150 Jahre in eineinhalb Stunden – so etwa könnte mein Tagebucheintrag für den Vormittag des 7. Januar ausgesehen haben. 150 Jahre ist es her (genauer gesagt: wird es am 10. April 2011 her sein), dass die Charta des Massachusetts Insitute of Technology unterzeichnet wurde (siehe Abbildung)

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, und diese eineinhalb Jahrhunderte werden in einer Sonderausstellung des MIT-Museums* durch 150 Exponate gewürdigt, die alle von MIT-Absolventen oder -Forschern geschaffen wurden. Und eigentlich waren die eineinhalb Stunden, die ich als einer der ersten Ausstellungsbesucher am Freitag vormittag dort verbracht habe, noch viel zu wenig, um auch nur einen Bruchteil der Ausstellungsstücke angemessen zu würdigen.

* Das MIT-Museum ist ein Wissenschaftsmuseum der besonderen Art, in dem es um aktuelle Forschung geht – also nicht primär um die Konservierung des Erreichten, sondern um die Präsentation des künftig Möglichen, wenn ich mal den Leiter des Museums, John Durant, paraphrasieren darf.

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Und anders als viele Museumskuratoren andernorts können Durant und seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus dem Vollen schöpfen, dank der großen Bereitschaft der MIT-Akademiker, ihre Arbeit zu präsentieren. “Das ist wie Trinken aus einem Feuerwehrschlauch”; erklärt Durant – eine am MIT oft verwendete Metapher (die sich auch in Form einer funktionsfähigen Skulptur auf im Stata Center der Uni manifestiert).

Äääh … wo war ich? Ach ja, in der Sonderausstellung zum 150. MIT-Jubiläum. Viel Technik, versteht sich, viele Dokumente (klar doch), viel Geschichte – wie in so einem Fall selbstverständlich zu erwarten: “Vieles ist einfach brilliant und mutig, aber manches auch nur auf perfekte Weise lächerlich”, beschreibt die MIT-Präsidentin Susan Hockfield diese Kollektion.

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Mit Letzterem meinte sie wohl jenes “Täschchen”, das mit großem technischen Aufwand aus einer Kunstseide aus Schweineohren gewebt wurde und mit dem Arthur D. Little, Gründer der gleichnamigen Unternehmensberatung, das amerikanische Sprichwort “You can’t make a silk purse out of a sow’s ear” (im Deutschen hätten wir als Äquivalent die Unmöglichkeit zu bieten, auf einer Glatze Locken zu drehen) widerlegen wollte.

Die meisten Schaustücke sind Ikonen der modernen Technikgeschichte – zum Beispiel der erste wissenschaftlich verwendbare Taschenrechner, der HP-35 (dessen Dimensionen von 3,2 mal 5,8 Zoll durch die Abmessungen von Bill Hewletts Hemdbrusttasche vorgegeben waren),

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oder der Roboterarm von Marvin Minsky. Und manche, wie etwa jenes Magnetron, das britische Wissenschaftler während des Zweiten Weltkrieges ihren MIT-Kollegen schickten, die darauf dann die Entwicklung des Bordradars begründeten, ohne die Englands verheerende Bombenangriffe auf Deutschland (ab 1943) kaum denkbar gewesen wären, haben vermutlich im wörtlichen Sinn die Welt verändert.

Der Fremde im Zug

Doch das Exponat, das mich am tiefsten beeindruckt hat, liegt beinahe unscheinbar in einer Glasvitrine – fünf mit Bleistift handbeschriebene Seiten. Es ist ein Brief von Norbert Wiener (ihm verdanken wir den Begriff der Kybernetik) an seine Schwester Bertha. Wiener, ein ehemaliges Wunderkind (er begann als Elfjähriger sein Mathematikstudium an der Tufts University), hatte 1925 als junger MIT-Professor Europa bereist, als er auf der Zugfahrt nach Genf plötzlich ein Gesicht sah, das ihm bekannt vorkam: Es war Albert Einstein. Im Brief schildert er seiner Schwester, wie er seinen Mut zusammenfasste und sich dem Genie vorstellte; wie sie ins Plaudern kamen, wobei ihm Einstein von seiner jüngsten Forschungsarbeit erzählte:

… his reduction of gravitation and the Maxwell equations to a single equation … bran (sic)-new stuff–it’s not out yet and he only wrote it three weeks ago.

(Ich bin kein Physiker, aber wenn ich nicht irre, dann handelte es sich hier um Einsteins Arbeit über die Einheitliche Feldtheorie von Gravitation und Elektrizität.) Damit sie ihr Gespräch fortsetzen konnten, zog Einstein – auf dem Weg zu einer Sitzung des Völkerbundes – für den Rest der Reise in die dritte Klasse (wo Wiener saß) um; volle fünf Stunden lang unterhielten sie sich über Dinge, die sie bewegten, von Politik über wissenschaftliche Ausbildung bis zu den landschaftlichen Schönheiten der Schweiz. Den Brief kann man hier im Original lesen; Dank an Kommentator michael für den Link.

Diese Anekdote verkörpert für mich mehr als jedes andere Exponat der Ausstellung, was das Wesen der Wissenschaft ist: der Austausch von Wissen fast mehr noch als das Schaffen von Wissen – und vor allem der Spaß an diesem Austausch. Welcher CEO, welcher Politiker würde einen Platz in der Business Class aufgeben, um dafür stundenlang in der Economy Class mit einem jungen Kollegen schwätzen zu können? (Obwohl: Würden Wissenschaftler – wenn sie denn mal Business Class fliegen dürfen – das heute auch noch tun?)

Ergänzende Anmerkung: Aus irgend einem Grund (den ich noch erforschen muss) ist die Kommentarfunktion zu diesem Beitrag defekt. Für Kommentare bitte hier klicken.

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