Ich bin gerade an der Universität Graz, um dort zu erklären, wie man Wissenschaftsblogs verfasst. Der erste Tag ist vorbei und die Studierenden haben ihre ersten Blogartikel verfasst. Morgen werden wir darüber diskutieren und schauen, was gut daran ist und was man verbessern könnte. Dafür ist echtes Feedback natürlich am besten, weswegen ich einige der Texte hier als Gastbeitrag veröffentlichen werden. Dieser Artikel kommt von Norbert Paulo und ich würde mich über konstruktive Kritik und Kommentare freuen (aber bleibt bitte nett!)
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Ich bin ein deutscher Philosoph und lebe als Arbeitsmigrant in Österreich. Im Vergleich zu Deutschland ist das politische Normalmaß in Österreich deutlich nach rechts verschoben. Nicht zufällig bastelt der konservative Wahlsieger Sebastian Kurz mit seiner „Liste“ gerade an einer Regierungskoalition mit der rechtsnationalen FPÖ. Hier wie in vielen anderen westlichen Demokratien zeigte der Wahlkampf, dass Personalisierung und Emotionalisierung immer wichtiger werden, während die inhaltliche Auseinandersetzung über politische Ideen proportional dazu abnimmt. Wichtig scheint vor allem zu sein, dass eine charismatische Figur den Weg weist, egal wohin. So konnte die Kurz-Kampagne ernsthaft „Tun, was richtig ist“ plakatieren. Als ich dieses Plakat gesehen habe, habe ich meinen Glauben in die Demokratie in Österreich verloren. Aber ich wollte verstehen, wie es möglich ist, dass so viele Wähler_innen der Liste Kurz (oder gar der FPÖ) ihre Stimme geben. Politik, die man ehemals als links, linksliberal oder sozialdemokratisch beschrieben hätte, scheint gegenwärtig jedenfalls nicht mehrheitsfähig zu sein. Aber warum ist das so? Warum kann man momentan vor allem mit konservativer, rechtskonservativer und nationalistischer Politik punkten?
Der US-amerikanische Psychologe Jonathan Haidt bietet in seinem Buch The Righteous Mind eine interessante Erklärung. Eine Vielzahl groß angelegter Studien legt nahe, dass Menschen mehrere „moralische Rezeptoren“ haben. So wie Geschmacksrezeptoren bei bestimmten Reizen anspringen (süß, sauer, bitter, salzig…), springen die Moralrezeptoren bei moralischen Reizen an. Wir alle reagieren beispielsweise intuitiv und unmittelbar, wenn wir sehen, wie jemand verletzt oder unfair behandelt wird. Und genau hierauf bezieht sich Politik „links der Mitte“. Sie konzentriert ihre politischen Botschaften auf die Hilfe für Opfer und Unterstützung für Benachteiligte. Konservative wollen auch helfen und unterstützen. Aber nicht nur. Sie wissen nämlich, dass Menschen für mehr als diese zwei Themen moralisch empfänglich sind. Wir haben nämlich auch moralische Rezeptoren für Loyalität (Patriotismus, militärische Tugenden), Autorität (Achtung vor Eltern, Polizei oder Traditionen) und „Reinheit“ (gesellschaftlich und religiös). Konservative appellieren auch an diese moralischen Intuitionen. Linke tun so, als gäbe es diese anderen Rezeptoren nicht. Sie haben natürlich Gründe, warum sie Fairness und Schadensminimierung für wichtiger halten als Loyalität, Autorität und „Reinheit“. Und manchmal überzeugen sie mit diesen Gründen sogar Wähler_innen. Einige Menschen schaffen es tatsächlich, ihre unmittelbaren moralischen Intuitionen dauerhaft zu ändern, indem sie sich durch rationale Gründe leiten lassen. Viele von denen, die mit einer traditionellen Abneigung gegen Homosexualität aufgewachsen sind (Autorität), verspüren wirklich ein Ekelgefühl („Reinheit“), wenn sie sehen, wie ein schwules Pärchen sich küsst. Einige kommen irgendwann dahinter, dass es für dieses Gefühl keine guten Gründe gibt und versuchen, sich diese Abneigung abzutrainieren. Nur wenige schaffen es aber, wirklich dauerhaft nicht nur die Überzeugung, sondern auch die intuitive Reaktion auf einen Kuss abzustreifen und tatsächlich keinen Ekel mehr zu empfinden. Und ähnlich ist es bei vielen impliziten „Ismen“. Es ist schlicht anstrengend, sie sich abzugewöhnen. Und wenn sie noch aktiv sind (wie unbewusst auch immer), dann ist es extrem fordernd, sie rational zu überschreiben, also nicht automatisch nach ihnen zu handeln oder Entscheidungen unbewusst durch sie beeinflussen zu lassen.
