Der Artikel ist Teil einer Serie zum Buch ”Die Himmelsscheibe von Nebra – Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas”* von Harald Meller und Kai Michel. Die restlichen Artikel der Serie findet man hier.
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Wenn man die Himmelsscheibe von Nebra verstehen will, dann muss man berücksichtigen, was die Menschen damals gedacht haben. In meiner Serie über die Himmelsscheibe von Nebra habe ich bisher über die naturwissenschaftliche Erforschung berichtet: Über die Fundgeschichte, die Echtheitsprüfung, die Metallurgie und die astronomische Interpretation der Scheibe. Aber wenn man wissen will, wer die Scheibe gebaut hat, dann muss man sich auf die Gedankenwelt der damaligen Menschen einlassen. Und darf nicht vergessen, dass die Welt damals komplett anders ausgesehen hat. Wo wir heute ein naturwissenschaftliches Verständnis der Dinge voraussetzen, war damals alles voll mit Göttern, Geistern und Dämonen. Wie Harald Meller und Kai Michel in ihrem Buch – das ja die Grundlage dieser Serie ist – so treffend schreiben: Man muss der Scheibe ihren Zauber zurück geben, wenn man sie verstehen will!

Die Plejaden – heute nur Sterne… (Bild: NASA, ESA and AURA/Caltech)

Das zu tun ist schwierig, weil es von der Zivilisation die die Scheibe vor fast 4000 Jahren geschaffen hat, keine schriftlichen Aufzeichnungen gibt. Aber man kann sich an der Mythologie anderer Zivilisation orientieren. Und gerade die Plejaden spielen so gut wie überall eine wichtige Rolle. Die Plejaden, also die auffällige Gruppe von Sternen am Himmel die auch auf der Himmelsscheibe so dominant abgebildet sind und im Zentrum ihres astronomischen Inhalts stehen.

Selbst heute, an unserem lichtverschmutzen Himmel der hellen Städte kann man die Plejaden meist erkennen und sie fallen sofort ins Auge. Die Plejaden befinden sich auch in der Nähe der Ekliptik, also der Region am Himmel, durch die sich Sonne, Mond und die Planeten bewegen. Immer wieder findet man die Plejaden in der Nähe eines dieser promineneten Himmelskörper und es ist leicht nachvollziehbar, dass sie in der Gedankenwelt der damaligen Menschen eine wichtige Rolle gespielt haben.

… aber auch Götter (Bild: gemeinfrei)

Denn Sterne und Planeten waren damals ja nicht die physikalischen Himmelskörper, die wir heute damit verbinden. Sondern Teil der belebten, mythologischen Himmelswelt. Sie waren Wesenheiten; Geister, Götter und Dämonen beziehungsweise deren Manifestationen. Dazu brauchen wir nur einen Blick auf den Ursprung der Bezeichnungen werfen, die wir heute immer noch verwenden. Die Planeten tragen die Namen von alten Göttern und die Plejaden selbst sind die Abkömmlinge von Göttern. Es handelt sich um die Töchter von Atlas und Pleione, den Titanen aus der ersten Generation der griechischen Götter. Die sieben Töchter waren die jungfräulichen Begleiterinnen der Jagdgötting Artemis und wurden vom Jäger und Göttersohn Orion verfolgt. Um sie zu schützen, wurden sie von Zeus als Sterne an den Himmel versetzt. Die sieben Schwestern leuchten dort heute noch hell – bis auf Merope, deren Helligkeit schwankt, weil sie als einzige einen Sterblichen geheiratet hatte und sich deswegen schämt; so sehr das ihr Licht manchmal komplett verlischt.

Heute wissen wir, dass es sehr viel mehr als nur 7 Sterne im Sternhaufen der Plejaden gibt. Aber die meisten kann man nur mit dem Teleskop sehen und wir wissen auch, dass einer davon ein Stern mit veränderlicher Helligkeit ist. Aber dieses moderne Wissen war nicht das, was die Menschen damals mit den Plejaden assoziiert haben. Mythen über die Plejaden findet man in fast allen Kulturen. Aber für die Himmelsscheibe ist besonders das interessant, was man sich in Mesopotamien erzählt hat. Denn es gibt viele Hinweise, dass das astronomische Wissen über die Schaltregeln aus genau dieser Region nach Mitteldeutschland importiert und auf der Himmelsscheibe abgebildet worden ist.

