Bereits vor mehr als 100 Jahren hatte die Psychoanalyse herausgefunden, dass unser rationales Denken manchmal nur eine Selbsttäuschung ist, deren Aufklärung mitunter in dunkle Gefilde führt. Die neuere Psychologie hat diese Erkenntnis in vielfältiger Weise bestätigt und vertieft, hier sei nur an Peter Wasons bahnbrechende Experimente zum „motivated reasoning“ und zum confirmation bias oder an die Analysen Kahnemans und Tverskys zu heuristischen Holzwegen des Denkens erinnert. Noch radikaler haben manche Strömungen der Neurowissenschaften das Rationalitätskonzept menschlichen Handelns infrage gestellt, etwa im Gefolge der Experimente von Benjamin Libet.

Allerdings ist die Rückseite der Rationalität nicht leer. Marxistische Analysen haben z.B. die bürgerliche Ideologie als logisch kohärente Tiefenebene hinter den scheinbar subjektiven Handlungsgründen der Menschen beleuchtet und das subjektive Bewusstsein an sich als Ausdruck gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen entschlüsselt. In jüngerer Zeit wird darüber hinaus ganz explizit die These vertreten, dass hinter allem eine verborgene Absicht steht, dass nichts zufällig geschieht und alles mit allem zusammenhängt. Man könnte hier geradezu von einem rationalistischen Totalitarismus sprechen.

Insofern ist das Verständnis menschlicher Rationalität von einer tiefgreifenden Dichotomie und Duplizität durchzogen. Ernst August Dölle hatte gezeigt, dass solche Konstellationen eine dialektische Auflösung verlangen, dass Dichotomie und Duplizität keine stabile ontologische Basis für eine wissenschaftliche Rekonstruktion der Rationalität darstellen.

Nun hat eine neue Studie im Journal of complex Rationality 2023;1(4) für diese Perspektive eine neuropsychologische Erklärung geliefert. Spiegelneuronen arbeiten aktiv auf eine Synthese von Dichotomie und Duplizität hin und dies kann pharmakologisch sogar unterstützt werden. Konzepte der hybriden Rationalität oder synonym der inversen Irrationalität dürften künftig den Forschungen von Ernst August Dölle neue Aktualität verleihen. Wie es aus dem BMBF heißt, soll dazu ein Förderprogramm vorbereitet werden, um Deutschland auf diesem Gebiet eine führende Rolle in der Forschung zu sichern. Man darf gespannt sein.

Kommentare (20)

  1. #1 rolak
    1. April 2023

    kann pharmakologisch sogar unterstützt werden

    Wird heute nachmittag auf einer Geburtstagsfeier Richtung Eifel ausgiebigst getestet werden, kein Scherz!

  2. #2 hto
    Holographische Konfusion
    1. April 2023

    Kuhn: “… dass nichts zufällig geschieht und alles mit allem zusammenhängt.”

    Das Problem dabei: Die wettbewerbsbedingt-systemrationalen Ausreden, die heuchlerisch-verlogene Bewusstseinsschwäche in Schuld- und Sündenbocksuche, des zeitgeistlich-reformistischen Kreislaufes im imperialistisch-faschistischen Erbensystem – Vernunft und Verantwortungsbewusstsein, zweifelsfrei-eindeutig und wirklich-wahrhaftig? Nee, in der Konfusion/Überproduktion von Kommunikationsmüll des geistigen Stillstandes seit … gilt: Warten auf Godot, wo die Sinnhaftigkeit von zufälliger Einmaligkeit wissenschaftlich …!? 😉

  3. #3 hto
    Holographische Konfusion
    1. April 2023

    Kuhn: “Marxistische Analysen haben z.B. die bürgerliche Ideologie als logisch kohärente Tiefenebene hinter den scheinbar subjektiven Handlungsgründen der Menschen beleuchtet und das subjektive Bewusstsein an sich als Ausdruck gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen entschlüsselt. In jüngerer Zeit wird darüber hinaus ganz explizit die These vertreten, dass hinter allem eine verborgene Absicht steht, dass nichts zufällig geschieht und alles mit allem zusammenhängt.”

