In der von Werner Riess (Chapel Hill) und Martin Zimmermann (München) geleiteten Sektion „Grenzen der Gewalt – Definition, Repräsentation und Einhegung eines universalen Phänomens in antiken Kulturen” (1.10.2010) wurden überlieferte Gewaltbilder verschiedener Quellentypen der griechischen und römischen Geschichte einander gegenübergestellt. Dabei ging es nicht nur um einen Vergleich der antiken Herangehensweisen an die Gewalt und die vielfältige Auseinandersetzung mit dieser in Literatur, Kunst und weiteren Quellengattungen, Medien und Kontexten, sondern auch um die Frage, inwieweit die antiken Vorstellungen von Gewalt mit dem aktuellen „westlichen” Gewaltbegriff kompatibel sind.
Von Christian Jung
Plötzliche Konfrontation mit Gewalt
In seinem Vortrag „Literarische Gewaltbilder als Medien moralischer, politischer und kultureller Grenzziehungen” betonte Prof. Dr. Martin Zimmermann (München) zu Beginn, dass der Mensch immer fähig sei, „physische Gewalt auszuüben, und daher auch ständig in Gefahr” sei, „sie durch andere zu erleiden”. Diese banale Grundaussage benenne zwar recht neutral die verstörende Grundbedingung der menschlichen Existenz. Doch ist nach seinen Worten die Gefahr der plötzlichen Konfrontation mit Gewalt im Denken und Handeln von Individuen und Gemeinschaften existent. Dies erklärt auch die Entwicklung von Schutzgeistern, die sich später in den christlichen Schutzengeln manifestierte.
Rausch der Gewalt im Götterhimmel als Ordnungsinitiation
Am Beispiel der irratonalen Sorge, die Gewaltbereitschaft der Gesellschaft nehme zu, und die Medienberichterstattung über Ereignisse, die mit Gewalt in Verbindung stehen, werden immer wieder diffuse Gefühle und Ängste verstärkt. Diese gefährden für Zimmermann „immer die in langen Prozessen ausgehandelten Modi der Gewaltbändigung” auf grundsätzliche Weise. Nach dieser Einführung spannte der Referent den inhaltlichen Bogen zurück zur mythischen Weltentstehung und des Pantheons, wie sie schon von Hesiod in seiner Theogonie beschrieben wird. Der seine Kinder verschlingende Uranus ist laut dem Münchener Althistoriker der erste, der im Rausch der Gewalt die „aeikieia erga”, die schrecklichen Taten vollführt und dadurch im Götterhimmel die gute Ordnung indirekt mit initiiert.
Schutz des Einzelnen gegen Gewalt
Nach zahlreichen Gewaltanwendungen schafft es dann schließlich Zeus nach langem Kampf gegen die Giganten, eine mit dem Recht in Verbindung stehende Ordnung, in der die physische Gewalt kalkulierbar wird und illegitime Formen der Gewalt „grausam und mitleidlos” bestraft werden, zu errichten. Durch die fortwährende mythische Reflexion und die Weitergabe an die folgenden Generationen kam es schließlich in den antiken Gesellschaften zu einem komplizierten Prozess, in dem der Einzelne gegen Gewalt geschützt und seine körperliche Integrität gewährleistet wurde. So ist auch zu erklären, dass bei Verstößen gegen diese mythische Ordnung Züchtigung und Todesstrafe nur durch Personen vorgenommen wurden, die man im Konsens und gemeinschaftlich zu diesem Zweck bestellte.
Antike Medien thematisierten Optionen menschlichen Handelns
Eine Aufhebung dieser Machtzustände lässt sich nach Auskunft von Zimmermann etwa „beim Tyrannenmord studieren, in dessen Umfeld Lynchjustiz verübt und sogar die sakrale Ordnung ausgesetzt wird”. Die Option des menschlichen Handelns, aber insbesondere die Aufhebung von Machtzuständen durch eine „Transgression der Ordnung” seien in damaligen Kommunikationsformen und Medien ununterbrochen thematisiert und ausgehandelt worden. „Dies geschah in performativen Akten, Ritualen, in Bildwerken und in besonders vielfältiger Art auch in den Schriften unterschiedlicher historischer Gattungen”, sagte Zimmermann und unterstrich, dass neben Tragödien und Epik insbesondere die Geschichtsschreibung und Biographie eine zentrale Rolle bei der Beantwortung der Frage gespielt habe, welche Formen von Gewalt legitim und illegitim sind.
Aufhebung der Ordnung durch Übertreibung
Das explizite Sprechen über Gewalt in der Literatur hat nach der Analyse Zimmermanns jedoch keine direkte moralisch-ethische Funktion, sondern verfolge, wie am Beispiel der Biographie Plutarchs über Cicero deutlich wird, andere Zielsetzungen. In der episch ausgeschmückten Lebensgeschichte zwingt die Frau Ciceros einen am Mord an ihrem Mann Beteiligten, sich das Fleisch von den Armen zu schneiden, dieses zu grillen und zu verspeisen. Diese in Anlehnung an den damals geläufigen Aias-Mythos aus medizinischer Sicht nicht durchführbare Handlung offenbart demnach durch die bewusst phantasievolle Schilderung als Motiv die Aufhebung der traditionellen Ordnung durch die literarische Übertreibung. In dieser wird nicht das Handeln der Ehefrau beurteilt, sondern auf einer damals für alle zugänglichen und verstehbaren Metaebene der Irrsinn als Folge des römischen Bürgerkriegs hervorgehoben, über den es nachzudenken gilt.
Erfundene Geschichten müssen analysiert werden
Auch zahlreiche Autoren der Kaiserzeit untersuchten in diesem Zusammenhang, ob der Leser durch Affekterregung oder durch klare politische Analyse zu einem Urteil geführt werden solle. Doch die Gewaltschilderungen verraten nichts über die persönlichen Meinungen der Autoren. Sie überlassen es dem Leser, wie er über Gewaltakte denkt. Moderne Historiker stehen für Zimmermann infolgedessen vor der Herausforderung, mit Bildern und Berichten konfrontiert zu werden, „die zum Zwecke der genannten Verständigung erfunden sind und nichts mit realen Vorfällen mehr zu tun haben.”
Prämissen für Gewaltbilder
Drei Prämissen für Gewaltbilder wurden in der Folge vom Referenten eingeführt: „Zum ersten wollten die Produzenten der Bilder tatsächlich über reale Gewalt berichten. Sie wählten zweitens dafür Bilder, die das Geschehen abweichend von den tatsächlichen Vorkommnissen schildern, wobei sie auf gängige Motive zurückgriffen. Zum dritten waren Bild und Text an ein Publikum gerichtet, das diese Informationen unmittelbar lesen und verstehen konnte.” Hinter den Gewaltbildern römischer Historiographie habe auch ein heftig geführter politischer Konkurrenzkampf innerhalb der Aristokratie gestanden, den die Mitglieder der Führungsschicht mit medialen Mitteln austrugen. Insbesondere bei der biographischen und historiographischen Darstellung der einzelnen Kaiser wurde ein besonderer Einfallsreichtum entwickelt, um Hinrichtungen und Selbstmorde von Mitgliedern der römischen Führungsschicht in allen Farben auszumalen.
Horrormotive eröffnen neues Verständnis für die Antike
Solche Horrorszenarien gäben jedoch keine Hinweise über reale physische Gewalt. „Dafür eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten, hinter der Erzählung stehende Absichten zu ermitteln und politische Konflikte zu diagnostizieren sowie juristische wie moralisch-ethische Aushandlungsprozesse zu beschreiben. Die Beschäftigung mit den Horrormotiven in der Geschichtsschreibung eröffnet die Chance, in ganz unterschiedlichen Feldern neue Einsichten zu gewinnen”, betonte Martin Zimmermann abschließend. Sie sind für ihn ein wichtiger Schlüssel für das Verständnis antiker Kulturen, indem durch die Gewalt-Darstellungsstrategien der Autoren die Rolle der Gewalt und die Aushandlungsprozesse von Macht und Ordnung in den jeweiligen Epochen und Gesellschaften besser analysiert werden können.
Bilderwelt Athens im 6. und 5. Jahrhundert
Mit dem Thema „Bilder der Gewalt – Annäherung an eine historische Interpretation medialer Gewalt” beschäftigte sich im Anschluss Prof. Dr. Susanne Muth (Berlin), die kurzfristig verhindert war und von Dr. Katharina Lorenz (Nottingham) vertreten wurde, die ihr Manuskript zusammen mit zahlreichen Bildbeispielen vortrug. Seitdem sich die Altertumswissenschaften zunehmend den Fragen nach den Kulturen der Gewalt zugewandt hätten, richte sich ihr Blick immer wieder auf die Bilderwelt Athens im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr., so Muth. Denn in der Bildwelt des archaischen und klassischen Athen gebe es den wohl aufschlussreichsten und zugleich herausforderndsten Befund, wenn es um das „Verhandeln” von Gewalt im Medium des Bildes in der griechischen und römischen Antike gehe.
Grundsätzliche Möglichkeiten der historischen Interpretation
„Entsprechend hat sich dieser Befund der attischen Bilder schnell zu einem Schlüsselbefund etabliert – in verschiedener Hinsicht: einerseits, was unsere Fragen betrifft, die wir als Historiker und Archäologen an derartige Bilder der Gewalt herantragen können und müssen; und andererseits, was die Methoden betrifft, mittels derer wir diese Bilder der Gewalt in ihrer historischen Aussagekraft zu entschlüsseln versuchen”, sagte Susanne Muth. Die attischen Bilder hatten eine große Vorbildfunktion, so dass die Gewaltdarstellung konsequent auch auf andere Bildbefunde der antiken Kulturen übertragen und für die dortigen Diskussionen um das Phänomen der Gewalt wiederum angewandt werden konnten. Die Bildbefunde müssten in diesem Zusammenhang nicht nur als historische Quellen für die Kultur des archaischen und klassischen Athens befragt werden, sondern dienten ebenso als Fallbeispiel, um hier die grundsätzlichen Möglichkeiten, aber auch die Problematik und die Grenzen einer historischen Interpretation medialer Gewalt zu diskutieren.
Vom Befund zur Interpretation
Aus dieser Zielsetzung heraus ergab sich der weitere Rahmen des Vortrags. Zunächst ging es um den Befund der attischen Bilder und die Qualität, wie in diesen Bildern Gewalt verhandelt wird, um zentrale Phänomene darzustellen, auf denen alle weiteren interpretatorischen Fragen basierten. In einem zweiten Schritt wurden dann die geläufigen Ansätze beleuchtet, die an diese Bildbefunde bislang herangetragen wurden. Die kritische Diskussion dieser Ansätze führte in einem dritten Schritt zu den grundsätzlichen Möglichkeiten einer methodisch angemessenen Interpretation solcher Bildbefunde und der Frage, in welcher Weise die Gewaltabbildungen als historische Quellen überhaupt benutzt werden können; und in einem letzten und vierten Schritt wurden die Konsequenzen in den Blick genommen, welche sich aus der Betrachtung des Fallbeispiels für die Interpretation medialer Gewalt allgemein ergeben.
Schmerzhaftes Sterben wird visualisiert
Am Beispiel der attischen Luxuskeramik zeigte Muth, wie künstlerische Gewaltdarstellungen zu Beginn des 5. Jahrhunderts plötzlich immer wieder auf neue Weise Gewalttätigkeit und Aggressivität formulierten, und die Bildwelt Athens mit einem regelrechten „Blutrausch” überzogen wurde. Bildmotive wie etwa der Tod des Minotauros fingen in einer völlig unbekannten Nahsichtigkeit das Opfer in seinem schmerzhaften Sterben oder aber in seinen psychischen Qualen im Anblick des ihm drohenden Schicksals ein – und brachten damit aggressives Töten und brutale Gewalttätigkeit in einer bisher unbekannten Qualität zur Darstellung.
Leid wird aus der Opferperspektive geschildert
Ein anderes Beispiel war in diesem Zusammenhang ein Vasenbild, auf dem die Eroberung Troias, die Ilioupersis, mit dem Überfall des Neoptolemos auf den greisen König Priamos dargestellt wird. In der Szene ist der König kurz vor dem tödlichen Schlag zu sehen, er hält seine Hände vor das Gesicht, da er den Anblick seines brutal erschlagenen Enkels, der auf seinem Schoß liegt, nicht erträgt. Für Susanne Muth ist diese Darstellung ein eindrückliches Beispiel der Tragödie, die sich bildlich auf ihren Höhepunkt zuspitzt. Das visualisierte Leid wird aus der Opferperspektive geschildert und offenbart neben der Ohnmachtskategorie der Schwäche (Minotauros) insbesondere die der Verzweiflung, durch die die Gewalt im Spiegel der Auswirkung präsentiert wird.
Metaebene der Gewalt-Fantasie
In der untersuchten Periode nehmen somit Pathos und Dramatik bei den jüngeren Bildern zu, das schmerzhafte Sterben und psychische Qualen kommen in der Gewaltikonographie zum Vorschein. Vor 500 und nach 490 überwiegen „normale” Kampfszenen, die aber nur starke oder schwache Protagonisten zeigen, nicht aber auf deren Leiden und Sterben verweisen. Somit stellte sich für die Wissenschaftlerin die Frage, weshalb gerade in der untersuchten Dekade die Gewalt in expliziter Weise in der Vasenmalerei mit vielen Waffen, Blut und den leidenden Opfern im Moment des Sterbens gezeigt wurde. Im Gegensatz dazu wurde ab 470 verstärkt eine „gedämpftere” Gewaltikonographie favorisiert, eine implizite Gewalt, deren Folgen für die Betrachter auf einer Metaebene der Fantasie verlagert wurden. Denn die Gewaltanwendung wird hier nur angedeutet.
Schmutzige und saubere Gewalt
Bei der „blutrünstigen” Periode sowie der nachfolgende Phase der „Gewaltdämpfung” war man bisher – basierend auf modernen Erfahrungen im Umgang mit medialer Gewalt – davon ausgegangen, dass diese Darstellungen mit dem Erleben realer Gewalt in den Perserkriegen zu tun haben. Doch können diese Phänomene in der attischen Kunst für Susanne Muth keineswegs mit modernen Gewaltauffassungen und -theorien erklärt werden, die in der Regel zu einer polarisierenden Reaktion führen: Denn der Rezipient neuzeitlicher Gewaltdarstellungen ergreift meist Partei für den Stärkeren/Sieger oder schlägt sich auf die Seite des Opfers. Besonders explizite Gewalt soll verurteilt werden, zumal das Leiden des unschuldigen Opfers eindrücklich gezeigt wird („schmutzige Gewalt”). Wenn die Gewalt dagegen nicht verurteilt werden soll, darf beim Betrachter kein Mitleid entstehen, damit nicht die „falsche Seite” berücksichtigt wird („saubere Gewalt”). „Die Ikonographie unserer heutigen Gewaltbilder funktioniert also eindeutig wertend, ihre Differenzierungsmöglichkeiten werden zur Distinktion verschieden bewerteter Gewaltarten eingesetzt; – und die jeweilige Gewaltikonographie dient folglich dazu, die Parteinahme des Betrachters zu steuern und seine polarisierende Reaktion zu unterstützen”, betonte Muth.
