Mein Spezialgebiet als Astronom ist die Himmelsmechanik. Das klingt vielleicht so, als würde man da irgendwo am Himmel rumschrauben und basteln. In der Realität ist damit aber die wissenschaftliche Untersuchung der Bewegung der Himmelskörper gemeint. In der Realität mancher Science-Fiction-Bücher ist der Himmel allerdings tatsächlich etwas, an dem sich ein Mechaniker austoben kann…

Was wäre, wenn das Griechenland der Antike nicht verschwunden wäre? Wenn das griechische Reich sich zu einer Supermacht entwickelt hätte, die heute mehr als die halbe Erde beherrscht? Und was wäre, wenn die Wissenschaft der antiken Griechen richtig wäre? Wenn die Erde tatsächlich das unbewegte Zentrum des Universums ist und die anderen Himmelskörper sie auf kristallenen Sphären umkreisen. Wenn das All nicht leer, sondern von Luft erfüllt ist. Wenn die Viersäftelehre die korrekte Beschreibung des menschlichen Organismus wäre. Wenn die Spontanzeugung tatsächlich funktioniert und Lebewesen aus unbelebter Materie erschaffen können?

In dieser faszinierenden Welt spielt das Buch “Celestial Matters” von Richard Garfinkel. Alexander der Große hat in dieser Parallelwelt seinen Eroberungszug erfolgreich abgeschlossen und die Grundlage für ein großes Imperium gelegt. Der Attische Seebund beherrscht das Mittelmeer und alle Anrainerstaaten, Afrika, Südamerika, Kleinasien, Indien und Teile Nordamerikas. Mittel- und Nordeuropa sind Sklavenstaaten des griechschen Imperiums. Und seit 900 Jahren tobt ein Krieg gegen die zweite große Macht: Das “Königreich der Mitte”, eine von China aus beherrschte asiatisches Großreich. Um den endlosen Krieg zu beenden, haben die Führer des Attischen Seebundes drei wissenschaftliche Großprojekte gestartet. Eines davon ist “Sunthief”. Man will zur Sonne fliegen und ein Stück ihrer Materie einfangen. Das niemals verlöschende Feuer der Sonne soll auf die Hauptstadt des Feindes geschleudert werden um so den Krieg endgültig zu gewinnen.

“Raumfahrt” in unserem Sinne gibt es nicht. Die Raumschiffe sind “Mondschlitten” – große Schiffe, die aus Mondgestein gehauen wurden. So wie der Mond ewig um die Erde kreist, fliegen auch die Schiffe aus Mondmaterie von selbst. Das Buch erzählt die Geschichte des Aias von Tyros, dem wissenschaftlichen Leiter der Expedition Sunthief. Ich will gar nicht zu viel verraten. Ihr müsst das Buch selbst lesen. Es ist wirklich großartig! Das Thema der Realität der antiken Wissenschaft wird konsequent durchgezogen. In “Spon-Gen”-Labors an Bord des “Raumschiffes” werden aus Mist spontan Kühe und Ziegen gezeugt um immer frischen Proviant zu bekommen. Die Mediziner injizieren ihren Patienten verschiedene “Säfte”, um sie zu kurieren. Das “Raumschiff” muss durch die Lücken in den Kristallsphären navigieren um zur Sonne zu gelangen. Und dann erst die griechischen Götter…

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“Celestial Matters” ist ein höchst originelles Buch und definitiv einzigartig im Science-Fiction Bereich. Ähnlich spannend ist die Ausgangslage von “Mainspring” von Jay Lake (auf deutsch Die Räder der Welt”). Es ist eine Steampunkt-Welt der Extraklasse und der Traum eines jeden echten Himmelsmechanikers. Denn die Welt ist hier im wahrsten Sinne des Wortes durch und durch mechanisch. Die Erdbahn ist tatsächlich eine Schiene aus Metall, die sich durch das All erstreckt und entlang der die Erde ihre Runde um die Sonne zieht. Die Achse der Erde ist eine reale Achse, um die sich der Planet dreht. Nord- und Südhalkugel sind von einem weltumspannenden riesigen Gebirge getrennt, dessen Gipfel die Zähne des Zahnkranzes sind, entlang dem die Erde um die Sonne rollt. Hauptperson des Buches ist der Uhrmacherlehrling Hethor. Eines Tages erscheint ihm der Erzengel Gabriel und verkündet, Hethor müsse sich aufmachen um den Hauptschlüssel zu finden, damit er das Uhrwerk der Erde wieder aufziehen kann. Denn die Erde läuft nicht mehr rund…

Die Grundidee von “Mainspring” ist genial. Aber leider ist die Umsetzung meiner Meinung nach nicht ganz so gelungen. Das Buch hat spannende Stellen. Die Reisen mit den Luftschiffen der Royal Navy zum Beispiel. Über die Überquerung des Äquatorzahnkranzes. Aber stellenweise ist die Handlung für meinen Geschmack zu unlogisch. Viele Sachen werden nicht befriedigend erklärt und das Ende ist durch und durch seltsam. “Mainspring” solltet ihr vielleicht vorher mal probelesen und euch dann entscheiden, ob es etwas für euch ist. Aber “Celestial Matters” müsst ihr unbedingt lesen!


(Ich bin gerade in Urlaub, also wundert euch nicht, wenn ich auf Kommentare nicht antworte)

Kommentare (6)

  1. #1 rolak
    18. Juli 2012

    Jay Lake ist schon übersetzt erhältlich als ‘Die Räder der Welt’ (Mainspring), ‘Die Räder des Lebens’ (Escapement) und -wenn März 2013 gilt- ‘Die Räder der Zeit’ (Pinion). Ist ja inzwischen ein Dreiteiler…

  2. #2 Helen
    19. Juli 2012

    Alexander hat die Welt also um den Attischen Seebund herum erobert? Müssten dann nicht Großmakedonien und Athen gegeneinander seit 900 Jahren Krieg führen?

  3. #3 Farin
    19. Juli 2012

    @Helen:

    Naja, wenn man ganz pingelig sein will hast du natürlich recht;). Aber gemeint ist wohl eher das nachdem Makedonien die griechischen Stadtstaaten eroberte (Ist die Mehrzahl von Polis eigentlich Poli?) Alexander seinen Feldzug vervollständigte und nicht mit Anfang 30 ins Grass biss. Ich finde die Idee auf jedenfall interesant, werd das Buch mal anlesen.

  4. #4 Evanescence
    19. Juli 2012

    Der Plural von Polis ist Poleis (betont am o)

    Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Polis

  5. #5 rolak
    19. Juli 2012

    <OT>
    ^^doch nicht Polisei? 😉
    </OT>

  6. #6 Olaf aus HH
    26. Juli 2012

    Herrlich – was für eine Vorstellung: “irgendwo am Himmel rumschrauben und basteln.”
    Den Overall anziehen, den Werkzeugkasten mitnehmen und dann.
    Die gute alte Erde als Achterbahn auf Schienen. Eigentlich eine richtig heimelige Vorstellung. Quasi erdig.
    Das Leben könnte so einfach sein, wenn es denn so wäre.
    Stattdessen rauschen wir auf einem Klumpen aus Mineralien, Wasser und Eis kräftegehalten durch das Universum. Und l.e.b.e.n auch noch dabei auf der guten alten Erde. Und sammeln Erkenntnisse aller Art. Irgendwann werden wir “es” verstehen – bzw. unsere Nachkommen. Das hoffe ich jedenfalls.
    Aber da gibt noch diesen Immanuel Kant: Jede Antwort wirft neue Fragen auf. Bernd das Brot würde jetzt sagen: “Mist.”
    😉