    Auweia 🙂 Dieser Abschnitt läßt durchblicken: Die Zufriedenheit fataler Selbstsicherheit über assimilierte Feindbilder, die uns derzeit ohne einen Funken von/für wirklich-wahrhaftigen Verstand in die Dunkelheit der nahen atomaren Apokalypse leitet!? 😉

  4. #4 Fluffy
    1. April 2023

    Das Gehirn besteht aus zwei Hälften. Deswegen kann es bei gewissen Defiziten auch dichothomiert werden.
    Aber für eine wahre Botschaft reicht eine binäre Betrachtung nicht aus. Es braucht schon eine Trinität.
    Schließlich gibt es zwischen dem Punkt und dem Strich im Morsealphabet ja auch den Zwischenraum.

  5. #5 Alisier
    1. April 2023

    Trinität ist das richtige Stichwort.
    Dichotomie und Duplizität sind nicht nur so kurz vor Ostern fast schon als blasphemisch zu brandmarken.
    Auf eine gelungene pharmakologische Unterstützung zwecks tiefer Trinitätserfahrungen und -erkenntnissen während der Feiertage!

  6. #6 Wolfgang Stegemann
    Bad Iburg
    1. April 2023

    Was immer Libet zu seinen Experimenten veranlasst hat, ganz offensichtlich war es ja die Vorstellung, dass Entscheidungen möglicherweise gar nicht bewusst getroffen werden.
    Die einen haben daraus die Konsequenz abgeleitet, der Mensch sei für seine Handlungen nicht verantwortlich, die anderen meinen, das Aktionspotential, das der Handlungsentscheidung vorausging, würde auf einen unbewussten Vorgang hinweisen, den freien Willen würde dies aber nicht tangieren. Eine überzeugende Begründung hierfür liefern sie nicht. Warum dem so sei, lassen sie im Dunkeln, frei nach dem Motto, man könne ja nicht alles erklären.

    Am Beispiel Libets zeigt sich zum einen die babylonische Sprachverwirrung in den Humanwissenschaften, zum anderen die weitverbreitete Unsitte, Begriffe aus der einen Disziplin auf Felder der anderen abzubilden, ohne dass man zuvor über eine entsprechende Kompatibilität nachgedacht hätte.

    Wenn dann noch statt inhaltlicher lieber per reiner Begriffsassoziation argumentiert wird, ist das Chaos perfekt. Leider trifft man dies in der kognitiven Neurowissenschaft allzuoft an.

    Libet sagt, Entscheidungen würden unbewusst getroffen bzw. das Aktionspotential würde sich unbewusst bilden.
    Was soll man mit einer solchen Aussage anfanden? Es geht hier um die Folgen für den freien Willen. Also macht es keinen Sinn, Entscheidungen mit dem Unbewussten in Verbindung zu setzen, sondern einzig die Frage zu erörtern, ob und wie ein Wille zu einer Entscheidung führt oder nicht.
    Lassen wir die reduktionistische Vorstellung, die Physiologie treffe Entscheidungen und teile sie danach dem Bewusstsein mit, als kompletten Unsinn weg.
    Dann bleibt die Frage, muss man das Treffen einer Entscheidung nicht direkt in Zusammenhang mit einem Willen betrachten? Und dabei ist es völlig egal, wie eine solche Entscheidung getroffen wird. Der Begriff Unbewusstes trägt hier nur zur Verwirrung bei, weil er – kategorial fehlerhaft – mit der Physis gleichgesetzt wird.
    Sinnvollerweise spricht man also von einer Willensentscheidung, bei der ihr Zustandekommen unwichtig ist.
    Besser als das Unbewusste ist hier das Nichtrationale. Warum? Weil das Unbewusste die Gesamtheit der Prozesse ist, die unstrukturiert verlaufen und bei denen völlig unklar ist, mit welchen physischen Prozessen sie korreliert werden könnten.