Die Tatsache, dass wir mit bestimmten moralischen Intuitionen ausgestattet sind, die wir nur schwer umerziehen können, erklärt allein noch nicht die aktuellen Wahlvorteile konservativer Politik. Es kommen kognitive Verzerrungen hinzu. Man kann fast die Uhr danach stellen, dass Konservative in jedem Wahlkampf irgendwann schärfere Sanktionen oder Strafen für irgendetwas fordern – seien es Straftäter_innen oder Integrationsverweigerer_innen. Warum fruchten diese Forderungen immer wieder, obwohl Generationen von Kriminolog_innen zu ganz anderen Mitteln raten, um Kriminalität zu reduzieren? Ein Grund ist, dass wir intuitiv auf Schädigungen anspringen – dafür ist schließlich einer unserer moralischen Rezeptoren zuständig. Außerdem überschätzen wir aber systematisch die Effektivität von Strafen und Sanktionen, weil es die Regression zur Mitte gibt. Angenommen ich will einen Hund abrichten. Ich kann ihn belohnen, wenn er gehorcht, oder bestrafen, wenn er nicht gehorcht. Was passiert aber, wenn er gehorcht und ich ihn dafür belohne? Er wird es leider nicht sofort verstehen und fortan immer gehorchen. Weil der Lernprozess noch läuft, wird er erstmal wieder in sein normales Verhalten verfallen (Regression zur Mitte), also nicht aufs Wort hören, bis er heraus hat, wofür er eigentlich belohnt wird. Ich habe also den Eindruck, dass meine Belohnungen nicht zum Ziel führen. Was passiert aber, wenn ich ihn bestrafe? Auch dann wird er, weil der Lernprozess noch läuft, erstmal wieder in sein normales Verhalten verfallen, also nicht aufs Wort hören. Aber weil ich ihn für besonders schlechtes Verhalten bestrafe, kommt mir das normale Verhalten vor wie eine Verbesserung. Bestrafen ist also nicht notwendig effektiver als Belohnen, es wirkt aber so. Diesen Effekt gibt es in vielen Lebensbereichen. Der israelische Psychologe und Wirtschafts-Nobelpreisträger Daniel Kahneman sagt es so: „weil wir dazu neigen, andere zu belohnen, wenn sie gut handeln, und zu bestrafen, wenn sie schlecht handeln, und weil es die Regression zur Mitte gibt, ist es Teil der conditio humana, dass wir statistisch dafür bestraft werden, andere zu loben, aber dafür belohnt, sie zu bestrafen.“
Solche kognitiven Verzerrungen wissenschaftlich festzustellen und einem gebildeten und aufmerksamen Publikum eines Wissenschaftsblogs nahezubringen ist das eine. Eine Mehrheit der Bevölkerung davon zu überzeugen und ihr darauf aufbauende – also kontraintuitive – politische Vorschläge plausibel zu machen, ist eine ganz andere Herausforderung. Linke haben diese Herausforderung in vielen Politikfeldern permanent zu meistern: Sie müssen erklären, dass es richtig wäre, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, höhere Steuern zu zahlen, gegen globale Ungerechtigkeit zu kämpfen, fürs Klima aufs Auto und auf Flugreisen zu verzichten, deutlich weniger Fleisch zu essen, Kinder mit Lernschwächen in normale Schulklassen zu integrieren, etc. Die allermeisten Menschen finden nichts davon intuitiv einleuchtend. Man müsste die Gründe dafür ausführlich mit ihnen diskutieren. Aber dafür gibt es weder im normalen Leben noch in der Politik gute Rahmenbedingungen. Es gibt schlicht keinen sozialen Kontext außerhalb expliziter Lehr- und Lernstätten wie Schulen und Universitäten, in dem es nicht als unangemessen oder sogar unhöflich gilt, über mehrere Minuten ein komplexes Thema zu erläutern. Aber selbst wenn man davon überzeugt wird, dass wir mehr Flüchtlinge aufnehmen sollten, wird dies wahrscheinlich nicht zu einer intuitiven Gewissheit werden, einfach weil man nicht bereits damit aufgewachsen ist. Man muss sich also immer und immer wieder davon überzeugen (lassen), und zwar bei jedem kontraintuitiven politischen Vorschlag.