Dort sind die Plejaden keine schutzbedürftigen Jungfrauen. Sondern grausame Dämonen, die “Šebettu” (was nichts anders als “Sieben”) bedeutet. Es waren böse Gottheiten, die Krieg, Seuchen und Tod brachten; sie essen Menschenfleisch und sie trinken Blut. Oder, wie es im akkadischen Erra-Gedicht steht: “Voll Schrecken sind sie! Wer sie ansieht, wird in Angst versetzt, ihr Atem ist der Tod.”

Erra war der Pestgott und die Šebettu seine Gefolgschaft. Der Erra-Mythos war populär; man hat bis jetzt mehr Abschriften davon gefunden als vom berühmten Gilgamesch-Epos. Das lag vermutlich auch daran, dass das Werk auch als Schutz vor dem Pestgott galt; wer es im Haus hatte (oder Textauszüge auf Amuletten um den Hals hängen), wurden von ihm verschont (eine ziemlich gute Taktik des Verfassers, um sein Werk populär zu machen 😉 ).

Amulett zum Schutz vor den bösen Sebettu… (Bild: Fæ, CC-BY-SA 3.0)

Die Šebettu jedenfalls haben Erra aufgehetzt, Krieg gegen die Menschen zu führen. Aus reiner Langweile und weil sie Lust hatten, mal wieder ihre Waffen einzusetzen. Aber der große Marduk, Stadtgott von Babylon und Chef der babylonischen Götterwelt besiegt die Dämonen und verbannt sie gefesselt an den Himmel.

Für uns sind das alte Geschichten. Für die Menschen damals war es das, was tatsächlich in der Welt passiert ist. Wenn sie also die Plejaden immer im Blick hatten, dann sicher nicht nur, um sie als kalendarischen Anzeiger zu benutzen. Sondern auch um das Handeln der Götter zu deuten! So leicht reizbare und grausame Wesen wie die Šebettu will man sich nicht leichtfertig zum Feind machen; man muss sie mit den passenden Ritualen besänftigen und gewogen halten. Wer die Bewegung der Lichter am Himmel verfolgt, der betreibt nicht nur Astronomie, sondern auch eine Art mythologische Katastrophenschutzzentrale.

Und da ist es auch nicht verwunderlich, wenn die Menschen sich so intensiv mit Schalttagen beschäftigen. Sonne und Mond waren extrem wichtige Objekte am Himmel. Und es war verstörend, dass die Zyklen von Mondjahr und Sonnenjahr nicht übereinstimmten. Die Welt war offensichtlich nicht so, wie sein sollten. Irgendwas war durcheinander gekommen; das Chaos am Himmel war unnatürlich und genau so wird es auch im Schöpfungsmythos der Babylonier beschrieben. Vor fast 4000 Jahren beschrieben dort die Menschen, wie Marduk den Kosmos erschafft und selbstverständlich alles ordentlich ist. Die Sonne braucht 360 Tage um sich um die Erde zu bewegen und der Mond vollendet eine Runde um die Erde in 30 Tagen. 12 Mondzyklen entsprechen exakt einem Sonnenzyklus.

Das war die Welt, die von den Göttern gewollt war. Aber böse Menschen, böse Dämonen oder irgendetwas anderes hat dafür gesorgt, dass die kosmische Ordnung aus dem Takt geraten ist. Mond- und Sonnenjahr weichen voneinander ab und es war von fundamentaler Bedeutung zu wissen, wie stark genau diese Abweichung war. Die Schaltregeln zeigen den in die Bewegung der Himmelskörper eingeweihten Menschen, wie sehr Sonne und Mond noch im Einklang sind und wann man durch die Einführung von Schalttagen eingreifen muss, wenn die Abweichung zu groß wird.