    Der Begriff der Nichtrationalität scheint hier besser geeignet, da er bewusste Prozesse meint, die nicht auf der Ebene der abstrakten Sprache, sondern der Symbole verläuft.

    Während das Unbewusste also nicht bewusst ist, ist das Nichtrationale durchaus bewusst. Mit diesem Begriff kann man nun versuchen, eine Entsprechung in der Physis zu finden.
    Unter diesem Aspekt treffen die Libet Probanden eine bewusste Entscheidung, den Arm zu heben, und nicht eine unbewusste. Das Heben des Arms folgt nicht derselben Entscheidung, als wenn ich mich für die eine oder andere logische Strategie entscheide, sondern sie beinhaltet rationale und nichtrationale Komponenten, ist aber immer bewusst.

    Mit einer solchen Argumentation widerspricht man nicht nur jeder reduktionistischen Erklärung, sondern liefert gleichzeitig eine Begründung dafür, dass es einen Willen gibt, über dessen Freiheitsgrade im Einzelnen gesprochen werden kann.

    Leider neigt man im Rahmen solcher Diskussionen eher zu platten schwarzweiss Erklärungen.

    Bleibt zu erwähnen, dass ich die Libet Experimente und ihre Nachfolger für äußerst zweifelhaft halte, da hier der subjektive Eindruck des Probanden der entscheidende Faktor ist.

  7. #7 Kyllyeti
    Waldeifel
    1. April 2023

    Geburtstagsfeier Richtung Eifel

    Großartig!
    Wie jedes Jahr zu diesem Tage, feiern wir heute den “Tag des nichtheuristischen Holzweges”, und haben alle nötigen Wegweiser und so in den letzten Tagen dementspechend umgeschildert.
    Besonders willkommen sind uns dabei, wie immer schon, ortsunkundige Besucher aus den nördlich von hier gelegenen Agglomeraten.

  8. #8 Jolly
    1. April 2023

    @Joseph Kuhn

    Ernst August Dölle kannte ich bisher nicht (eventuell weil sein Wikipediaeintrag zeitweise gelöscht war?). Danke für den Hinweis, interessante Biographie, auch wenn das seinen Erkenntnissen widersprechen mag, für mich neu und wissenswert.

    Aus den heimischen Heide-Wäldern, die ihm »Einheit von Werden und Gewordensein, Ausgleich in der Dialektik von Natur und Geschichte, Sinnbild von Leben und Tod« waren, verschlug es den steifen Pastorensohn nach dem frohsinnigen Konstanz.

    (Spiegel)

    »Vieles, was man sagen könnte, wird nicht ausgesprochen.«

    »Vieles, was ausgesprochen wird, trifft nicht zu.«

    »Das Wenige, was zutrifft, ist meistens weder neu noch wissenswert.«

  9. #9 Joseph Kuhn
    1. April 2023

    Werbung:

    Nebenan bei den Scilogs wurde Werbung für Nebenan bestellt: https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/neuromythos-libet-experiment-was-der-beruehmte-forscher-wirklich-ueber-willensfreiheit-herausfand/#comment-83499

    Dem komme ich hiermit gerne nach. Möge es zur transzendentalen Transformation der Dichotomie von Duplizität und Wechselseitigkeit beitragen.

  10. #10 hto
    Holographische Konfusion
    1. April 2023

    @Kuhn

    Besser Du reibst Dich mit Franzbranntwein ein 😉

  11. #11 Jolly
    1. April 2023

    @Joseph Kuhn

    Danke für das Freischalten der Kommentare von @hto. An manchen Tagen lese ich die ganz gerne.

  12. #12 Kinseher Richard
    1. April 2023

    Thomas Nagel wies 1974 in seinem Essay ´What is it like to be a bat?´ darauf hin, dass wir die Erlebniswelt eines anderen Lebewesens nie verstehen können.