Gewalt als nicht wertendes Bildmotiv
Die attische Gewaltikonographie funktioniere jedoch im Gegensatz zu neuzeitlichen Gewaltdarstellungen themenunabhängig und sei damit auch bewertungsneutral. So könne der Perspektivenwechsel zur expliziten Gewalt in der Vasenmalerei nur bedingt etwas mit den Perserkriegen zu tun haben, da die verwendeten Formen der Gewalt keine inhaltliche Bewertung durchführen (zumal die ikonographischen Phänomene auch schon früher aufkommen). Die starken ikonographischen Schwankungen bei thematisch gleichen Bildern sowie die ikonographischen Ähnlichkeiten bei inhaltlich unterschiedlich bewerteten Bildern lassen sich nach Muth nur so deuten, dass die Bildmotive deskriptiv, nicht aber wertend funktionieren. Die auftauchenden und teils aus dem Mythos entstammenden Figuren werden dabei in ihrem Kräfteverhältnis zueinander charakterisiert, so dass Tapferkeit, Stärke und Macht an Gewicht gewinnen. Die Darstellung des leidenden und sterbenden Opfers ist hierbei zentraler Bestandteil in der bildgetragenen Charakterisierung des Stärkeren, erst hierdurch können der außergewöhnliche Held und der normale Krieger voneinander unterschieden werden. Gewalt ist somit kein „Bildthema”, sondern nur ein „Bildmotiv” und muss als dezidiert „mediales Phänomen” angesehen werden, das kein unmittelbares Zeugnis für die wirklichen damaligen Auffassungen und Denkschulen zur Gewalt abbildet. „Thema der Bilder ist der Diskurs um Macht und soziales Ansehen, beziehungsweise die spezifischen Leistungen und Tugenden, wie Stärke oder Tapferkeit, aus denen soziales Ansehen resultiert”, betonte Muth abschließend.
Aushandelbarer Charakter jeglicher Gewaltdefinition
Im Anschluss sprach Prof. Dr. Werner Riess (Chapel Hill) über „Ritualisierungen von Gewalt im Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr.” Dabei betonte er zu Beginn, dass „Gewalt für jede Gesellschaft die Transgression gültiger Normen” bedeute. Wo jedoch die jeweiligen Grenzen zwischen noch akzeptablen und inakzpetablen Verhaltensmustern verliefen, sei ebenso wie die Art und Weise, in der diese definitorischen Grenzziehungen erfolgen, kulturspezifisch. „Da diese Grenzziehungen alles andere als statisch sind, betonen Kulturwissenschaftler heute verstärkt den aushandelbaren Charakter jeglicher Gewaltdefinition. Sie wird dabei als dynamisches Konstrukt verstanden, das von sozialen, kulturellen und politischen Faktoren determiniert wird. In der Tat sind in den antiken Quellen explizite wie implizite Grenzziehungen zwischen legitimem und illegitimem Verhalten (Gewalt) auszumachen”, sagte Riess, der in seinem Vortrag Gewaltakte zwischen athenischen Bürgern analysierte.
Der physische Akt der Gewalt
Für Riess kommt es in einem kulturwissenschaftlichen Sinne besonders darauf an, die symbolische Bedeutung von Gewalt im athenischen Sozialgefüge herauszuarbeiten. Wie es Athen ohne reguläre Polizeikräfte schaffte, Gewalt so zu reduzieren beziehungsweise verstehbar zu machen, dass die Polis im 4. Jahrhundert stabiler als viele andere griechische Stadtstaaten war, zählte zum erweiterten Erkenntnisinteresse des Vortrags. Bei der Interpretation der athenischen Quellen legte Riess dabei einen engen Gewaltbegriff zugrunde: „Ich verstehe unter Gewalt einen physischen Akt, mit dem ein Mensch einen anderen schädigt oder die Absicht hat, dies zu tun.” Wenn man sich frage, wie Sinn konstituiert und bestimmten sozialen Praktiken zugeschrieben würde, und welches die Bedeutungsträger seien, vor allem in vormodernen, semi-oralen Gesellschaften, so stoße man unweigerlich auf die Bedeutung von Ritualen. „Meiner Studie liegen somit die Ritual- und Performanzstudien zu Grunde.” Mit diesem methodischen Ansatz könne man die heterogenen Quellen des 4. Jahrhunderts kombinieren und integrieren. Bei den herangezogenen Quellengattungen handelte es sich um die attischen Gerichtsreden, die Fluchtäfelchen und die Alte Komödie des Aristophanes. „Sie alle führten ursprünglich einen Gewaltdiskurs, der rituell eingebettet war, performativ auf”, unterstrich der Althistoriker.
Die Diffamierung des Gerichtsgegners als politisches Statement
Zunächst arbeitete Riess den Gewaltdiskurs, der in allen öffentlichen Veranstaltungen von den Gerichtshöfen über das Rathaus und die Volksversammlung bis hin zum Drama performativ inszeniert wurde, am Beispiel der attischen Gerichtsreden heraus: „Obgleich wir keinen Zugriff auf die tatsächlichen Geschehnisse haben, können wir sehr wohl erkennen, wie der Gewaltdiskurs bei den Rednern strukturiert ist. Die Bedeutung von Gewalt wurde dichotomisch definiert oder, ritualdynamisch gesprochen, dichotomisch konstruiert. In diesem dynamischen Prozess wurde die Interpretation dessen, was Gewalt darstellte und bedeutete, rhetorisch und damit stark standpunktabhängig verhandelt”, sagte Riess. Der Sprecher, unabhängig davon, ob er als Angeklagter oder als Verteidiger sprach, suchte seinen Widersacher immer als unverantwortlichen Schuldigen zu delegitimieren und zu diffamieren, ihn als das diametral Andersartige darzustellen, als Anti-Bürger. Er tat den ersten Schlag, er fügte schlimme Wunden zu und versuchte in Extremfällen Mord zu verüben. Einige Oppositionspaare hätten dabei beiderseits Verwendung finden können: Einen Gewaltakt öffentlich oder im Geheimen auszuführen, in der Nacht oder bei hellem Tageslicht, nüchtern oder betrunken, als alter oder als junger Mann, hätte vom Sprecher sowohl negativ als auch positiv in Anspruch genommen werden können. Somit gäbe es in Bezug auf die Gewalt keine festen Tatbestandsmerkmale, so Riess.
Transgressive Qualität der Hybris
In diesem Zusammenhang machte es der flexible Gewaltbegriff möglich, die Gewalt des jeweiligen Gegners, wie schwerwiegend auch immer sie war, rhetorisch im Gerichtsverfahren als derart sozial schädlich zu brandmarken, dass sie den Konflikt eskaliert zu haben schien. Trotz oder gerade wegen der fehlenden Tatbestandsmerkmale, die Gewalt definiert hätten, glaubten die Athener an die Mehrheitsentscheidung der Richter im Gemeinschaftsurteil. Die friedensstiftende Funktion des Justizwesens bestand also nicht so sehr in der endgültigen Lösung von Konflikten – wir wissen, dass viele Streitigkeiten nach einem Gerichtsurteil weiterverfolgt wurden -, sondern auf der rituellen, symbolischen Ebene, insofern als die Athener sich tagtäglich im Ritual des Gerichtsgangs ihrer ganzen Definitions- und Handlungsmacht bewusst wurden. Gewalt, deren Tatbestandsmerkmale also erst vor Gericht und dort stets aufs Neue verhandelt und festgelegt wurden, wurde unter diesen Umständen zum rituellen Konstrukt. Besonders deutlich ist dies bei der Grenzen verletzenden, anmaßenden Gewalt der Hybris zu sehen, die dem Gerichtsgegner zugeschoben wurde und neben ihrer transgressiven Natur auch eine performative Qualität aufwies. Sie umfasste verbale Beleidigungen, tätliche Angriffe, Vergewaltigung, Ehebruch und auch Verführung. Mittels der semantischen Breite dieses umfassenden Begriffs konnte man den Gegner sogar auf einer politischen Dimension angreifen. Der Hybristes war immer auch ein Barbar und Tyrann und damit ein Anti-Demokrat, von dem man sich diametral absetzen konnte. „Die eigene Gewalt hingegen war akzeptabel, anti-hybristisch, demokratisch und daher anti-tyrannisch und anti-barbarisch, also zivilisatorisch im Sinne des Schutzes und der Aufrechterhaltung der Demokratie.” Riess geht davon aus, dass der performativ inszenierte Gewaltdiskurs in den Gerichten auch jenseits der gefällten Urteile eine Wirkung auf den athenischen Alltag ausübte und dort somit für jeden klar war, welche Formen der Gewalt akzeptabel waren und welche nicht.
Magie und Flüche zum Prozessauftakt
Um ihren Gegnern zu schaden, griffen Athener aller Schichten im 5. und 4. Jahrhundert auch auf den Einsatz von Schwarzer Magie zurück, indem sie Flüche auf kleine Bleitafeln schrieben und diese auf rituelle Art und Weise in Gräbern und Quellen deponierten. Ungefähr 270 solcher Täfelchen aus dem 4. Jahrhundert sind überliefert. Die meisten sind Prozessflüche. Sie kamen gegen Gerichtsgegner zum Einsatz, bevor ein Prozess stattfand. „Aus dieser Perspektive scheint es, als ob jemanden vor Gericht zu bringen und ihn zu verfluchen, zwei komplementäre soziale Praktiken waren.” Werner Riess stellte in diesem Zusammenhang die These auf, dass die realen und imaginären Handlungsträger der magischen Rituale kulturelle Praktiken des athenischen Gerichtswesens widerspiegeln und sogar in Analogie zu diesem angesehen werden können. Er wandte sich außerdem gegen die herrschende Forschungsmeinung, nach welcher der Grad der Gewalt, der auf den Täfelchen zum Ausdruck kommt, nur gering war. „Meine Lesart hinterfragt diese Meinung und zeigt auf, dass das im Bindezauber ausgedrückte Gewaltpotential höher war als die Forschung bislang angenommen hat.” Bezeichnend sei wieder die Offenheit des zugrundeliegenden Gewaltbegriffs, so Riess. Das Fluchwort „katad(e)o” (ich binde hinab) reicht vom Wunsch, den benachbarten Handwerker zu schädigen bis hin zur Tötungsabsicht. Im Ritual der Niederlegung der Tafel wird den angerufenen Gottheiten die endgültige Entscheidung über die Art der Schädigung des Opfers überlassen.
Theatralisch inszenierter Diskurs
Desweiteren analysierte Riess Aristophanes’ Komödien unter den Gesichtspunkten Hybris, Slapstick und gewaltsame Umzüge im privaten Festkontext („kômoi”) in ihrem Gewaltpotential. Auch die Aufführung eines Theaterstücks im Kontext der religiösen Feste der Lenäen und der Großen Dionysien war rituell, d.h. räumlich und situativ gerahmt, so dass die Theateraufführung als Ganzes als Ritual betrachtet werden kann. Riess zeigte auf, dass Hybris bei Aristophanes die gleiche Bedeutungsoffenheit wie bei den Rednern zeige. Die indirekte Problematisierung der Gewalt auf der Bühne als tyrannisch, barbarisch und hybristisch sei am Ende so wirkungsvoll in der Alten Komödie wie die Stigmatisierung des Gegners entlang ähnlicher Linien in den Gerichtsreden. Obgleich der Slapstick immer komisch bleibe, verstand es Aristophanes, so Riess, ihn mit einem gewissen Problembewusstsein aufzuladen. Einmal mehr offenbart sich die diskursive und semantische Offenheit der aristophanischen Komödie, so dass man in Analogie zur offenen Textur des athenischen Rechtes durchaus von der offenen Textur der Alten Komödie sprechen könne. Die meisten aristophanischen Stücke enden mit einem sogenannten „Kômos”, dem schwärmenden Umherziehen Trunkener, das den Beginn eines Festes oder einer Hochzeit symbolisiert. Der Referent wies darauf hin, dass einige Komödien, allen voran die „Wespen”, exzessives komastisches Verhalten zeigten und damit ebenso die Gefahren offenbarten, die auch mit der komischen Freiheit verbunden seien. „So problematisch und unangenehm der komische Held ist, so problematisch und unangenehm ist auch sein gewalttätiges Verhalten”, so Riess, das den demokratischen Anti-Rache-Diskurs, der in den Gerichten gesprochen wurde, nur umso deutlicher hervorhob.
Fazit: Öffentlicher Diskurs über Gewalt war Angelegenheit der Oberschichten
Das Aushandeln des Gewaltbegriffes und die Beantwortung der Frage nach legitimer Gewaltanwendung wurden in Athen in rituell abgegrenzten Räumen unter Anwesenheit eines realen oder imaginären entscheidungsfindenden Publikums durchgeführt. Die Vergleichbarkeit von Gerichtsreden, Fluchtafeln und Komödien besteht in der performativen Qualität ihres ursprünglichen Aufführungskontextes und damit im jeweils theatralisch inszenierten Diskurs über Gewalt. Der öffentliche Diskurs über Gewalt war vor allem eine Angelegenheit der Oberschichten. Als Richter oder Zuschauer im Theater waren aber auch die Unterschichten an der Bildung eines gesellschaftspolitischen Basiskonsenses in Blick auf die Gewalt beteiligt, der wiederum die konkrete Einhegung von Gewalt begünstigte.
Argumentationsmuster für Kriege
Über „The Shifting Boundaries of Violence: Five Cultural Models for Going to War (and Not Going to War) in Greek and Roman Antiquity” sprach abschließend Prof. Dr. Jon E. Lendon (Charlottesville / Heidelberg). In bestimmten Generationen hat es nach seiner Darstellung immer wieder unterschiedliche Argumentationsmuster für den Beginn eines Krieges oder dessen Abwendung gegeben. Wenn man vom „Wahrheitsgehalt” einer von einem antiken Historiker oder Redner getroffenen Behauptung absieht, ist es möglich, eine Fülle von Aussagen darüber zusammenzustellen, warum ein Krieg geführt oder nicht geführt werden sollte, und damit eine Geschichte des diachronen Wandels hinsichtlich der dominanten Motive zu schreiben, aus denen heraus Griechen und Römer in den Krieg zogen – Motive, die jede Generation als eindeutig legitim betrachtete. Es versteht sich dabei von selbst, dass in jeder Epoche die diesbezüglichen Entscheidungen von multiplen und sich auch überschneidenden Faktoren determiniert wurden.
Rache als wichtigstes Motiv für Kriegsbeginn
Mit zahlreichen Beispielen stellte Lendon seine These vor, dass für die klassischen Griechen das höchste Motiv für einen Krieg die Rache war und dass die dazugehörigen Argumentationsmuster „eine aus den homerischen Pfaden der Überlieferung gewachsene Tradition” sei. „Die Ilias präsentierte den Trojanischen Krieg als eine Auseinandersetzung der Vergeltung, und wie wir von Herodot wissen, akzeptierten die späteren Griechen diese Diagnose”, sagte Lendon. Weil der Trojanische Krieg als mythischer Beispielskrieg den Griechen immer als Orientierung diente, sei es nicht verwunderlich, dass die Rache infolgedessen das wichtigste Motiv war, um einen Krieg zu beginnen.