Marduk bekämpft den Chaos-Drachen Tiamat (Bild: gemeinfrei)

“In ihrer Urversion könnte [die Himmelsscheibe] zauberhafter gewesen sein als sie heute anmutet. (…) Der Glaube an Götter und die Gestirne als ihre himmlischen Repräsentanten war alles andere als ein irrationaler Aberglaube. Er stellte eine Weltanschauung dar, die durchaus rational war und die darauf zielte, die Welt vor Unheil zu schützen. Bessere Mittel standen den Menschen nicht zur Verfügung. Die Himmelsscheibe war also nicht entweder rational oder symbolisch. Sie war beides.”

Das schreiben Harald Meller und Kai Michel am Ende ihre mythologischen Betrachtung. Und legen nahe, dass die Himmelsscheibe von Nebra nicht “nur” ein astronomisches Instrument zur Einteilung der Zeit war. Sondern ein “heiliges Objekt”, dass es erlaubte einen Blick auf die Geschäfte der Götter zu werfen. Sie war eine “unvergleichliche Quelle der Macht” und es war nur natürlich, dieses Wissen in einem kostbaren Objekt wie der Himmelsscheibe zu verewigen. Bevor es dann aber endlich an die große Frage geht, wer die Schöpfer der Himmelsscheibe nun wirklich waren, werfen wir im nächsten Teil der Serie noch einen Blick auf die vielen Veränderungen die die Scheibe im Laufe der Zeit erlebt hat.

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Kommentare (11)

  1. #1 Captain E.
    12. März 2019

    Tja, wahrscheinlich wollten die Götter die Umläufe perfekt gestalten, haben dann aber in ihrer gewohnten Inkompetenz die Pläne falsch gelesen und dadurch die ganze Sache total vermasselt. 😉

  2. #2 Lutz Kaeselau
    12. März 2019

    Moin, kann es nicht auch ganz anders gewesen sein? Vielleicht haben kluge Menschen, die nichts aufschreiben konnten, ihr Wissen um den Lauf der Sterne in Geschichten gepackt, damit es sich ihre Kinder besser merken können. Nicht meine Idee sondern aus Hertha von Dechends Buch “Die Mühlen des Hamlet”.

  3. #3 Captain E.
    12. März 2019

    @Lutz Kaeselau:

    Ich befürte allerdings, dass diese “klugen Menschen” selber an die Geschichten über Götter, Geister und Dämonen geglaubt haben. Falls dem so gewesen sein sollte, haben sie sich beim Entdecken von Gesetzmäßigkeiten am Himmel lediglich auf die Schulter geschlagen, weil sie so schlau waren, einen Teil der göttlichen Pläne zu erkennen.

  4. #4 Florian Freistetter
    12. März 2019

    @Captain E. “Ich befürte allerdings, dass diese “klugen Menschen” selber an die Geschichten über Götter, Geister und Dämonen geglaubt haben. “

    Haben sie mit Sicherheit. Und ich würde sie deswegen auch nicht als weniger klug ansehen. Es gab damals schlicht und einfach keine Alternative dazu. Wer damals die Welt verstehen wollte, konnte das nur in einem mythologischen Kontext tun; das war ja auch das Thema meines gestrigen Artikels: https://scienceblogs.de/astrodicticum-simplex/?p=29041

  5. #5 Captain E.
    12. März 2019

    @Florian Freistetter:

    Schon klar, und meine Verwendung der “klugen Menschen” samt Anführungszeichen sollte eine Relativierung darstellen. Sie waren einerseits klug genug, um Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, aber über den mythologischen Tellerrand konnten sie andererseits trotzdem nicht hinaus blicken. Eine Show mit der Mythologie für das “einfache Volk” haben sie daher nicht abgezogen, sondern ernsthaft daran geglaubt.

    Zumindest sollten wir heute davon ausgehen.

  6. #6 Norbert
    13. März 2019

    …man kann sich an der Mythologie anderer Zivilisation orientieren.

    Das halte ich für sehr schwierig. Angesichts der damaligen Art zu reisen bezweifle ich, daß das Wissen über direkte Kontakte vermittelt wurde. Es dürften eher mehrere Zwischenstationen beteiligt gewesen sein, d.h. wenn es zu einem Mythologietransfer gekommen ist, dann war die ursprüngliche Erzählung sicher mehrfach überprägt und den Vorstellungen der jeweiligen Vermittler angepasst – wenn nicht gar völlig verdrängt worden. Und über die Mythologien der damals zwischen Mesopotamien und Mitteleuropa lebenden Völker ist mangels schriftlicher Quellen leider nichts bekannt.