    Was wir nicht verstehen können – können wir auch nicht ´spiegeln´!
    D.h. die Idee der ´Spiegelneuronen´ war schon widerlegt, lange bevor sie in den 1990er Jahren erfunden wurde

  13. #13 RainerO
    1. April 2023

    @ Jolly

    An manchen Tagen lese ich die ganz gerne.

    Wirklich? Sein Geschreibsel ist doch maximal öde und seit Jahren immer wieder dasselbe.
    Selbst als Aprilscherz ist das ziemlich lahm.

  14. #14 winihuber
    1. April 2023

    Ich mag das Rationale irgendwie nicht so gern. Mir ist ein bisschen das Mystische lieber, genauer die Zahlenmystik. Ist doch viel lustiger als dieses Ratioding. Holzwege sind aber schon super, ganz gleich wann. Dass nichts zufällig passiert, hat Mathias Würfel aber schon längst festgestellt! Spielt sich alles in der unterbewussten Tiefebene ab. Wie sieht es mit der Vorderseite der Rationalität aus? Müsste ziemlich voll sein. Ich arbeite schon längst mit hybrider Rationalität – wenn ich nicht mit der Mystik arbeite. Mein Hirn wird jedenfalls elektrisch und mit Diesel betrieben.

  15. #15 Beobachter
    1. April 2023

    zu # 14:

    ” … Mein Hirn wird jedenfalls elektrisch und mit Diesel betrieben.”

    Dann haben Sie besonders in Zukunft aber ganz schlechte Karten.
    Wenn Ihnen der Saft und der Sprit abgedreht wird – dann geht gar nix mehr in Ihrem Hirn und von wegen Rationalität.
    Dann müssen Sie voll auf gefühlte Mystik abfahren …

  16. #16 winihuber
    1. April 2023

    @Beobachter

    “Dann müssen Sie voll auf gefühlte Mystik abfahren …”

    Passt eh! Wie gesagt – Zahlenmystik: Morgen ist der 33.März!

  17. #17 Jolly
    1. April 2023

    @RainerO

    Wirklich?

    Es fällt mir oft schwer, zu unterscheiden, was ich mal ernst gemeint habe und was nur ein Scherz sein sollte. An manchen Tagen ist es noch schwieriger. Um nichts Falsches zu sagen, lass ich deine Frage daher sicherheitshalber unbeantwortet.

  18. #18 Jolly
    1. April 2023

    @Kinseher Richard

    Was wir nicht verstehen können – können wir auch nicht ´spiegeln´!

    Falls das als Scherz gedacht war, ich bin nicht darauf reingefallen.

  19. #19 PDP10
    2. April 2023

    @Joseph:

    Darf man fragen (inzwischen ist ja der 2. April) welchen Bullshit-Generator du benutzt hast?
    Das Resultat ist jedenfalls nicht unbeeindruckend.
    (Auf jeden Fall liefert der auffallend bessere Resultate als der, den hto immer benutzt … )

  20. #20 hto
    Holographische Konfusion
    2. April 2023

    @Stegemann: “Am Beispiel Libets zeigt sich zum einen die babylonische Sprachverwirrung in den Humanwissenschaften, zum anderen die weitverbreitete Unsitte, Begriffe aus der einen Disziplin auf Felder der anderen abzubilden, ohne dass man zuvor über eine entsprechende Kompatibilität nachgedacht hätte.”

    Das ist nicht nur in den “Humanwissenschaften” so, das ist im zeitgeistlich-reformistischen Kreislauf des imperialistisch-faschistischen Erbensystems allgemein so und SCHANGIERT als “gesundes” Konkurrenzdenken um die Deutungshoheit des “freiheitlichen” Wettbewerb – Der “Tanz um den heißen Brei” / das “goldene Kalb” im geistigen Stillstand 😉 🙂

    Am Ende ist Mensch NICHT KOMPATIBEL mit der kosmischen Ordnung, schade eigentlich!? 😉