Gleich startet bei der Fußball-Europameisterschaft das Spiel Russland gegen die Slowakei. Ich habe keine Ahnung, wer gewinnt – aber ich weiß, dass die beiden Länder enorm viel Material für meine Serie über Wissenschaft aus den EM-Teilnehmerländern bietet. Zum Beispiel den in der Slowakei geborenen Astronomen Maximilian Hell; Direktor der Universitätssternwarte Wien und vor allem bekannt für seine Expedition nach Norwegen, wo er 1769 den Venustransit beobachtete und aus diesen Daten den Abstand zwischen Erde und Sonne berechnete. Und Russland ist so voll von großen Wissenschaftlern, dass man kaum weiß, wen man auswählen soll.

Sofja Wassiljewna Kowalewskaja: Das "Scheusal" Bild: Public Domain

Sofja Wassiljewna Kowalewskaja: Das “Scheusal” Bild: Public Domain

Ich hab mich für Sofja Wassiljewna Kowalewskaja entschieden. Denn immerhin wurde sie von keinem geringeren als August Strindberg als “Scheusal” und “schädliche und unangenehme Erscheinung” bezeichnet…

Sofja Wassiljewna Kowalewskaja wurde am 15. Januar 1850 in Moskau geboren. Als eine der ersten Frau erhielt sie einen Lehrstuhl an einer Universität; sie war die erste Frau die nicht nur eine Mathematik-Professur bekam sondern auch Vorlesungen halten konnte; sie war eine der ersten Frauen die eine wissenschaftliche Fachzeitschrift herausgaben. Und alles begann mit einer Tapete.

In Sofjas Kindheit wurde das Anwesen ihrer Eltern renoviert. Für das Kinderzimmer war aber zu wenig Tapete vorhanden, also behalf man sich mit ein paar alten Papieren, die man auf dem Dachboden fand. Das waren die Skripten einer Mathematik-Vorlesung aus der Studienzeit ihres Vaters. Wo andere Kinder bunte Bilder von Tieren oder Comicfiguren an ihren Wänden haben, hatte Sofja Differentialgleichungen und Integrale… Das hat sie aber nicht abgeschreckt; ganz im Gegenteil. Sie fand die Mathematik immer interessanter und wollte dieses Fach schließlich auch studieren. Das war im Russland des 19. Jahrhunderts den Frauen aber verboten. Sofja wollte daher ins Ausland reisen, um dort zu studieren. Aber auch das war schwierig, denn es war russischen Frauen auch verboten einen Reisepass zu besitzen. Sie durften nur in Begleitung eines Ehemanns oder ihres Vaters verreisen. Also ging Sofja eine Scheinehe mit dem (späteren) Paläontolgen Wladimir Onufrijewitsch Kowalewski ein.

Sie reiste also nach Westeuropa, nach Wien, Heidelberg und Berlin und schaffte es, eine halbwegs gute mathematische Ausbildung zu erhalten (obwohl sie kaum irgendwo wirklich studieren konnte sondern auf Privatstunden der Professoren angewiesen war). Karl Weierstrass, einer der berühmtesten Mathematiker der damaligen Zeit, setzte sich dafür ein, dass Sofja an der Uni Göttingen promovieren durfte, was sie 1874 auch erfolgreich tat (unter anderem mit einer Arbeit über die Struktur der Saturnringe). Arbeit an einer Universität gab es für eine Frau aber selbst mit Doktortitel nicht. Erst 1883 erhielt sie eine Stelle als Privatdozentin an der Universität Stockholm, was den schon oben erwähnten August Strindberg zu seiner Schimpftirade inspirierte, in der er meinte das

“eine Frau als Mathematikprofessor eine schädliche und unangenehme Erscheinung sei, ja, dass man sie sogar ein Scheusal nennen könnte. Die Einladung dieser Frau nach Schweden, das an und für sich männliche Professoren genug habe, die sie an Kenntnissen bei weitem überträfen, sei nur durch die Höflichkeit der Schweden dem weiblichen Geschlecht gegenüber zu erklären.”

Nun, besonders “höflich” klingt das, was Strindberg da schrieb nicht. Sofja Kowalewskaja irritierte das nicht, sie forschte weiter und leistete wichtige Beiträge zur Mathematik (zum Beispiel über Differentialgleichungen). Ihre Mathematikerkollegen in ganz Europa hatten kaum Probleme mit der Professorin aus Stockholm und waren entsprechend erschüttert, als sie im Alter von nur 41 Jahren an einer Lungenentzündung starb.