  7. #7 Florian Freistetter
    13. März 2019

    @Norbert: ” Angesichts der damaligen Art zu reisen bezweifle ich, daß das Wissen über direkte Kontakte vermittelt wurde.”

    Auch damals wurde viel und weit gereist (darüber wird im Buch später noch viel geschrieben).

  8. #8 Bullet
    13. März 2019

    @Norbert:

    Angesichts der damaligen Art zu reisen bezweifle ich, daß das Wissen über direkte Kontakte vermittelt wurde.

    Tu das. Verbietet dir keiner. Es könnte aber sein, daß deine Zweifel unbegründet sind. Erstens, weil “indirekte Kontakte” in Zeiten ohne Internet erheblich seltener waren und weniger Auswirkung hatten, und zweitens weil die Art des Reisens für irgendwelche Kontakte solange irrelevant ist, wie die Art des Reisens den Reisenden in einem Zustand beläßt, der dafür sorgt, daß der Reisende hinterher noch was erzählen kann. Dafür wurden zumeist Reisemethoden verwendet, bei denen sehr großen Wert auf erwähnte Eigenschaft gelegt wurde.

    Die Methode des großzügig-in-Harz-Eingießens-und-dann-in-den-Fluß-werfens wurde beispielsweise nach einer Testphase ausdrücklich als nicht effizient für diejenige Gruppe von Reisenden beurteilt, bei denen Entsendende und/oder Reisende sichergehen wollten, daß die Reisenden am Zielpunkt der Reise noch am Leben und bei Gesundheit sein sollten.

  9. #9 Norbert
    17. März 2019

    Diese “indirekten Kontakte” nennt man auch “Handel”. Ich stelle mir das analog zur Schriftentwicklung vor: Die Ägypter haben es den Phöniziern gezeigt, die haben den Griechen davon erzählt, und die wiederum haben’s den Römern und später noch den Slawen beigebracht. Bei der Himmelsscheibe könnte die Kette halt Sumerer – Luwier – Protothraker – Wieselburger Kultur – Aunjetitzer Kultur sein.
    Und Reisen war damals verdammt mühselig und gefährlich. Technisch war es sicherlich möglich, von den Ufern des Euphrat in die Altmark zu reisen – oder hin und zurück. Ich glaube aber nicht, daß derartige Reisen oft genug, und von ausreichend Menschen unternommen wurden, um die lokale Mythologie beeinflussen zu können (also abgesehen von der möglichen Entstehung einer weiteren Argonautensage).

  10. #10 Johannes
    29. März 2019

    Vielen Dank für den interessanten Artikel.

    Das Bibelbuch Hiob gilt als sehr altertümlich. Dort liest man in 38:31
    “Verknüpfst du denn die widerstrebenden Pleiaden, oder die Fesseln des Orion, löst du sie?”
    Zum Orion “nahe” der Plejaden gehören 4 Trapezsterne im äußeren Bereich und 3 Gürtelsterne. Wir können nicht wahrnehmen, was Astronomen erkannten: Die drei zentralen Sterne fliegen in verschiedene Richtungen. Sie entfernen sich voneinander, im Gegensatz zu den Plejaden-Sternen. Gottes Frage an Hiob erstaunt. Er fragte, ob Hiob die Gürtelsterne löse, wie Gott. (Quelle: Roger Liebi: „Bibel und Wissenschaft“)

  11. #11 Spritkopf
    29. März 2019

    @Johannes

    Quelle: Roger Liebi

    *lach*
    Nee, is klar. Ein religiöser Fundamentalist wie Liebi sieht sowas als Beleg, dass die Bibel irrtumsfrei sein müsse.

    Dumm nur, dass Gott – bzw. der Schreiber des Altertums, der sich dieses Histörchen ausdachte – nur ein paar Verse zuvor kräftig danebenlag, als er meinte, die Erde sei eckig und breit und stünde auf Pfeilern und das Meer sei bei seiner Entstehung aus der Erde gequollen wie aus einem Mutterleib, bis jemand (Gott) die Tür zugemacht hätte.