Konservative dagegen können bei vielen ihrer Kernthemen (Sicherheit, Familie, Nationalismus, Traditionspflege etc.) darauf verlassen, dass die allermeisten Bürger_innen sie intuitiv für richtig halten. Man muss die Kernpositionen nicht erklären, weil sie den meisten schon intuitiv klar sind. Und sie werden auch nicht vergessen oder verlernt. Das war natürlich auch in den vergangenen Jahrzehnten schon so. Aber warum scheint es neuerdings noch schwerer geworden zu sein, bei Wahlen mit einer Politik, die nicht konservativ ist, erfolgreich zu sein? Ein recht offensichtlicher Grund dafür ist, dass sich die Rahmenbedingungen immer weiter zu Gunsten der Konservativen verändert haben. Nicht nur alltägliche soziale Situationen bieten nur äußerst selten die Möglichkeit für ausführlichere Erklärungen oder rationale Diskussionen. Auch Politik wird immer weniger als argumentatives Unternehmen dargestellt und wahrgenommen. Viele Fernseh- und Zeitungsnachrichten versuchen gar nicht mehr, politische Auseinandersetzungen als solche darzustellen, in denen es um die besseren Argumente ginge. Stattdessen werden relativ unverbunden Positionen und Meinungen gegenübergestellt, die Politiker_innen oder Parteien eben haben – so wie man zufällig eine Vorliebe für After-Eight-Eis hat. Auch Debatten im Parlament und Diskussionssendungen im Fernsehen imitieren oft nur noch einen echten Diskurs. Vor allem sind sie Gelegenheiten, Parolen und talking points anzubringen und wieder und wieder zu wiederholen. Alle Beteiligten wissen, dass es nicht darauf ankommt, wie sie eine Frage beantworten, sondern allein darauf, was als Ausschnitt von wenigen Sekunden hängen bleibt, in die Nachrichten kommt und immer wiederholt wird, weil es die üblichen Schleifen durch die „sozialen Medien“ zurück in die Nachrichten durchläuft. Eine Stunde „Diskussion“, maximal 10 Sekunden Botschaft, ein 140/280-Zeichen-Statement auf Twitter. Und natürlich tun sich Konservative mit solchen Kurzbotschaften leichter, weil man, wie gesagt, ihre Kernpositionen nicht erklären muss, was in der Kürze auch gar nicht ginge. Und so erscheinen Positionen, für die gute Gründe sprechen und solche, für die keine Gründe sprechen, als gleichwertig. Schließlich treten beide nur als Statement auf, ohne Begründung.
Die Aussichten für rationalere Politik sind also düster. Die Menschen werden wir kaum ändern können. Wir haben alle moralischen Rezeptoren, ob wir nun wollen oder nicht. Und mit staatlich gesteuerter Umerziehung hat die Menschheit bisher keine guten Erfahrungen gemacht. Auch das Internet und soziale Medien werden uns weiterhin begleiten. Der kanadische Philosoph Joseph Heath schlägt deswegen in seinem sehr klugen Buch Enlightenment 2.0 vor, dass der politische Diskurs durch Verfahrensänderungen, Konsultationspflichten etc. bewusst verlangsamt und so umgestaltet werden sollte, dass rationalere Entscheidungen wahrscheinlicher werden. Viele Mittel dafür sind aus der ökonomischen Verhaltensforschung bekannt – nur werden sie vor allem für das gegenteilige Ziel eingesetzt, nämlich unsere Umgebung so zu gestalten, dass wir möglichst wenig nachdenken und möglichst viel kaufen.
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