Tapferkeit als römische Traditionslinie
Die Römer der republikanischen Zeit hatten dagegen nach Lendons Darstellung in diesem Zusammenhang zwei implizit voneinander abweichende Sichtweisen. „Die erste können wir bei Caesar ausmachen, der meinte, ein Krieg müsse von Männern mit Tapferkeit geschlagen werden, um die Tapferkeit von anderen zu übertreffen.” Cicero und Livius meinten dagegen, eine kriegerische Auseinandersetzung sollte von der Verteidigung der eigenen Person, der Verbündeten und der Ehre an sich geleitet sein. Beide Begründungsmuster hätten den griechischen Vergeltungsgedanken abgeworfen. Selbstverständlich spiele die Verteidigung der Ehre aber auch bei vielen attischen Rednern schon eine enorme Rolle. Lendon stellte die Hypothese auf, dass die nach Tapferkeit suchende Mentalität der Republik eine alte römische Tradition gewesen sein könne und die defensive Herangehensweise an einen Krieg – nicht zuletzt in den Augen vieler Römer – ein Resultat des griechischen Einflusses gewesen sein mag.
Auch wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analysen im römischen Kriegsdenken
Zu Beginn des römischen Imperiums sei noch ein neues Leitmotiv zur den nach Tapferkeit suchenden und defensiven Argumentationsmustern hinzugekommen: Besonders bei griechischen Autoren der Kaiserzeit gebe es eine Gegnerschaft zu weiteren römische Expansionen, da diese in einer finanziellen Kosten-Nutzen-Analyse kritisch dargestellt wurden. So werde kommuniziert, Britannien würde mehr kosten, wenn man es halte, als es an Einnahmen überhaupt einbringen könne. „Die Herkunft dieses Gedankengangs, so angewandt in der Außenpolitik, liegt im Dunkeln. Er spielt weder in der griechischen noch in der vorherigen römischen Tradition eine Rolle”, betonte Lendon. Diese Form der Außenpolitik habe eher mit dem Denken von Händlern und Schiffskapitänen zu tun, die eine der Quellen des griechischen Wissens über Geographie waren. Bei der Beherrschung von Ländern und kriegerischen Auseinandersetzungen spielten somit immer wieder unterschiedliche Rechtfertigungsstrategien eine Rolle, die sich die Akteure je nach Bedarf durch den Rückgriff auf variable Kriegsdiskurse zusammenstellen konnten.
Vergleich zwischen Städten und Regionen
Abschließend fügte Lendon hinzu, dass im Laufe der Römischen Weltherrschaft eine spezifische Sichtweise auf die Landschaft, die in der rhetorischen Theorie gründete und über Generationen hinweg durch die rhetorische Ausbildung der griechisch-römischen Eliten tradiert wurde, einen zunehmenden Einfluss auf das römische Denken über Krieg und Außenpolitik ausübte. Die Schule der Rhetorik verlangte von ihren Schülern, Orte nach ihrer vergleichenden „Superlativität” in Rangstufen zu gliedern, d.h. zu vergleichen, was in einem Land oder in einer Stadt in Relation zu anderen Ländern oder Städten außergewöhnlich war. Geographen beschreiben Dinge dann ausführlich, wenn sie im Vergleich zu anderen gleichen Typs bemerkenswert scheinen, und Orte werden danach gemessen, wie viel Außergewöhnliches sie vorzuweisen haben. Vor allem Städte werden in Blick auf ihre Geschichte, ihre Bauten, ihre Feste, ihre öffentlichen Gebäude, ihre Bevölkerung, ihren Reichtum, ihre Örtlichkeiten, die Sitten ihrer Einwohner und die Gelehrsamkeit ihrer Intellektuellen in Konkurrenz zueinander gesetzt. Die Folgen dieses Denkens, das vor allen Dingen die nach Tapferkeit strebende Mentalität der Republik ablöste, bestand einerseits darin, die Römer weniger aggressiv zu machen (da sie bereits das meiste besaßen, das nach ihrem Verständnis einzigartig auf der Welt war), andererseits die noch verbliebene römische Aggressivität nach Osten abzulenken, der nach dem Verständnis der Redelehrer so viele Superlative mehr aufzuweisen hatte als die rhetorisch wenig prononcierten Einöden nördlich der Grenzen des Imperiums.
Historischer Wandel der Kriegsrechtfertigung
Die Gründe, in einen Krieg zu ziehen, haben also eine Geschichte. Sie waren im Verlauf der klassischen Antike historischem Wandel unterworfen, wobei kulturelle Erklärungs- und Rechtfertigungsmodelle einander ablösten. Die treibenden Faktoren dieser Geschichte sollten nicht im idiosynkratischen Erleben von Diplomatie und Krieg gesucht werden, sondern zunächst in den spezifischen Erziehungsmodellen und kulturellen Erwartungen der Entscheidungsträger, von den von Homer besessenen Griechen des 5. Jahrhunderts v. Chr. bis hin zu den rhetorisch geschulten Römern des 4. Jahrhunderts n. Chr.
Zusammenfassung
Als Ergebnis der Sektion sind zwei Befunde festzuhalten, zum einen die grundsätzliche Alterität des antiken von unserem heutigen Gewaltbegriff. Während Gewalt in modernen westlichen Gesellschaften grundsätzlich negativ konnotiert ist, scheint der Gewaltbegriff in der Antike sehr viel bedeutungsoffener gewesen, ja Gewalt oftmals sogar „neutral” gesehen worden zu sein. Zum anderen bedingte jedoch gerade dieses flexible Verständnis von Gewalt zahlreiche komplexe Aushandelungsmechanismen, die, oftmals ritualisiert durchgeführt, es den Zeitgenossen sehr wohl auch erlaubten, Gewalthandlungen richtig einzuschätzen und darauf angemessen zu reagieren. Während in modernen westlichen Demokratien Gewalt also a priori per Gesetz definiert ist, unterlag das Gewaltverständnis antiker Menschen einem ständigen Perspektivenwechsel, der sich, für uns noch heute greifbar, in diversen Ritualen und Medien niedergeschlagen hat, die es weiter zu erforschen und kulturwissenschaftlich fruchtbar zu machen gilt.
von Elena Allendörfer
„Der Verlust der Menschenrechte findet also nicht dann statt, wenn dieses oder jenes Recht, das gewöhnlich unter die Menschenrechte gezählt wird, verloren geht, sondern nur, wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, dass seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind.”
(Foto Wikipedia: Hannah Arendt auf einer Briefmarke der Dauermarkenserie “Frauen der deutschen Geschichte”, Deutsche Bundespost Berlin 1988)
Bereits zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges beschäftigte sich die Philosophin Hannah Arendt (1906-1975), Verfasserin der obigen Worte und moralische Bezugsperson im Kommentar von Prof. Dr. Dieter Gosewinkels innerhalb der Sektion „An den Grenzen des Nationalstaates” mit der historischen Auswirkung von Gewalt auf die rechtliche Verfasstheit von Personen.
Staatlichkeit, Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit
Trotz allem ist dieses Phänomen nicht ausschließlich Produkt des letzten Weltkrieges, sondern von gewaltsamen Auseinandersetzungen allgemein und bedarf daher der intensiven Auseinandersetzung in Rückbezug zur Entstehung von Staatlichkeit, Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit. Dass diese Begriffe definitorisch nahe beieinander liegen und zweifelsohne Überlappungen aufweisen, scheint auf den ersten Blick natürlich. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Entstehung weitaus komplizierter, differenzierter und in stetiger Interaktion zur sich verändernden Umwelt stand und bis heute steht.
Passend zum Thema:
Überwindung rechtsfreier Räume
Der Verlust der Staatsangehörigkeit, wie dies seit dem Ersten Weltkrieg und im wesentlichen während der nationalsozialistischen Diktatur in erheblichem Ausmaß geschehen ist, konfrontierte die internationale Staatengemeinschaft mit einem Problem, dem sie selbst lange Zeit versucht hatte entgegenzuwirken. Insbesondere in der Frage der Bürgerpflichten, wie der Wehrpflicht, stellte sich die Frage, welchem Staat ein Bürger nun zugehörig sein sollte (Andreas Fahrmeir). Zur Überwindung der offensichtlichen rechtsfreien Räume mussten daher neue Regelungen gefunden werden. Gleichzeitig zeigte sich in der Praxis, dass Ausbürgerung und Abschiebung darüber hinaus regelmäßig durchgeführt wurden.
Schicksal von Individuen
Für das Individuum war die radikale Form der Exklusion einerseits Strafe in öffentlicher wie in privater Hinsicht. Im ersten Falle erscheint der Entzug, dieses uns heute vollkommen selbstverständlichen Rechts, als die drastischste Form staatlichen Zugriffs über jegliche Persönlichkeitsrechte hinweg, im zweiten steht das Schicksal von Individuen und Familien, denen nicht nur umgangssprachlich „der Boden unter den Füßen weggezogen” wurde, im Vordergrund. Daneben spielte auch die Frage der willentlichen Ausbürgerung eine besondere Rolle (Kirsten Heinsohn), in denen Personengruppen bewusst ihre nationale Herkunft negieren, um eine neue Identität anzunehmen.
Abwendung von der eigenen Nation/Staatsangehörigkeit
Zu ihnen gehörte auch die Deutsch-Jüdin Eva Reichmann-Jungmann, welche als Konsequenz des Holocaust die „emanzipierte” Form der Staatsangehörigkeit in der Diaspora lebte. Ihre Lebensphilosophie war dabei so national entfremdet, dass sie als Exponentin eines Kosmopolitismus gewertet werden kann, der jegliche Form von staatsbürgerlicher Zuschreibung von sich warf. Dabei war ihre selbstgewählte Enklave London sowohl als Abwehrmechanismus zu ihrer deutschen Heimat als auch zu den in Palästina neusiedelnden Juden gedacht. Sie verwies darauf, dass ein In-der-Fremde-Sein auch als positive Erfahrung gesehen werden kann und keineswegs in die Zersetzung der jüdischen Kultur führen müsse. Damit wies sie jeglichen religiösen Rigorismus, den die zionistische Bewegung postulierte, von sich. Ihrer Meinung nach müsse die jüdische Gemeinde mit ihrem besonderen Erbe verantwortungsvoll umgehen, wobei die Erfahrung der Diaspora gleichsam als Aufgabe zu verstehen sei, die nicht in absolute Ideen abgleiten dürfte.
Neue Staatsbürgerschaftskonzepte
In diesem Spannungsfeld zwischen „Weltbürgertum und Heimatlosigkeit” bewegte sich auch der Vortrag von Dr. Miriam Rürup, welche die Veränderlichkeit nationaler Grenzen durch die Kriege des 20. Jahrhunderts nicht nur als Einschränkung von Freiheit, sondern als Chance neuer Staatsbürgerkonzepte thematisierte. Gleichzeitig beleuchtete sie auch die Kluft zwischen Handlungsbedarf und -willigkeit von Staaten, sich mit der Problematik zu befassen, was anhand der teils schwerfälligen Verabschiedung verbindlicher völkerrechtlicher Sätze im nationalstaatlichen Rahmen zu neuerlichen Komplikationen führte.
Konzept einer Welt-Nationen-Einheit
Der kosmopolitische Gedanke einer neuen Weltordnung, in der nationale Barrieren zusehend obsolet werden, war schließlich Thema des letzten Vortrags von Julia Kleinschmidt. Das „World Movement for World Federal Gouvernement” (WMWFG) gründete sich im Zuge neuer atomarer Technologien, deren Zerstörungskraft zum Gründungszeitpunkt 1947 nur allzu präsent waren. Dem gegenüber stellten die Aktivisten des WMWFG ihr radikal pazifistisches Konzept einer Welt-Nationen-Einheit, das sich verbindlich auf die Leitlinien von Menschen- und Freiheitsrechten gründen sollte. Als Motivation dahinter dürfte die Vermeidung einer neuerlichen Hegemonialstellung eines Staates gelten, dessen Machtstreben von vorneherein begrenzt werden sollte. Gleichsam impliziert dies auch die Abschaffung staatlicher Souveränität und damit eine Relativierung der Staatsbürgerschaft. Der Gedanke einer Weltgemeinschaft, in der Grenzen keine Rolle mehr spielen sollten, galt es zu verwirklichen.
Roma-Abschiebung als aktuelles Beispiel
In Anbetracht der aktuellen Lage der Thematik in Bezug auf die nicht mit EU-Recht konforme Abschiebung der Roma aus Frankreich trugen die Beiträge nicht nur historisch zu einer neuerlichen Befassung mit der Frage nach Staatsangehörigkeit, -zugehörigkeit und -bürgerschaft bei. Zudem zeigte die in der Diskussion aufgeworfene Diskrepanz in der Verwendung und Bestimmung der Begrifflichkeiten, dass es sich keinesfalls um einen abgeschlossenen Forschungsgegenstand handelt, sondern – im Gegenteil – auch in der Zukunft im Zusammenhang mit der fortschreitenden globalen Vernetzung, der asymmetrischen Kriegsführung und der Vorenthaltung von Menschenrechten in totalitären Regimen weiterhin von besonderer Bedeutung sein wird. Insofern geht es, um mit Hannah Arendt zu schließen, um „etwas viel Grundlegenderes als die in der Staatsbürgerschaft gesicherte Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz (…), wenn die Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft, in die man hineingeboren ist, nicht mehr selbstverständlich und die Nichtzugehörigkeit zu ihr keine Sache der Wahl ist”, um einen politischen Aktionsrahmen, deren „Grenzen” noch nicht abgesteckt sind.
]]>Von Christine Buch
Die Bernauer Straße an der Grenze zwischen den Berliner Stadtbezirken Wedding und Mitte war ein Brennpunkt der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte. Der Bau der Mauer und seine Folgen für die Bewohner der geteilten Stadt wurden hier besonders dramatisch erlebt. Die Geschichte dieser Straße zeigt exemplarisch die Auswirkungen des Mauerbaus: die Zerstörung von Stadtraum und Lebenswegen, die Trennung von Familienangehörigen und Freunden. Und sie dokumentiert die Versuche, der Diktatur durch Flucht in den Westen zu entkommen.
Dr. Axel Klausmeier, Direktor der Stiftung Gedenkstätte Berliner Mauer, führte während des Historikertags durch den bereits fertiggestellten Bereich des Areals und erklärte das Konzept hinter der Ausstellung.
In den 1990er-Jahren wurde ein Konzept entwickelt, das den Ausbau der Gedenkstätte und ihre Umgestaltung zu einer neuartigen Erinnerungslandschaft vorsieht. Dr. Axel Klausmeier erläutert den Entwurf für die Bebauung des Areals, die 2012 abgeschlossen sein soll.
Die Ausstellungsmacher streben keine chronologische Aufzählung der Ereignisse an, sondern erläutern durch sogenannte Ereignismarken (im Foto am Boden zu sehen) die betreffenden Geschehnisse direkt am Ort. 140 solcher Marken wird es geben, wenn das Gelände fertiggestellt ist.