Sofja Kowalewskaja schrieb in einem Brief einmal, dass sie froh über die Existenz der Mathematik war, denn sie sei “eine Welt so ganz außerhalb unser selbst” in die man sich zurückziehen könne, wenn die Realität uninteressant sei. Das klingt ein wenig traurig – aber beschreibt auch irgendwie sehr schön die Faszination der Wissenschaft an sich: Eine völlig andere Welt, die man trotz allem erforschen und verstehen kann.

Wer mehr über Sofja Kowalewskaja erfahren will, kann das in ihrem empfehlenswerten biografischen Text “Jugenderinnerungen”* tun. Sehr interessant ist auch der Roman “Die Nihilistin”, den Sofja Kowaleskaja geschrieben hat. Ob er irgendwo noch im Handel erhältlich ist, weiß ich nicht – aber hier gibt es eine digitale Version.

P.S. Hinweise und Vorschläge für andere interessante Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den EM-Ländern nehme ich gerne in den Kommentaren entgegen!

*Affiliate-Links

Kommentare (9)

  1. #1 MJ
    15. Juni 2016

    Interessant, nur wird sie wohl kaum mit 14 (1864) sondern eher mit 24 (1874) promoviert haben.

    mfg

  2. #2 Laie
    16. Juni 2016

    Sehr interessant und informativ!
    Eine Tapete voller mathematischer Gleichungen als positiver früh-Kindlicher Einfluss auf die spätere Entwicklung klingt plausibel.

    Und wie sieht es heute aus? (TV&Spielekonsolen)

  3. #3 Keno
    16. Juni 2016

    Irgendwo -ich weiß nicht mehr wo- habe ich mal gelesen, dass eine enttäuschte Liebe Strindberg zu dieser Äußerung getrieben hat. Nach dem Zitat zu urteilen, ist zeitgenössische Misogynie aber irgendwie wahrscheinlicher.

  4. #4 Yeti
    16. Juni 2016

    @Laie:
    > Eine Tapete voller mathematischer Gleichungen als positiver früh-Kindlicher Einfluss auf die spätere Entwicklung klingt plausibel.

    Allerdings. Bei mir war’s der (populärwissenschaftliche) Bücherschrank meines Patenonkels. Ich glaube es war Steven Weinbergs “Die ersten drei Minuten”, die mich vollends dazu getrieben haben, zumindest insoweit Wissenschaft zu betreiben, dass ich als Ingenieur in der F&E recht erfolgreich bin 😉

  5. #5 Alderamin
    16. Juni 2016

    @Laie

    Eine Tapete voller mathematischer Gleichungen als positiver früh-Kindlicher Einfluss auf die spätere Entwicklung klingt plausibel.

    Bei mir war’s eine Tapete mit Yogi-Bär. Da konnte ja nix aus mir werden…

    Mit 12 hab’ ich mir eine startende Saturn-V von meinem Papa auf die Wand malen lassen und später hab’ ich mir einen Himmelsatlas in Einzelkarten aufgehängt (und die Sterne von Hand nach Spektralklasse bunt gemalt). Astronomie blieb trotzdem nur ein Hobby.

  6. #6 Trottelreiner
    17. Juni 2016

    @Laie:
    Hm, Bernd das Brot-konforme Rauhfasertapete, IIRC. Aber im TV liefen damals David Attenborough und Carl Sagan. Sielmann und Grzimek nicht zu vergessen, “diese possierlichen Tierchen”. 😉

  7. #7 PDP10
    17. Juni 2016

    @Trottelreiner:

    “diese possierlichen Tierchen”.

    Das ist von Loriot. :-).

    Passt aber trotzdem in die Zeit … Schei… bin ich alt …

  8. #8 Trottelreiner
    17. Juni 2016

    @PDP10:
    Von Loriot gab es doch auch eine Buttlar-Parodie, IIRC. War aber etwas vor meiner Zeit.

    Zum Alter, ich habe heute dem Gentrifizierer[1]-Blag, das jeden an der Rewe-Kasse ununterbrochen nach Fußballbildchen fragte mit “gerne doch, 50 Cent das Stück” geantwortet, allem Anschein nach fehlt mir nur noch der Rollator. 😉
    Hab die Dinger danach BTW umsonst im Viertel verteilt, besteht also vielleicht noch Hoffnung.

    [1] Das ich das G-Wort verwende zeigt wie genervt ich war.

  9. #9 Andi
    5. August 2016

    Das sollte ich bei meinen Kindern auch probieren 🙂
    Vielleicht mit einer Tapete aus einem Biologiebuch, damit sie einem Arzt werden können 🙂

    LG