein.

  8. #8 Economicus
    November 28, 2011

    @ ali
    Danke für die Antwort auf mein von dir zutreffend als sehr vage beschriebenes Kommentar. Ich habe mich bezüglich meiner Argumentationsgrundlage allerdings bewusst zurück gehalten und werde dies weiterhin tun, da es sonst in eine grundsätzliche Überzeugungsdebatte ausufern könnte.

    Letztendlich scheitert meiner Meinung nach die Debatte zwangsläufig an der Komplexität und mangelnder Vorhersagbarkeit der Realität – ist der EZB-Aufkauf die unumgängliche Alternative, die den Kollaps des Patienten EU zu verhindern vermag? Meiner Meinung nach wird damit ein falsches Dilemma kreiert, wobei sich die dadurch geschürten Erwartungen des Marktes, die EZB müsse die Anleihemärkte mit Geld fluten, letztendlich wohl in einer selbsterfüllenden Prophezeiung manifestieren werden.