Teil der Ausstellungsstrategie ist es, die verlorengegangenen Relikte durch moderne Nachzeichnungen aus Cortenstahl wieder sichtbar zu machen. Ziel soll sein, dem Besucher eine Gesamtsituation zu präsentieren, bei der auf den ersten Blick zwischen Original und Rekonstruktion unterschieden werden kann. Im Foto ist eine solche Cortenstahl-Rekonstruktion zu sehen, die sich im hinteren Teil mit der „echten” Mauer verbindet.
Rund 230 Berliner Straßen waren zwischen 1961 und 1989 durch die Mauer geteilt. Die Bergstraße verläuft mitten durch das Gelände der Gedenkstätte. Sie ist der einzige noch immer geteilte Weg.
Sogenannte „Archäologische Fenster” machen auch ältere Schichten der Grenzanlagen sichtbar, die heute unter dem Erdreich verborgen sind.
Verschiedene Themenstationen zu Mauer und Grenzstreifen verdeutlichen den sich im stetigen Wandel befindlichen Ausbauprozess der Grenzanlagen anhand von Videos, Hörspielen, Fotos und Textdokumenten. Daneben werden Reaktionen von Zeitzeugen auf beiden Seiten der Mauer präsentiert und der Verlauf einiger Fluchtversuche erklärt.
Dr. Axel Klausmeier erklärt das „Fenster des Gedenkens”. Eine Sprachstation liest die Namen jedes der 136 Opfer, die zwischen 1961 und 1989 an der Mauer in Berlin starben, vor.
Das Fenster selbst gibt den Opfern ihre Individualität wieder, die ihnen im Tod vom Grenzregime genommen wurde: hier werden ihre Bilder gezeigt und ihre Namen genannt.
Christine Buch studiert Europäische Kunstgeschichte, sowie Mittlere und Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Medizingeschichte an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: CJ)
]]>Von Christine Buch
Ihr und ihren – räumlichen wie geistigen – Dimensionen widmete sich eine ganze Sektion des Historikertages, die passenderweise im Tagungsraum der Gedenkstätte Berliner Mauer abgehalten wurde. Die Erinnerungsstätte, die zurzeit eine erhebliche Erweiterung erfährt, verzeichnet kontinuierlich steigende Besucherzahlen. „2001 zählten wir 67.000 Besucher, im Mauerjahr 2009 waren es 371.000!”, freute sich Dr. Axel Klausmeier, Direktor der Stiftung Gedenkstätte Berliner Mauer.
Nachdem der Soziologe und Zeithistoriker Dr. Manfred Wilke chronologisch die konkreten Ereignisse, die zum Mauerbau führten und deren Bauphasen betrafen, wiedergegeben hatte, widmete sich Prof. Dr. Thomas Lindenberger (Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit Wien) in seinem Vortrag „Die Wechselwirkung von Grenzregime und Gesellschaftskonstruktion im SED-Staat” den politisch-ideologischen Hintergründen.
Scheitern oder Etappensieg?
„Die Berliner Mauer war die verräumlichte Grenze des Bolschewismus”, so Lindenberger. Doch die Bewertung des Baus auf geistiger Ebene sei durchaus ambivalent zu betrachten. Auf westlicher Seite sei der Mauerbau als letzte Lösung zum Machterhalt – und somit als Eingeständnis des Scheiterns der DDR aufgefasst worden. Dies stünde im krassen Missverhältnis zur Bewertung aus Sicht des sozialistischen Nachbarstaates, der die Errichtung der Mauer als Etappensieg feierte. Allein dieses Beispiel lasse bereits auf die Komplexität des Themas schließen.
Unsichtbare Grenzen in der DDR-Diktatur
So gehörte die „unsichtbare Grenze” zum DDR-Alltagswissen der Bürger und beeinträchtigte diese in gewissem Maße mehr, als die Mauer selbst es tat. Natürlich konnte man Vögel im Wald beobachten. Aber die Verseuchung des observierten Lebensraumes durch die ansässige Industrie melden? Jedem Bürger der DDR-Diktatur sei klar gewesen, dass man so etwas nicht tat. Kritik am Regime zu üben kam einem Überschreiten jener unsichtbaren Grenze gleich.
Neue Forschungen decken laut Lindenberger nun immer mehr auf, dass das System gerade auf unterster Ebene immense Unterstützung erhielt: dies zeige sich besonders deutlich in den zahlreichen ehrenamtlichen Tätigkeiten, die fast jeder DDR-Bürger übernahm. Zwar müsse man diese Feststellung differenziert betrachten: die ehrenamtlichen Tätigkeiten ließen nicht zwangsläufig auf ein bedingungsloses Einverständnis der betreffenden Person mit dem politischen System schließen. „Viele wollten in den gegebenen Strukturen einfach das Beste für sich herausholen”, so Lindenberger. Dennoch stützte sich der SED-Staat, der eine „Diktatur der Grenzen” gewesen sei, insbesondere auf jene Art der Beihilfe aus der Bevölkerung.
Leben im Sozialismus
Der Rolle der Bürger im Wirken des sozialistischen Staates widmete sich auch Dr. Gerhard Sälter von der Gedenkstätte Berliner Mauer in seinem Vortrag über die „Fluchtverhinderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe”.
„Fluchtbekämpfung war im SED-Staat immer Thema. Jedoch wurde die Verhinderung von Flucht paradoxerweise nach dem Mauerbau zunehmend wichtiger”, so der Historiker. Um keine unnötigen negativen Schlagzeilen zu provozieren habe das Interesse der DDR-Regierung seit dem Bau der Berliner Mauer nicht mehr dem Abbrechen der Fluchtversuche gegolten, sondern deren Ersticken im Keim. „Die Wandlung im Sicherheitsgesetz vollzog sich unter der daraus resultierenden simplen Überlegung: Alle müssen bewacht werden”, sagte Sälter. Eine Einbeziehung der Verwaltung und sogar der Bevölkerung erschien unerlässlich. Ziel sei es gewesen, die Flüchtlinge bereits lange vor der Grenze abzufangen, die Maßnahmen zur Verhinderung der Fluchtbewegungen hätten dadurch eine Ausdehnung auf die gesamte DDR erfahren. Um Unterstützung aus der Bevölkerung zu beanspruchen sei ein regelrechtes Feindbild aufgebaut worden: „Der Republikflüchtling ist asozial, ein Verräter und Verbrecher”, sei den DDR-Bürgern permanent eingebläut worden.
Eine besonders absurde Entwicklung in der Sicherheitspolitik der DDR stellten die Grenzhelferdörfer an der innerdeutschen Grenze dar: „Die Bewohner der Dörfer gestalteten ganze Landschaften um. Sie banden ihre Leitern an, damit diese niemandem als Fluchtwerkzeug dienen konnten. In keinem der Grenzhelferdörfer waren die Hecken oder Blumenbeete höher als vielleicht 30 cm”, betonte Sälter. Die Bemühungen des DDR-Regimes, immer mehr Menschen in die Fluchtverhinderung mit einzubeziehen, zeigten laut dem Historiker ihre Wirkung: „Rund 80 Prozent der ‚Republikflüchtigen’ konnten bereits vor Erreichen der eigentlichen Grenze verhaftet werden.”
Mauer als Fiktion
Prof. Dr. Leo Schmidt (Universität Cottbus) unterstrich in seinem Beitrag „Die Berliner Mauer als globale Ikone: vom Bauwerk zum lieu de mémoire” abschließend ebenfalls die Vielschichtigkeit der sowohl aus Stein gebauten als auch imaginären, aus Fiktion entstandenen Mauer. Für die DDR-Bürger habe das Brandenburger Tor die Visualisierung der Mauer dargestellt. Es sei als ein bewusster Ersatz gewählt und propagiert worden. Den real existierenden Wall abzufotografieren und zu zeigen war verboten. „Daher haben wir auch heute nur Computerrekonstruktionen davon, wie die Maueranlage von Osten eigentlich aussah”, so Schmidt. Im Westen hingegen habe man die Mauer als Spiegel der eigenen Gesellschaft benutzt und bemalte sie – meist bunt und grell. Nur selten sah man hier Kritik an der DDR visualisiert.
Das „Bauwerk Mauer” lasse sich laut Schmidt in vier Entwicklungsphasen unterteilen. 1961 sei die „erste” Mauer, nur 8 bis 10 Kilometer lang, zunächst für die Medien erbaut worden. „Und das sehr schnell und schlampig”, so der Kunsthistoriker. „Sie stellte eine temporäre Drohgebärde dar.”
Eine funktionale Plattenwand wurde dann in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre errichtet. „1970/71 dann, als die DDR um internationale Anerkennung rang, wurde die Mauer regelrecht peinlich. Man wollte keine hässliche Grenze mehr und versuchte diese zu verharmlosen”, sagte Schmidt. „Die glatte und bunt bemalte Mauer, so wie wir sie in Erinnerung haben, stammt erst aus dem Jahr 1975.”
Christine Buch studiert Europäische Kunstgeschichte, sowie Mittlere und Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Medizingeschichte an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: CJ)
]]>Von Christina Thenuwara
Wie und ob diese Gratwanderung insbesondere in Bezug auf den deutschen Raum gelungen ist, wurde in der Sektion „Nationalismus, Internationalismus und Transnationalismus im deutschsprachigen Zionismus” auf dem Historikertag analysiert.
Deutscher Nationalismus und Zionismus
Wie Grenzüberwindung in diesem Zusammenhang funktionierte, demonstrierte Dr. Stefan Vogt in seinem Vortrag „Zionismus und Weltpolitik”. Er zeigte auf, in welchem komplexen Verhältnis der Zionismus und der deutsche Nationalismus um 1900 standen, welch eine immense gegenseitige Prägung sie hingegen aber auch erfahren haben. Das Verhältnis dieser beiden Bewegungen wurde nicht nur von Differenzen bestimmt, im Gegenteil, es war gekennzeichnet durch eine rege Interaktion des deutschsprachigen Zionismus mit der nationalistischen Bewegung in Deutschland. Ebenso wie Zionisten deutsche Kolonisationspraktiken übernahmen, so bediente sich das Deutsche Reich mit seinen imperialistischen und kolonialistischen Tendenzen zentraler Konzepte des zionistischen Projekts, wie zum Beispiel „Sozialreform” und „Entwicklung”.
Jüdische Bürger stellten sich in den Dienst der Nation
Über das problematische Verhältnis des deutschen Judentums zum Ersten Weltkrieg referierte Ulrich Sieg von der Universität Marburg. Zu Beginn des Krieges habe eine starke Identifikation der jüdischen Bevölkerung mit dem Vaterland vorgeherrscht. Die deutschen Juden waren von der Unschuld der politischen Führung überzeugt, die jüdischen Intellektuellen stellten sich in den Dienst der deutschen Nation. Dieses Bekenntnis zu Deutschland wurde durch den Druck der öffentlichen Meinung, insbesondere im Zusammenhang mit der Judenzählung 1916, jedoch auf die Probe gestellt. Die Angst, der Nationalismus könne sich gegen die Juden richten, schaffte eine jüdische Binnensolidarität, die den Streit um die Meinungsführerschaft zwischen den Zionisten und dem liberalen Judentum bändigte, allerdings nicht zum Erliegen brachte.
Zionisten und ihre Bewegung
Der zweite Teil der Sektion beschäftigte sich mit Porträts von Zionisten sowie deren Auseinandersetzung mit der zionistischen Bewegung. Lutz Fiedler referierte über den jüdischen Historiker Hans Kohn, seine Nationalismusforschung und sein zionistisches Selbstverständnis. Fiedler untersuchte letzteres von dem Hintergrund von Kohns Herkunft aus Prag, die seinem Denken einen transnationalen und universalistischen Zug gab. Kohn plädierte für die Ablösung des Nationalismusbegriffs von territorialen Vorstellungen und neutralisierte damit den erdverwurzelten Nationalismus. Für ihn stellte der binationale Staat, in dem der Staat an sich vom Begriff der Nation getrennt war, eine Zukunftsvision dar. Das britische Kolonialreich verstand er als interessantes Experiment in diese Richtung, ebenso beeindruckte ihn die Lösung des Nationalitätenproblems in der Sowjetunion. In den USA sah der Historiker schließlich das Land der Zukunft verwirklicht. Der US-amerikanische Nationalismus basierte nicht auf der US-amerikanischen Geschichte. Die Vereinigten Staaten stellten die Heimat von Bürgern verschiedener Herkunft dar. Diese Bürger würden sich laut Kohn nicht durch Assimilation oder die Dominanz der amerikanischen Kultur und Sprache auszeichnen, sondern durch die Bereitschaft, sich selbst zu entwurzeln.
Akkulturation und Assimilation
Auch der nachfolgende Vortrag Michael Enderleins behandelte die Person Hans Kohns und zeigte auf, wie dessen universalistisches Konzept, die junge Generation der jüdischen Intelligenz geprägt hat. Letztere verstand sich im Gegensatz zu der Elterngeneration als antimodern und antikapitalistisch, war neoromantisch und rückwärtsgewandt. Die jungen Intellektuellen äußerten Kultur- und Fortschrittskritik und beklagten darüber hinaus die Selbsttäuschung und Lebenstugend ihrer Eltern. Deren Bemühung um Akkulturation sei sinnlos und die Assimilation nicht möglich.
Man begab sich auf die Suche nach einer kollektiven Identität und Einigkeit, um das Leben in der Diaspora zu überwinden. Man legte diesem Streben Kohns universalistisches Konzept zugrunde und pochte auf eine diesseitige Erlösung, auf eine innerweltliche politische Handlung. Das Judentum habe eine leidvolle Geschichte und Gegenwart erfahren, es lebte in der Diaspora wie eine zerrissene und verloren Herde. Eine Erlösung sah man im messianischen Reich, das gegenwärtige Hoffnungen auch gegenwärtig wahr werden lassen sollte.
Der Zionismus und die Bedrohung des Nationalsozialismus
Die Sektion schloss mit einem Vortrag von Prof. Dr. Christian Wiese über Robert Weltschs Deutung des Zionismus angesichts der Bedrohung der Juden durch das national-sozialistische Deutschland. Anfang der 1930er-Jahre glaubte der Journalist noch an die Möglichkeit eines Dialogs mit den Nazis. Er versuchte den Juden, die ab 1933 zunehmend Verfolgung und Terror ausgesetzt waren, Mut zuzusprechen. Er forderte sie auf, den Judenstern nicht als Stigmatisierung, sondern als Ehrenabzeichen zu verstehen. Dass die Assimilation in den 1920er-Jahren gescheitert war, erklärte er mit der gerechtfertigten Wahrnehmung der Juden als Fremdkörper – es gebe eine jüdische Sonderart, zu der die Juden würdevoll stehen müssten. Für diese Stellungnahmen wurde Welsch nicht zuletzt massiver Kritik von Hanna Ahrendt ausgesetzt. Sie warf ihm ein Einverständnis mit der deutschen Politik und eine Mitverantwortung vor. Er distanzierte sich später von solchen Äußerungen.
Weltsch wurde sich bewusst darüber, dass der Nationalismus als schöpferisch geistige, aber auch als zerstörerische Macht fungieren konnte. Daher warnte er vor einer zu schnellen Massenimmigration der Juden nach Palästina. Er gehörte innerhalb der zionistischen Bewegung der Strömung an, die eine friedliche Koexistenz von Juden und Arabern in Palästina forderten. Der Journalist sprach sich dafür aus, dass die Juden Palästina als moralisch legitimierte Gemeinschaft betreten und die Rechte der Araber wahren sollten. Den Nationalismus der Nationalsozialisten, der nicht nur einen ethnisch-partikularistischen, sondern auch einen zerstörerischen Charakter hatte, sah er als Negativbeispiel. Seine zentrale Schlagwörter waren ebenso wie die Kohns Transnationalismus und Universalismus – kurz: Grenzüberwindung.
Zusammenfassung
Auch wenn der Zionismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als der bessere Nationalismus gegenüber der Nationalstaatsideen der mittel- und osteuropäischen Moderne erschienen sein mag, so scheiterten die universellen Versöhnungsutopien doch an der Realität dieser Zeit. Das Dilemma lag in der Verschärfung der deutschen Bedrohung und dem Bewusstsein, dass Palästina keine Masseneinwanderung vertragen konnte. Welsch fürchtete – wie der Lauf der Geschichte lehrte – nicht unberechtigter Weise bei der Ausrufung eines jüdischen Staates einen Krieg, den entweder die Juden verlieren würden oder die mit der völligen Vertreibung der Palästinenser enden könnte.
(Redaktion: CJ)
]]>Von Christine Buch
„Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.”
Georg Simmel, Soziologie des Raumes
Grenze als Erfahrung und Konstruktion
Bereits im Juni 2010 widmete sich eine Tagung in Hannover dem Thema „Grenze: Konstruktion, Realität, Narrative.” Auch die schweizerischen Geschichtstage fanden 2010 unter dem Motto „Grenzen” statt. In den letzten Jahren seien überhaupt viele Sammelbände erschienen, so Prof. Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann vom Historischen Seminar der Universität Hannover, der in seinem Vortrag „Teilung – Gewalt – Durchlässigkeit. Die innerdeutsche Grenze 1945-1989 als Thema und Problem der Zeitgeschichte” einen detaillierten Forschungsüberblick gab. „Die Forschung schreitet fort”, brachte es Schmiechen-Ackermann auf den Punkt. Die Grenze als Erfahrung und Konstruktion rücke dabei in den Untersuchungsschwerpunkt, die räumlichen Aspekte seien hingegen bereits hinreichend bearbeitet.
Normales Forschungsthema
Während in den 1990er-Jahren ein regelrechter Boom der DDR-Forschung zu beobachten war, habe sich das Thema mittlerweile „relativiert” – heute handele es sich um einen Forschungsdiskurs unter vielen anderen. 1993, nur vier Jahre nach dem Zerfall des Ostblocks und der Öffnung der bis dahin unzugänglichen Archive habe es fast 800 Projekte zum Thema DDR-Forschung gegeben. Im Jahr 2000 seien bereits weit über 2000 Publikationen zum Forschungsgegenstand veröffentlicht worden. „Im kollektiven Gedächtnis sind Innerdeutsche Grenze und DDR ausgesprochen präsent”, so der Historiker. Jedoch fehle bis heute eine Gesamtübersicht der bislang eher partiell betriebenen Untersuchungen.
Geschichte durch Klöppeln
Unter dem Titel „Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn – Ort der Erinnerung und der Begegnung” berichtete Rainer Potratz anschließend von einem recht außergewöhnlichen Projekt zur Aufarbeitung der deutsch-deutschen Teilung. „Was klöppelst denn du?” heißt das einwöchige Klöppelseminar mit Wettbewerb und Preisverleihung für ältere Damen, das bereits zum zehnten Mal erfolgreich stattfand. „Es geht uns nicht um Versöhnungsgespräche zwischen Tätern und Opfern, sondern um Zusammenführung und Austausch der unterschiedlichen Lebenserfahrungen”, so Potratz. Auch die persönlichen Lebensleistungen der DDR-Bürger sollten seiner Meinung nach gewürdigt werden. „Ich habe mit vielen Ostdeutschen gesprochen, die es sehr persönlich nehmen, dass an ihr Leben nur als ‚falsches Leben’ erinnert wird. Ihnen wird dadurch ein Teil ihrer Identität genommen!”
Das größte noch erhaltene Denkmal an der innerdeutschen Grenze, die Gedenkstätte Marienborn, solle mahnen und erinnern, so Potratz. Sie stehe exemplarisch für die gesamte deutsch-deutsche Teilung, alle übrigen Grenzübergänge waren bereits abgerissen oder aber zählten nicht zu den wichtigeren Kontrollpunkten, als man Marienborn rettete und zu einer Gedenkstätte umwandelte. Man will hier in erster Linie Fremdbilder abbauen. Und so können bei einem Besuch der Gedenkstätte Marienborn nicht nur ältere Damen gemeinsam klöppeln, sondern ebenso Jugendliche in intensive Gespräche mit Zeitzeugen über die Vergangenheit treten.
Flohmarktfund wird zum Museumsstück
Eine überaus interessante Quelle präsentierte Dr. Thomas Schwark, Direktor des Historischen Museums Hannover, der unter dem Titel „Man sieht nur, was man weiß… Strategien der Vermittlung von ‚Grenzbildern’ in Geschichtsmuseen” über Fotografien in Ausstellungen sprach. Als Anschauungsobjekt diente ihm ein gestaltetes Fotoalbum, ein Flohmarktfund, der sich als regelrechter Schatz entpuppte. Die enthaltenen Fotos sind mit Kommentaren versehen und dokumentieren die Einrichtung der Grenzübergangsstelle Salzwedel sowie deren Inspektion. „Durch die Auswahl der gezeigten Fotografien, deren Anordnung und die Beschriftung derselben wird die Erinnerung an das Ereignis strukturiert und gesteuert. Das Fotoalbum ist konstruiert und wird zu einem eigenen Museumsstück”, so Schwark.
Der Quellenwert von Bildern im Kontext historischer Forschungen sei zwar schon länger bekannt, erfahre aber nun eine wesentliche Erweiterung. Die Schwierigkeit bestehe laut Schwark darin, dass Fotografien vermeintlich objektiv seien, in Wirklichkeit jedoch als Sachquelle viel differenzierter betrachtet werden müssten. „In einer Museumsaustellung sollte es auch Aufgabe sein, neben ästhetischen Aspekten und einer differenzierten Bildanalyse andere Punkte mit einzubeziehen. Beispielsweise Autorenabsichten, ob es sich um eine nachbearbeitete Fotografie und damit eine Fälschung handelt, oder ob das Foto zu Propagandazwecken aufgenommen wurde.” Nur so könne sich die Bedeutungsvielfalt für den Museumsbesucher erschließen.
Zum Thema „Die fotografierte Grenze – Fotografie über Grenzen?” referierte anschließend Ines Meyerhoff (Hannover). „Der ungebrochene Glaube an die Objektivität des Bildes war lange Zeit vorherrschend und wird erst seit kurzem systematisch in Frage gestellt”, so die Kulturwissenschaftlerin. „Das” Grenzbild an sich gebe es natürlich nicht und habe es auch nie gegeben. Immer müsse in die Deutung mit einfließen, wie der Betrachter emotional zum Gezeigten stünde. Im Fall der innerdeutschen Grenze und insbesondere der Berliner Mauer seien verschiedene Aspekte zu berücksichtigen. So zum Beispiel das von der DDR verhängte Fotografierverbot der Grenzanlagen.
Visualisierung der Andersartigkeit
In der Bundesrepublik hingegen zielten frühe veröffentlichte Bilder darauf ab, die Zusammengehörigkeit der beiden Staatsgebilde zu verdeutlichen. Dies habe aber paradoxerweise gerade zur Visualisierung der Andersartigkeit geführt, so Meyerhoff. In den 1970er-Jahren sei dann durch umfassende Aufklärungsarbeit eine Entspannungspolitik betrieben worden. Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen habe damals Broschüren herausgegeben und der „Grenzland-Tourismus” sei mit Führungen am Grenzbereich stark ausgebaut worden. Die gezielte Einsetzung verschiedener Bildmetaphoriken habe aber immer darauf abgezielt, eine bestimmte öffentliche Meinung zu generieren.
Macht der Bilder und Bilder als Waffe
Im weiteren Verlauf der Veranstaltung analysierte Dr. Hedwig Wagner, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte und Ästhetik der Medien an der Universität Jena, „Die Narrativisierung Berlins durch Berliner Mauerfilme” anhand zweier Beispiele: „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers” (Helke Sander, 1977) und „Der geteilte Himmel” (Konrad Wolf, 1964), bevor Dr. Jürgen Reiche (Ausstellungsdirektor Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn) einen abschließenden Kommentar zur „Wirklichkeit hinter den Bildern”, ihrer Macht und dem Umgang mit ihnen gab.
Die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums sicherte sich der Referent gleich zu Beginn seines Vortrages indem er ein Foto präsentierte, das gänzlich aus der Reihe der schier unzähligen Aufnahmen fällt, die der Öffentlichkeit seit den Terroranschlägen im Jahr 2001 von den Medien präsentiert werden. Thomas Hoepker schoss das Foto am Nachmittag des 11. September 2001 und war sich der brisanten Wirkung durchaus bewusst. Erst 2004 veröffentlichte er die Aufnahme – und löste einen Sturm der Empörung aus. Ein gelungenes Beispiel dafür, findet Reiche, dass Bilder unbewusst ständig subjektiv bewertet würden.
In seiner These geht der Historiker noch weiter: 9/11 sei dazu inszeniert worden Bilder zu produzieren. Die genau 17 Minuten, die zwischen den beiden Anschlägen auf die Zwillingstürme verstrichen, seien allein dazu eingeplant worden, um eine Medienpräsenz vor Ort zu gewährleisten, die dann live den zweiten Anschlag mitverfolgen konnte. Allein durch diese Tatsache haben die vielen Aufnahmen überhaupt erst entstehen können, so Reiche.
„Das Bild als Waffe in einer globalisierten Welt. Das ist es, was uns erwartet.” Bilder und Politik gehörten untrennbar zusammen, sie seien für die Politik gar wichtiger und aussagekräftiger als Worte. „Menschen sind ‚Bild-Sammler und -Jäger’ und nehmen diese ständig in sich auf. In unserer heutigen Zeit ist Bildkompetenz genauso wichtig wie Sprachkompetenz”, schloss Reiche.
Christine Buch studiert Europäische Kunstgeschichte, sowie Mittlere und Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Medizingeschichte an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: CJ)
]]>Von Christine Buch
„Du dreckiger Muslim!” gehört heute zu den meistgebrauchten Schimpfwörtern unter Jugendlichen. Welches Islambild vermitteln unsere Medien?
Laut einer Umfrage, die am Freitag (1. Oktober 2010) vom Deutschlandradio ausgestrahlt wurde, sind knapp 60% der im Westen lebenden Deutschen und 75% der im Osten der Bundesrepublik Lebenden der Meinung, die Einwanderung von Türken habe zu negativen Folgen geführt. Der geplante Bau eines islamischen Zentrums in unmittelbarer Nähe des Ground Zero sorgte kürzlich auch in den USA für heftige Auseinandersetzungen – in der Schweiz war im vergangenen Jahr eine Volksabstimmung gegen Minarette erfolgreich durchgeführt worden.
In der Öffentlichkeit wird also heftig diskutiert. Vor allem über eine vermeintliche Gefährlichkeit des Islam, die sich insbesondere in der außerordentlichen Gewaltbereitschaft, die diese Religion angeblich auszeichne, zeige.
Ausbildung von islamischen Religionslehrern an Universitäten
Die politisch Verantwortlichen bemühen sich ebenso um eine gelungene Integration der knapp 40.000 Islamisten und ihres Umfeldes in Deutschland (Quelle: Verfassungsschutzbericht, zitiert in: Der Spiegel, Nr. 35/2010, S.126,). Die Universität Heidelberg und die Universität Tübingen konkurrierten zudem in den vergangenen Monaten um ein Prestige-Projekt: den Aufbau eines Instituts zur Ausbildung von Imamen und islamischen Religionslehrern, um islamischen Religionsunterricht an Schulen erteilen zu können. Der Fachbereich zur Ausbildung der Imame geht nun nach Tübingen.
Die Universität Münster hat ebenfalls Interesse am Aufbau eines islamisch-theologischen Institutes bekundet. Die Hochschule bildet bereits seit 2004 als eine der wenigen Universitäten in Deutschland Lehrer für den bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht aus. Im Februar 2010 wurden an deutschen Schulen schon 700.000 muslimische Schüler unterrichtet, für die nach Schätzungen zwischen 2.000 und 5.000 Lehrer benötigt werden würden. (Quelle: dpa)
Was genau denken die Deutschen über den Islam? Und wie entstand dieses Islambild, das die öffentlich geführte Diskussion so sehr prägt?
Ist dies ein scheinbarer Widerspruch? Oder ein realer? Spaltet das Thema Islam die deutsche Bevölkerung? Was genau denken die Deutschen über den Islam? Und wie entstand dieses Islambild, das die öffentlich geführte Diskussion so sehr prägt?
Die Referenten der Sektion „Ansichts-Sachen. Fremd- und Selbstwahrnehmung des ‚Islam’ in Bildmedien” untersuchten auf dem 48. Historikertag eben jene eurozentrische Sicht auf diese so fremd erscheinende Religion anhand der Bebilderung in unterschiedlichsten Medien – vom Schulbuch über populär(wissenschaftlich)e Geschichtsmagazine bis hin zu den Massenmedien. Und stellten dabei wenig Erstaunliches fest. Denn in unserer medial geprägten Welt verwundert es kaum, dass öffentliche Meinung und in Medien verbreitete Inhalte übereinstimmen.
Dr. Michael Wobring (Universität Augsburg) stellte in seinem Vortrag „Unterschiedliche Sichtweisen – gemeinsame Bilder? ‚Islambilder’ in europäischen Schulgeschichtsbüchern” für die visuelle Aufarbeitung des Themas Islam bereits in Schulgeschichtsbüchern erhebliche Defizite fest. Und das nicht nur für die Bundesrepublik. Er zog in seinem Forschungsbericht einen Vergleich zwischen Deutschland, Frankreich und Spanien und stellte einen europäischen Trend in der Visualisierung des Islam fest. Und das in einem Medium, betonte er, welches vom Staat offiziell geprüft und gezielt zur Bildung junger Menschen eingesetzt wird – nicht selten seien unter ihnen auch Kinder islamischer Religionszugehörigkeit.
Welches Islambild wird in Geschichtsbüchern für den Schulunterricht vermittelt?
Der Geschichtsdidaktiker wies ebenso darauf hin, dass die von ihm untersuchten Länder historisch bedingt unterschiedlichste Verbindungen zur islamischen Welt hätten. Deutschland habe Kontakte in erster Linie durch Immigration erlebt. Frankreichs Blick auf die Religion sei vor allem durch seinen Kolonialismus geprägt. Und Spanien sehe seine eigenen Wurzeln im mittelalterlichen Islam, der erst durch die Reconquista sein Ende fand.
Kapitel in Schulbüchern, die Zeitgeschichte und Islam thematisieren, zeigen laut Wobring zunehmend Bilder, in denen Gewalt auftauche oder solche, die ursprünglich neutrale oder positive Inhalte zeigten, aber im Zusammenspiel mit Überschriften und anderen Bildelementen eine negative Konnotation erfahren würden. Die besondere Gefahr bestehe darin, dass sich die Wirkung von Bildern ungleich schwerer kontrollieren lasse als die von Texten. Auch die häufige Erwähnung von Konflikten und Krisenherden – zunehmend seit dem Jahr 2002 zu beobachten – sei problematisch. Zwar sollten tatsächliche Probleme nicht bagatellisiert oder verschwiegen werden, aber die Schulbuchredaktionen seien in der Pflicht, falsche negative Schlüsse durch Bildkommentare oder zusätzliche Inhalte aufzubrechen. Den Schülern solle eine wissenschaftliche Herangehensweise ermöglicht werden, indem zum Beispiel auf die Quelle eines Bildes hingewiesen und die damit verbundenen Probleme thematisiert werden. Die Mehrzahl der in Schulgeschichtsbüchern verwendeten Bilder seien nicht unproblematische Pressefotos.
Illustrationen in populären Geschichtsmagazinen
Dr. Jutta Schumann (Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte an der Universität Augsburg) übertrug die Bildanalyse in ihrem Vortrag „Zwischen spannender Unterhaltung und rationaler Auseinandersetzung? Populär(wissenschaftlich)e Geschichtsmagazine bebildern das Thema Islam” auf Zeitschriftsformaten wie GEO Epoche, Damals, P.M. History und G/Geschichte, die sich seit einiger Zeit wachsender Beliebtheit besonders beim nicht-akademischen Publikum erfreuen.
In ihren Untersuchungen spielen zum einen die Darstellung des Themas Islam – in direkter oder indirekter Form – auf Titelblättern eine Rolle, zum anderen die Illustration der Artikel im Heft selbst. Durch die Technik der Collage, die sich seit dem vergangenen Jahrzehnt immer mehr etabliert habe, käme es vor allem auf den Titelblättern häufig zu inhaltlichen Verbindungen, die problematisch seien, so Schumann.
Bildcollagen suggerieren häufig eine Bedrohlichkeit des Islam.
Bilder seien für Geschichtsmagazine ein wesentlicher Faktor des Verkaufserfolges und können in ihrem Einfluss auf Geschichtsbewusstsein und Erinnerungskultur der Gesellschaft kaum überschätzt werden. Die Bebilderung auf Titelblättern diene in erster Linie dazu, aus der Masse des Angebotes herauszustechen – oft seien die Collagen reißerisch gestaltet und würden auf diese Weise zu einer vom Betrachter empfundenen Bedrohlichkeit des Islam beitragen. Hierbei werden Schlachtenszenen aus dem 19. Jahrhundert mit aktuellen Bildern von islamistischen Kämpfern verknüpft. Als Bildcodes treten Turban, Krummschwert und Grün als Farbe des Islam immer wieder auf.
Im Heftinnern werden die Artikel zumeist von Hollywoodbildern in Hochglanz begleitet, die lediglich den eurozentrischen Blick auf den islamischen Kulturraum widerspiegeln. Daneben stehen Historienmalereien aus dem 19. Jahrhundert, die keinesfalls dem realen Bild entsprechen, sondern vielmehr mit Themen wie Exotik und der Anziehungskraft des Fremden, aber aber auch mit Rückständigkeit und der Unterdrückung der Frauen spielen. Auffällig sei hierbei, dass sich die Historienmalerei keinerlei sakraler Bildmotive bediene – das Herausstellen des religiösen Aspektes der islamischen Kultur sei ein ausgesprochen modernes Phänomen. Sachquellen im Bild entsprächen scheinbar nicht den Ansprüchen der Verlage oder wären schwieriger darzustellen, obwohl sie einen authentischeren Zugang ermöglichten, erklärte Schumann.
Einen weiteren Schwerpunkt der Untersuchung bildete die Auswahl der gezeigten Themen: Kreuzzüge, Türkenkriege und andere gewalttätige historische Begebenheiten tauchen häufiger auf als Randthemen, wie sie vor allem P.M. History bietet (z.B. Mythen). * Cover rechts: P.M. History 4/2008.
Insgesamt lasse sich feststellen, dass die Titelblätter der Geschichtsmagazine, über deren Zusammensetzung die Marketingabteilung entscheide, oft in Diskrepanz zum Inhalt der Artikel stünden. Bilder kommunizieren nun mal schneller und eindrücklicher – und überschatten nicht selten die oft sorgfältige Recherche der Autoren und die teilweise auch wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas im Artikel.
Zuletzt betonte Schumann, dass die populärwissenschaftliche Bearbeitung von Geschichte nicht nur einem breiten Publikum das Feld zugänglich mache, sondern ebenso dazu beitragen könne, in der etablierten Wissenschaft neue Wege zu beschreiten.
Visuelle Bedrohungsmetaphorik in deutschen Massenmedien
Dr. Sabine Schiffer (Institut für Medienverantwortung, Erlangen), promovierte mit dem Thema „Islamdarstellung in der deutschen Presse” und untersuchte in ihrem Vortrag „Unheimliche Gäste? Visuelle Bedrohungsmetaphorik in deutschen Massenmedien” die Ikonografie von Bedrohung im Kontext von Islambildern.
„Unter dem Titel „Unheimliche Gäste” visualisierte das Wochenmagazin Focus 2004 eine Moschee und betende Muslime hinter einer Art grünem Schleier. Damit reihte es sich ein in die gängig gewordene Praxis, diverse Themen mit islamischer Symbolik zu unterlegen. Ganz konkret wird hier die angesprochene Integrationsproblematik als muslimische Frage monosemiert”, so Schiffer. Im Folgenden präsentierte sie weitere Bildbeispiele, die konkrete Bedrohungsmetaphorik mit dem Islam verbinden. * Cover rechts: Focus Nr. 48 vom 22. November 2004.
Eine Themenverknüpfung von Islam mit Gewalt und Unterdrückung sei laut Schiffer bereits vor dem 11. September 2001 vorhanden gewesen, habe sich aber nach den Terroranschlägen verstärkt. Insgesamt könne man feststellen, dass zur Bebilderung eines Extrems Visualisierungen einer ganzen Gruppe herangezogen würden. Als Bildcodes würden vor allem die Moschee und das Kopftuch dienen. Schiffer sprach hier von einer gefährlichen „verallgemeinernden Zuweisung”, die es zu verhindern gelte. Auch sie stellte fest: „Die dazugehörigen Texte in den Medien sind viel differenzierter! Im Grunde macht die Bebilderung die Bemühungen der Journalisten kaputt.”
Cover (von links nach rechts): Spiegel Nr. 52 vom 24. Dezember 2007 | Spiegel spezial Nr. 2/2003. Beispiel einer Collage. | Spiegel Nr. 13 vom 26. März 2007.
Zuletzt sprach Dr. Christoph Hamann vom Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg über „Global icons. Der Holocaust als visueller Referenzrahmen im Nahost-Konflikt”. In seinem Vortrag stellte er heraus, dass Bedrohungsszenarien oft erst durch teils unterbewusste Vorkenntnisse entstehen. Viele Bilder, so Hamann, seien für sich allein genommen noch nicht bedrohlich.
Es lasse sich somit eine negative Entwicklung neutraler Bildmotive feststellen. Bedenklich sei, dass sich bezüglich des Islam eine Darstellungstradition der Bedrohung etabliert habe. „Bilder sind in unserer heutigen Gesellschaft Teil und Mittel postmoderner Kriegsführung! Sie dürfen in ihrer Wirkung nicht unterschätzt werden und sollten weiterhin Thema der Forschung sein”, so Hamann abschließend. * Cover rechts: Stern vom 11. April 2007. Die Frage „Wie gefährlich ist der Islam?” beinhaltet bereits eine dem Islam zugeschriebene Gefahr. Sie impliziert: Der Islam ist gefährlich, aber wie sehr?
Christine Buch studiert Europäische Kunstgeschichte, sowie Mittlere und Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Medizingeschichte an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS/CJ)
]]>Von Maria Neumann & Erik Swiatloch
Schon der Beginn des Panels versinnbildlichte solche Schattenseiten – in diesem Fall geschichtswissenschaftliche Schattenseiten, nämlich das mangelnde Verständnis von Technik. Die Mikrophone fielen nach wenigen Minuten aus, das an die Wand projizierte Bild war viel zu klein und die Filmmusik dröhnte aus dafür nicht vorgesehenen Laptoplautsprechern. Namensschilder für die RednerInnen des Podiums fehlten auch hier, wobei diese ohnehin bei keiner Veranstaltung vorzufinden waren, sofern die ReferentInnen nicht selbst handschriftlich ebensolche angefertigt hatten. Doch diese anfänglichen Verzögerungen und technischen Missstände sollen die gelungenen Vorträge der ReferentInnen nicht in den Schatten stellen.
Jeder Prozess, sei es die Konstitution einer Staatengemeinschaft oder die regelmäßige Austragung eines wissenschaftlichen Kongresses, erleidet eben auch Rückschläge und auf dem Historikertag in Berlin waren neben diesen gewiss zahlreiche Fortschritte und innovative Ansätze und Momente zu beobachten und zu erleben.
Die moderne europäische Idee
Der Fluchtpunkt heutiger Europahistoriographie ist unsere eigene Gegenwart. Dabei knüpft die reale/realisierte Europakonzeption, welche auf der Verteidigung der Freiheitsrechte und der Verpflichtung zum Frieden aufbaut, an Ideen der Zwischenkriegszeit (Stresemann/Briand) und Pläne des nationalsozialistischen Widerstands an. Den Kern dieser Überlegungen bilden liberale Ideale und die Akzeptanz der Moderne. Sie setzen neben einem gemeinsamen Bewusstsein der europäischen Völker füreinander auch einen gemeinsamen Kanon von Werten (Würde, Freiheit, etc.), die immer wieder christliche Bezüge aufweisen, voraus.
Antiliberale Entwürfe hingegen fanden in der Geschichtsschreibung bislang wenig Beachtung. Obwohl alle Vertreter dieser Sektion deutlich auf die Notwendigkeit verwiesen haben, auch diese Europaideen in die historische Analyse mit einzubeziehen.
Es kann nicht zielführend sein, europäische Erfahrungen und Konzepte zu ignorieren, die keine liberalen Traditionslinien verfolgen und zeitweise die Europakonzeption der Gegenwart gefährdeten. Daher müssen jene Entwicklungsstränge, die beispielsweise im vormodernen und christlich-konservativen Milieu verhaftet sind, historisch ebenfalls erklärt werden.
Haben antiliberale Europakonzeptionen die positiv konnotierte Europäisierung gefestigt?
Dieter Gosewinkel, wissenschaftlicher Referent am wissenschaftlichen Zentrum Berlin, führt diese Sachlage zu der These zusammen, dass die antiliberalen Europakonzeptionen den Prozess der heute positiv konnotierten Europäisierung stärkten und noch immer fortwirken. Die daraus resultierende Doppelmöglichkeit und mit ihr einhergehende Spannung ist also weiterhin präsent.
Diese Annahme untersuchten die ReferentInnen im Folgenden anhand einiger Beispiele.
Robert Gerwarth und Stephan Malinowski von der Universität Dublin besprachen europäische Integrationsmomente, die auf gemeinsamen Gewalt- und Kriegserfahrungen basieren. Dabei bezogen sie sich zum einen auf den Kolonialismus als eine kollektive Erfahrung mit Gewaltcharakter, zum anderen auf die Ereignisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg.
Europa als Zusammenschluss gegen gemeinsame Feindbilder
Charakteristisch für das Verhalten der Kolonialherrscher war die Betonung der europäischen Gemeinsamkeiten mit Rückgriff auf nationale Nuancen. Auf allen Kontinenten bildeten sich Kollektive mit anderen Europäern, nicht aber mit den Eingeborenen. Der Rassismus, der sich gegen die nativs richtete, vereinte gleichzeitig die Europäer und schwächte zudem die europäischen Binnengrenzen. Die wirtschaftlichen Erkenntnisse der Kolonialzeit wurden im Zuge der Entkolonialisierung zur humanitären Entwicklungshilfe weiterentwickelt. Außerdem wurde über Jahrhunderte Gewalt gegen Einheimische anders exekutiert als gegen die Europäer. Diese Beispiele belegen eine dunkle Variante europäischer Kooperation. Der Zusammenschluss gegen gemeinsame Feindbilder ermöglichte es Europa, wenn auch vorerst nur in der Ferne, gemeinsam zu leben.
Auch die beiden Weltkriege boten den Nährboden für transnationale Zusammenarbeiten in Europa. Die gemeinsam erlebte extreme Gewalterfahrung ist dabei auch als ein einendes Element zu verstehen. So setzte sich die Waffen-SS 1945 zur Hälfte aus Ausländern zusammen. Gerwarth nannte sie eine „europäischen Truppe”.
Extreme Gewalterfahrungen wirken als einendes Band.
Einem konkreten antiliberalen Europakonzept widmete sich im Anschluss Vanessa Conze, Assistentin an der Universität Gießen. Sie diskutierte katholische Europaideen am Beispiel der Zeitschrift „Abendland”, die von 1925 bis 1933 erschien. Das Abendland stellt dabei einen katholischen Schlüsselbegriff für den Neuaufbau Europas dar und birgt nicht nur politische Zielsetzungen, sondern eine ganze Gesellschaftsordnung. Die inhaltlichen Schwerpunkte des in sich sehr heterogenen Verleger- und Autorenkreises lassen sich wie folgt zusammenfassen: Idealisierung des Mittelalters als goldenes Zeitalter, die Beschreibung der Geschichte der Neuzeit als Prozess des Niedergangs, Abkehr vom Sozialismus, Liberalismus und der Moderne, Aufruf zur Re-Christianisierung des Kontinents, Verständigung mit anderen politischen Parteien, Stilisierung des Rheinlandes (Herrschaftsgebiet Karls des Großen) zum Kerngebiet des Abendlandes, Hervorhebung der Bedeutung Mitteleuropas und die Anerkennung der Nationen als identitätsstiftende Elemente. Diese Inhalte bestimmten katholische Konzeptionen bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre, bis zu dem Zeitpunkt, als die politischen Einigungsprozesse in Europa wirklich Realität wurden.
Dieter Gosewinkel, Professor an der Freien Universität Berlin, wählte exemplarisch die Europakonzeptionen der französischen Rechten zwischen 1940 und 1990 für seine Ausführungen. Als Ausgangspunkt für seine Überlegungen bestimmte er die deutsch-französische Kollaboration im Zweiten Weltkrieg. Insbesondere untersuchte Gosewinkel, ob und wenn ja welche Kontinuitäten im Zeitraum der genannten 50 Jahre nachzuweisen sind. Dabei verfolgte er zwei Stränge: zum einen den technokratisch-ökonomischen, zum anderen den substantiell-politisch-ideologischen. Diese beiden Glieder waren zunächst miteinander verflochten, später löste sich die Bindung auf. Die Grundelemente für die Kooperationsbemühungen wurden im Nationalsozialismus, beispielsweise durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Schwerindustrien oder im gemeinsamen Kampf gegen den US-amerikanischen Kapitalismus und sowjetischen Bolschewismus, gelegt.
Auf diesen Wegen entstand auch die Idee zu einem Großwirtschaftsraum. Nach 1945 erlangten die Europaplanungen im rechten Spektrum einen neuen Höhepunkt, wobei die Unterschiede zu den liberalen Europaideen nicht von Beginn an evident waren. Die rechten Kräfte befürworteten eine soziale Gemeinschaft der Arbeiter und Produzenten, die sich auf gemeinsamen Feindbildern konstituiert. Eine generelle Verneinung der technokratischen Europapläne existierte also bis in die 1970er Jahre nicht. Erst danach setzte der Prozess gegen das, so Gosewinkel, „ökonomisch gebrandmarkte Brüssel” ein, und damit der Widerstand gegen die Europäische Union in ihrer jetzigen Ausprägung.
Das deutsch-französische Verhältnis
Abschließend beleuchtete Professor Peter Schüttler Europakonzepte, die in engem Zusammenhang mit der „deutsch-französischen Verständigung” zwischen dem Vertrag von Versailles und dem Élysée-Vertrag stehen. (* Die rechts abgebildete Briefmarke wurde von der Dt. Bundespost zum 25. Jahrestag des Élysée-Vertrags herausgegeben.)
Die Kontinuitäten und Widersprüche dieser Verbindung veranschaulichte er am Beispiel der Biografie Gustav Krukenbergs. In den 1920er Jahren war Krukenberg Mitglied des Mayrisch-Komitees, das sich für den Neubeginn deutsch-französischer Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg aussprach. Im Zweiten Weltkrieg wurde er Inspekteur einer SS-Division. Im Anschluss an den Krieg trat Krukenberg dem Heimkehrerverband bei, dessen Ehrenvorsitzender er wurde. Dieser Verein setzte sich intensiv für die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland ein. Die Biografie Krukenbergs bezeugt die Vielfältigkeit der Europakonzepte. Neben liberalen Ideen beherrschten auch konservative oder christliche Vorstellungen die Debatten. Die Gleichzeitigkeit von Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Vergangenheit formten das Europabild der Gegenwart. Die Verschiedenheit der Pläne zur europäischen Einigung bedingte unterschiedliche, auch nicht-intendierte Effekte, die vermutlich den Erfolg der europäischen Einigung erheblich beeinflussten.
Bericht von Maria Neumann & Erik Swiatloch
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Angela Siebold, Martin Stallmann und Carlos A. Haas
Mittlerweile ist es ein lohnenswertes Ziel der Geschichtswissenschaft, über das Fachpublikum hinaus gehört zu werden. Die mediale Präsenz von Geschichte wird dabei von Historikern mit Freude und Sorge gleichzeitig betrachtet – ist doch das öffentliche Interesse an der Geschichte ein willkommener Legitimationsschub für ihre Disziplin; gleichzeitig wirft es aber die Frage auf, wer hier über Geschichte spricht. Denn nur, weil es um Geschichte geht, heißt das noch lange nicht, dass Historiker sprechen: Bisweilen erscheint es so, als bestimmten vielmehr die Zeitzeugen oder Journalisten die allgemeine Sicht auf die Vergangenheit.
In der Sektion „Public History – Geschichte in der Öffentlichkeit. Das zwanzigjährige Jubiläum von 1989 im Spannungsfeld von akademischer und öffentlicher Zeitgeschichte” wurde eine zweifache Annäherung an dieses Thema angestrebt: Erstens ging es um eine kritische Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft in ihrem Verhältnis zur Öffentlichkeit. Zweitens wurden den wissenschaftlichen Referenten praxisbezogene Historiker gegenübergestellt, um einen Dialog zwischen den Fachhistorikern und den „Public Historians” zu fördern.
Wann wird die Wissenschaft zur Öffentlichkeit?
Welche Rolle kommt der Geschichtswissenschaft in der Öffentlichkeit zu? Ist sie nur „Zulieferer” von Informationen, als Fachberater, Gutachter, Materialgeber für die Geschichtsjournalisten, die dann die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse in die Sprache der Öffentlichkeit übersetzen? Oder sind (wissenschaftlich arbeitende) Historiker eigenständige Akteure in der Öffentlichkeit, die selbst gehört werden sollten? Dies würde jedoch voraussetzen, dass die Historiker auch die Sprache der Öffentlichkeit sprechen – und das bedeutet nicht nur, komplexe Sachverhalte verständlich zu vermitteln, sondern ebenso die öffentlichen Darstellungsformen – von der Zeitung über das Fernsehen und das Museum bis hin zum Internet – zu beherrschen.
„Hitler sells” – was wird dargestellt?
Doch in welchem Verhältnis sollten die Fragestellungen und Themen der Geschichtswissenschaft zu ihrer Darstellungsform stehen? In der Diskussion wurde eine tiefgreifende Sorge geäußert: Möglicherweise könne eine publikumsorientierte Geschichtswissenschaft dazu führen, dass nur noch diejenigen Inhalte thematisiert würden, die medial präsentiert und gut verkauft werden könnten. Die Frage nach der medialen Darstellbarkeit von Geschichte dürfe jedoch das wissenschaftliche Denken nicht dominieren. Der Journalist Sven Felix Kellerhoff (“Die Welt”) betonte dagegen, Geschichte müsse in der Öffentlichkeit nicht nur sachgerecht, sondern vor allem publikums- und mediengerecht gestaltet sein. Dementsprechend erklärte Thomas Schuhbauer (Eco Media) die Sendeplatzanalyse zum wichtigesten Werkzeug des (historischen) Filmemachers.
Ein weiteres Problem stellte die Auswahl von Themen nach zeitlichen Kriterien dar: Während etwa die mediale Aufbereitung von historischen Jahrestagen in den Massenmedien bestimmend für die Themenauswahl sei, dürften solche Ereignisse nicht maßgeblich für die Bearbeitung wissenschaftlicher Fragestellungen sein.
Die Grenze zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit ist längst durchlässig.
Abgrenzungen und Schnittstellen
In der Debatte wurde zudem deutlich, dass die Grenze zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit längst nicht mehr als trennende Linie verstanden werden kann. Es gehe nun vielmehr darum, die sich überschneidenden Grenzräume zu gestalten. Für die Geschichtswissenschaft stelle sich hier eine doppelte Problematik: Einerseits muss sie sich durch die Aufrechterhaltung wissenschaftlicher Kriterien von anderen Geschichtsakteuren abgrenzen.
Andererseits steht sie vor der Aufgabe, die Handlungsmöglichkeiten von Historikern außerhalb des wissenschaftlichen Feldes zu definieren und sich damit als wissenschaftlicher Akteur in der Öffentlichkeit zu behaupten. Hanno Hochmuth (FU Berlin) betonte, dass hierbei nicht nur historische Detailkorrekturen vorzunehmen oder eine grundsätzliche Kritik an populären Vermittlungsformen zu üben seien. Vielmehr sollte die Geschichtswissenschaft zur historischen Kontextualisierung von Spiel- und Dokumentarfilmen beitragen, eine wissenschaftlich fundierte Fachkritik gegenüber öffentlichen Darstellungen üben sowie praxisorientierte Studienangebote bereitstellen. Bestimmte Grenzen, so Frank Bösch (Universität Gießen), dürften die Fachhistoriker dabei keinesfalls überschreiten – so etwa Texte aus bereits vorgeschriebenen Drehbüchern als „Fachexperten” schlicht nachzusprechen.
Es geht darum, öffentlichkeitskompetente Historiker auszubilden.
Die verschiedenen Positionen und Forderungen im Panel zeigten, dass die „Public History” einen komplexen und noch nicht vollständig entwickelten Arbeitsbereich darstellt. In den Beiträgen wurde einerseits gefordert, eine grundlegende Methodenlehre für den Umgang mit historischen Quellen als Vermittlungsmedium zu entwickeln. Es könne dabei nicht nur darum gehen, wissenschaftliche Informationen für die Öffentlichkeit bereit zu stellen, sondern selbst öffentlichkeitskompetente Historiker auszubilden. Damit solle ein kritischer Umgang mit populären Geschichtsdarstellungen gefördert werden, der sich zum Beispiel in einer zu emotionalisierten und personalisierten Erzählung widerspiegelt.
Zwar erklärte Rosemarie Beier-de Haan (Deutsches Historisches Museum), dass die Arbeit im Museum der in der Wissenschaft sehr nahe komme. Auch Thomas Schuhbauer (Eco Media) betonte, dass eine enge Zusammenarbeit der „Public Historians” mit der Geschichtswissenschaft unerlässlich sei. Einige Beispiele der Populärgeschichte standen dieser Position jedoch entgegen, wie etwa die immer gleichen Fernsehbilder vom Mauerfall, die in „medialen Schleifen” (Frank Bösch) reproduziert würden und mittlerweile die öffentliche Erinnerung an das Jahr 1989 dominierten. Damit verbunden kam die Überlegung auf, inwiefern das individuelle durch ein kulturelles Gedächtnis überlagert werden dürfe; so problematisierte Edgar Wolfrum (Universität Heidelberg) etwa Begriffe wie die „innere Einheit” und stellte in Frage, ob der Geschichtsboom um das Jahr 1989 auch im Westen angekommen sei.
Grundsätzlich wurde des Weiteren diskutiert, ob die Geschichtswissenschaft zugleich Teilnehmerin und Beobachterin der Erinnerung sein könne, ohne selbst zum geschichtspolitischen Akteur zu werden. Eine Überlappung von Geschichtswissenschaft und öffentlicher Erinnerung sei zwar offensichtlich; diese dürfe aber nicht zu einem Identitätsverlust der Geschichtswissenschaft führen. Schließlich sei die Wissenschaft eine „mythenkritische Reflexionsinstanz” (Martin Sabrow, ZZF Potsdam), die auch in der Lage sei, fundamentale Fragen zur kritischen Selbstreflexion zu stellen.
Martin Stallmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. |
Carlos A. Haas, Student an der Universität Heidelberg (Musikwissenschaft, Mittlere und Neuere Geschichte). |
(Redaktion: KP/MS/CJ)
]]>Ein Gastbeitrag von Annette Adelmeyer, Siegfried Both, Susanne Kopp-Sievers und Christian Reinboth
Da sich Museen zuallererst als Bildungseinrichtungen verstehen, sind Schulklassen seit jeher eine wichtige Zielgruppe, die es in besonderem Maße zu umwerben gilt. In Sachsen-Anhalt wird die Zusammenarbeit von Schulen und Museen seit Mitte der 1990er Jahre systematisch von einer Arbeitsgruppe aus Vertreterinnen und Vertretern des Museumsverbandes Sachsen-Anhalt e.V., des Landesinstituts für Schulqualität und Lehrerbildung von Sachsen-Anhalt (LISA, nicht zu verwechseln mit L.I.S.A.) und des Kultusministeriums von Sachsen-Anhalt vorangetrieben.
Obwohl das Ministerium bereits frühzeitig die Bedeutung der Museen für die Umsetzung der Bildungsstrategie des Bundeslandes erkannte, konnte das enorme Potenzial der Museen für die schulische Arbeit bislang leider nur begrenzt ausgeschöpft werden.
In diesem zweiten Gastbeitrag des Museumsverbands Sachsen-Anhalt für das offizielle Blog zum Deutschen Historikertag – der erste Beitrag beschäftigte sich mit der Digitalisierung von Museumsobjekten – soll es um die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Museen in Sachsen-Anhalt und die dabei gesammelten Erfahrungen gehen – beginnend mit einer ganz grundlegenden Feststellung…
Einsichten führen zu Aussichten
Während der vergangenen Jahre ist in den sachsen-anhaltischen Museen auf der einen Seite deutlich erkannt worden, dass die in den Museen stattfindende schulische Bildungsarbeit grundsätzlich dem Lehrplan bzw. den geltenden Rahmenrichtlinien verpflichtet sein muss, während den Museumsmitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei der Beschäftigung mit den pädagogischen Inhalten auf der anderen Seite stärker bewusst wurde, dass sich Museen über die reine Wissensvermittlung hinaus als informelle Lernorte für Schülerinnen und Schüler dazu eignen, persönliche Kompetenzen zu entdecken und zu stärken. Diese Überlegungen stehen auf schulischer Seite oftmals am Anfang der Entscheidung für einen Museumsbesuch.
Auf Seiten der Pädagogen wuchs demgegenüber die Einsicht, dass eine Ausstellung, die für einen längeren Zeitraum – in kleineren Museen oftmals sogar für bis zu 20 Jahre – geplant ist, unterschiedlichen Zielgruppen gerecht werden muss. Darüber hinaus sind gewisse Einschränkungen durch die konservatorischen Anforderungen der Objekte gegeben, die sich oftmals in Vitrinen befinden. Beide Seiten mussten erfahren, dass sich der Aussagewert auch von Objekten, die in einem thematischen Zusammenhang zueinander stehen, aller ausstellungsdidaktischen Bemühungen zum Trotz vor allem Kindern und Jugendlichen nicht auf den ersten Blick erschließt. Gewachsen ist auch das Verständnis dafür, dass nicht alle MitarbeiterInnen eines Museums, die ja häufig aus schulfremden Bereichen kommen, das pädagogische Know-How eines Lehrers besitzen können.
Auf der Basis dieser Erkenntnisse wurden an verschiedenen Regionalmuseen didaktische Materialien zu kleineren Ausstellungseinheiten entwickelt und erprobt. Hierzu zählten u. a. bessere Erschließungsmöglichkeiten eines Großdioramas zur Schlacht bei Lützen im Jahr 1632 im Museum Lützen, die Entwicklung von Materialien zum Weinbergaltar von Lucas Cranach dem Jüngeren aus dem Jahr 1582 im Danneil-Museum Salzwedel sowie der Aufbau der Museumspädagogik im Lutherhaus Wittenberg. Letzteres geschah innerhalb des LISA-Projektes „Ins Leben ziehen – Luther in seiner Zeit” (2000-2004), wobei die positiven, hierbei gewonnenen Erfahrungen zu einer dauerhaften Verstetigung des Vorgehens führten. Vor diesem Hintergrund wurde dem LISA ab dem 1. August 2003 die neue Fachaufgabe „Betreuung kultureller Lernorte (Museen/Gedenkstätten)” übertragen.
Die AG Betreuung kultureller Lernorte
Mit Übernahme der Fachaufgabe entstand am LISA eine pädagogische Arbeitsgruppe zur Betreuung kultureller Lernorte, in der abgeordnete Lehrkräfte in enger Zusammenarbeit mit ausgewählten Museen in Sachsen-Anhalt Angebote für Schülerinnen und Schüler erarbeiten. Derzeit sind vier teilabgeordnete sowie eine vollabgeordnete Lehrkraft an drei Standorten tätig, die den kulturellen Bildungseinrichtungen insgesamt 96 Stunden an wöchentlicher Arbeitszeit zur Verfügung stellen. In Rahmen einer zwei- bis vierjährigen Kooperation zwischen dem LISA und dem jeweiligen Museum wird ein museumspädagogisches Konzept erarbeitet, welches auf die Besonderheiten des jeweiligen “Lernortes” ausgerichtet ist. Dabei werden unter anderem pädagogische Materialien entwickelt, erprobt und hergestellt, die von den Museen nach dem Ende der Zusammenarbeit weiter genutzt werden können.
Die Zusammenarbeit von LISA und Museen setzt an der Schnittmenge der Bildungsabsichten von Museum und Schule an – letztendlich beabsichtigen beide Institutionen, ein Verständnis für vergangene und gegenwärtige Lebenswelten zu vermitteln und zur Reflexion anzuregen. Dabei verfügt das Museum mit seinen originalen Objekten zwar über einen unschätzbar hohen Grad an Authentizität, Schülerinnen und Schüler müssen im Museum aber oft erst einmal das „Hinsehen” lernen, um genau dieses Verständnis entwickeln zu können.
Um eine Beziehung zum Objekt aufbauen können, muss den Schülerinnen und Schülern eine Brücke gebaut werden. Hierzu gehören:
Memleben Kloster in Deutschland
Den vom LISA entwickelten Angeboten wird ausdrücklich ein breiter Bildungsbegriff zugrunde gelegt, der sich nicht zu eng an einzelne Schulformen oder Unterrichtsinhalte bestimmter Fächer anlehnt. So ist ein Museumsbesuch über die Inhalte hinaus besonders geeignet für das Erlernen von Methoden wie beispielsweise der systematischen Beobachtung oder für die Stärkung von Kompetenzen. Dies schließt die Lern- und Erziehungsziele der Lehrpläne und Rahmenrichtlinien nicht aus, sondern ein, wobei es der breit angelegte Bildungsbegriff dem Museum ermöglicht, seine Zielgruppe – und seine territoriale Reichweite – zu vergrößern.
Die Entwicklung eines Lernortes
Wie aber hat man sich den Auf- und Ausbau eines solchen “Lernortes” in der Praxis vorzustellen? In der Regel prüfen des LISA, der Museumsverband und das Kultusministerium des Landes zunächst im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens die inhaltlichen, räumlichen und personellen Möglichkeiten eines Museums. Darauf aufbauend werden dann die jeweiligen Angebote entwickelt. Hierzu gehören u.a. folgende Bausteine:
Insbesondere die Erarbeitung der Medien und Materialien für die Arbeit mit Schulklassen im Museum ist ein sehr langwieriger Prozess: Sie werden zunächst erprobt und entwickelt, auf Fortbildungen mit Lehrkräften diskutiert und ihr Einsatz vor Ort begleitet. Die Bandbreite dieser Arbeit umfasst Medien und Materialien zur aktiven Erkundung von Bauwerken und Ausstellungen (z.B. Selbsterkundungsmaterial, Audioguides z.T. für die Nutzung mit mp3-Playern, didaktische Ausstellungselemente und Erinnerungstests), Materialien zur Erprobung und Anwendung museal präsentierter Inhalte (z.B. Experimentieranordnungen, Bausätze, Repliken, Modelle oder Kostüme) sowie Materialien für den Einsatz in der ganzheitlichen Bildungsarbeit (zum Beispiel Publikationen speziell für Kinder und Jugendliche, Lehrfilme, Internet-Bildungsplattformen oder Computerspiele). Die Nutzung der Angebote wird intensiv ausgewertet, so dass Anpassungen und Korrekturen erfolgen können.
Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Einbeziehung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtungen gelegt. Sie werden von Beginn an in die Lernortarbeit integriert und geschult, um nach Beendigung der Kooperation eine längerfristige Weiternutzung der Angebote durch das Museum zu gewährleisten. Zusätzlich werden auf Lehrerfortbildungen Medien etc. vorgestellt und Hinweise für die Vor- und Nachbereitung von Museumsbesuchen gegeben. Mit Abschluss der Kooperation erhält das Museum auf diese Weise ein inhaltlich und pädagogisch niveauvolles Programm.
Eine weitere Besonderheit der Angebote ist der mehrstündige Charakter der Veranstaltungen, die sie z.B. für Schulfahrten attraktiv machen sollen. Hierzu konnten als Partner für die Lernortarbeit die Jugendherbergen des Landesverbandes Sachsen-Anhalt gewonnen werden, die teilweise auch die Betreuung der Schulklassen vor Ort unterstützen.
Informationen zu den Lernorten
Angesichts der Zahl von mehr als 200 großen und kleinen Museen in Sachsen-Anhalt und der begrenzten personellen Möglichkeiten des LISA, wird bei der Entwicklung der Lernorte auch immer auf den Modellcharakter, d.h. auf die Übertragbarkeit von Aktionen auf andere Ausstellungen geachtet. So können z. B. die für das Kloster Memleben entwickelten Einheiten zum mönchischen (Alltags-)Leben durchaus auch in anderen Museen, die das Klosterleben thematisieren, in abgewandelter Form aufgenommen werden. Die Einheiten für das Film- und Industriemuseum Wolfen, die über die Technikgeschichte hinaus auch für den Zusammenhang zwischen Industrie und Stadtbildentwicklung sensibilisieren, bieten breite Möglichkeiten der Nachahmung für viele andere Museen.
Auf dem Bildungsserver Sachsen-Anhalt gibt es daher weitreichende Möglichkeiten sich über die Bildungsorte, ihre Angebote sowie die pädagogischen Ziele umfassend zu informieren. Insgesamt wurden oder werden bisher neun museale Lernorte vom LISA unterstützt.
Geschichtskulturelles Lernen wird Bestandteil des Lehrplans
Die aus der Zusammenarbeit zwischen Schule und Museen gewonnenen Erfahrungen flossen auch in die Neugestaltung des kompetenzorientierten Fachlehrplans Geschichte für die Sekundarschulen in Sachsen-Anhalt ein, der seit Beginn des Schuljahres 2010/11 für die Schulen verbindlich ist. Einen besonderen Schwerpunkt stellt darin die Schulung der geschichtskulturellen Kompetenz dar, die Schülerinnen und Schüler zur rezeptiven und produktiven Teilnahme am öffentlichen Umgang mit Vergangenheit befähigen soll. Dazu gehört selbstverständlich die aktive Erschließung von Präsentationen historischer Themen, aber auch ein bewusster Blick auf den Aussagewert und den Umgang mit architektonischen Zeugnissen der Vergangenheit. Beide Aspekte können an historischen Lernorten genauso trainiert werden wie die drei anderen verbindlichen Kompetenzen des historischen Denkens (Gattungskompetenz, Interpretationskompetenz und narrative Kompetenz).
So ist beispielsweise in den Schuljahren 5 und 6 die Durchführung eines Methodenpraktikums zum Umgang mit Sachzeugnissen vorgesehen, das sehr gut als Museumspraktikum gestaltet werden kann. Historische Überreste sollen dabei gezielt befragt und unter Einbeziehung von Quellen und Darstellungen erschlossen werden.
Geeignete Fragen zu stellen fällt dabei umso leichter, je mehr Erfahrungen man mit den Geschichten sammeln konnte, die Gegenstände oder Bauwerke erzählen. Gerade Lernorte wie das Kloster Memleben, Schloss Wernigerode oder der Naumburger Dom bieten besonders vielfältige Begegnungsmöglichkeiten und schulen den Blick der Schülerinnen und Schüler für derartige Zeugnisse der Vergangenheit. Die Nutzung und kritische Befragung von musealen Präsentationen ist auch in höheren Jahrgängen immer wieder Bestandteil des Lehrplans.
Versuch eines Fazits
Mit der Übertragung der Fachaufgabe „Betreuung kultureller Lernorte” an das LISA hat das Land Sachsen-Anhalt einen eigenständigen Weg gewählt. Während in anderen Bundesländern häufig LehrerInnen direkt an ein Museum abgeordnet oder zentrale Einrichtungen wie z.B. museumspädagogische Zentren geschaffen werden, musste aufgrund der personellen und finanziellen Rahmenbedingungen im Land aber auch in den Städten und Kommunen Sachsen-Anhalts ein alternativer Weg beschritten werden.
Die seit 15 Jahren bestehende kontinuierliche Zusammenarbeit von Museumsverband, LISA und Kultusministerium hat mittlerweile zu einer erheblichen Qualitätssteigerung in der musealen Vermittlungsarbeit in Sachsen-Anhalt beigetragen. Die von uns durchgeführten Evaluierungen zeigen, dass der ganzheitliche Ansatz der Fachaufgabe „Betreuung kultureller Lernorte” eine hohe Wertschätzung genießt und sich nicht nur die Zusammenarbeit von Schulen und Museen entscheidend verbessert hat, sondern vor allem auch der Wissens- und Kompetenzzuwachs sowie die Zufriedenheit der Schüler nach einem Museumsbesuch.
Annette Adelmeyer ist Gymnasiallehrerin. Sie arbeitete seit 2000 an der Betreuung der kulturellen Lernorte mit und leitet seit 2010 als abgeordnete Lehrkraft im LISA die Fachgabe „Betreuung kultureller Lernorte”. |
Dr. Siegfried Both ist Referent am LISA und leitete von 2003 bis 2010 die Fachgabe „Betreuung kultureller Lernorte”. |
Susanne Kopp-Sievers ist Geschäftsführerin des Museumsverbands Sachsen-Anhalt e.V. und berät die Museen und das LISA. |
Christian Reinboth befasst sich als Wirtschaftsinformatiker seit Jahren ehrenamtlich mit dem Thema Museum 2.0 und bloggt im „Frischen Wind”. |
(Redaktion: MS)
]]>Von Daniel Rübel
Felix Schnell zeigte dies am konkreten Beispiel des Russischen Bürgerkriegs. Dort lässt sich gut beobachten, dass Räume, in denen Gewalt geschieht, zwar mit räumlichen oder politischen Grenzen zusammenfallen können, aber nicht müssen. Das soziale Verhalten reicht schon aus, um einen Gewaltraum entstehen zu lassen. In der Ukraine zwischen 1917 und 1921, dem Hauptschauplatz des Krieges, waren die Grenzen in ständiger Verschiebung.
Gewalt gegen Zivilisten
Die neue, extrem mobile Kriegsführung, die vielen verschiedenen Parteien und “Warlords”, die neben der Roten und Weißen Armee kämpften und der lange Zeitraum des Krieges bedingten schnelle Überfallstaktiken mit raschen Rückzügen ohne Entscheidungsschlachten. Dafür wurde die Gewalt gegen Zivilisten zur Regel. Diese konnten sich oft schon aufgrund ihrer körperlichen Verfassung dem Krieg nicht entziehen. Die emotionale und kulturelle Verbundenheit spielte neben dem begrenzten Wissen der Dorfbevölkerung über andere Orte ebenfalls eine Rolle. Allerdings hatten die Soldaten oft nicht mehr Handlungsspielraum. Einerseits wurde Desertation hart bestraft, andererseits gab es schlicht und ergreifend keinen Raum, in den man sich hätte flüchten können: der Bürgerkrieg war aufgrund seiner Grenzenlosigkeit überall. Die Frage nach Mitmachen oder nicht stellte sich nicht – man musste sich immer zur Gewalt verhalten.
Kroatien im 2. Weltkrieg: Kein einheitlicher Genozid
Die Situation im unabhängigen Staat Kroatien während des Zweiten Weltkriegs war ähnlich chaotisch wie im Russischen Bürgerkrieg. Alexander Korb zeigte, dass die kroatisch-nationalistischen Ustaša nur eine Minderheit an etwa 50% der Bevölkerung stellten und dennoch versuchten, den Staat zu homogenisieren. Dazu kamen deutsche und italienische Armeeeinheiten und Aufständische, die sich zusätzlich untereinander bekämpften. Gewalt und Gegengewalt, Massengewalt in ihrer ganzen Breite kennzeichnete die Kämpfe und Aktionen der Parteien. Der Begriff Genozid ist daher in diesem Zusammenhang zu vereinheitlichend, der Konflikt war multipolar und komplex.
Die vielen Formen der Gewalt passten sich den räumlichen Gegebenheiten an. Ethnische Säuberungen und Vertreibungen führten zur Flucht in Wälder und Gebirge, Massaker wurden oft dort verübt, wo der Machtanspruch zum Beispiel der Ustaša nur schwer durchgesetzt werden konnte. In die Lager wurden vor allem städtische Juden und Roma transportiert, Geiselerschießungen wurden öffentlich bekanntgemacht. Gewalt entstand häufig zwischen den Zonen der beiden Besatzungsmächte, wo deren Einfluss gering und die Handlungsspielräume der anderen Akteure groß waren. In den Ebenen wurde um die Kontrolle über die Ernte gekämpft, leicht verbarrikadierbare oder schwer erreichbare Orte waren weniger stark betroffen. Die Gewaltforschung muss entsprechend die Zugriffsmöglichkeiten auf Orte untersuchen, an denen Gewalt ausgeführt wird.
Soziale Logik des Gewaltraums
Marc Buggeln hatte die Gewalt in KZ-Außenlagern als soziale Handlungen im Blick, die über alle beteiligten Seiten etwas aussagen. Nachdem im Verlauf des Krieges immer mehr auf die Zwangsarbeiter aus den Konzentrationslagern zurückgegriffen wurde, um die Produktion aufrecht zu erhalten, wandelte sich der Charakter der Gewalt gegen die Häftlinge. Die schwersten Strafen wurden seltener verhängt, rücksichtslose Gewalt wurde weniger. Die Vernichtungslogik der KZs wich einer Verwertungslogik.
Das KZ als Gewaltraum kennzeichnete sich durch dynamische Grenzen.
Ungefähr 80% der KZ-Häftlinge befanden sich im Arbeitseinsatz für Firmen in Außenlagern – und damit bei weitem nicht so abgetrennt von der Welt und der deutschen Bevölkerung als das in den Hauptlagern der Fall war. Schon die Lager selbst waren aufgrund ihrer Größe und Lage einzusehen und so wirkte Gewalt in ihnen nach außen. Öffentliches Erhängen im Lager wurde in der Bevölkerung wahrgenommen, örtliche NS-Parteileiter stolzierten mit umgeschnallter Pistole im Lager herum und prügelten so wie die SS-Bewacher, Kinder warfen Steine nach den Häftlingen. Auf dem Weg vom Lager zur Arbeitsstelle gab es ebenfalls unsichere, dynamische Grenzen. Hier wurden Grenzüberschreitungen täglich von den Wachen neu definiert, was am einen Tag akzeptiert wurde, konnte am Tag danach schon ein Schritt zuviel sein – mit tödlichen Folgen. Die Arbeitsstelle selbst wurde oft mit Postenketten abgesichert. Gerade gegen Ende des Kriegs, als Soldaten knapp wurden und die Fabriken oder Trümmerstellen, in denen die Häftlinge eingesetzt wurden, unübersichtlich waren, war dort sogar vereinzelt die Flucht möglich.
Flucht ist keine Option
Wie in den beiden anderen Gewalträumen, von denen die Sektion handelte, sahen viele allerdings keinen Sinn in einer Flucht in Deutschland, die Gefahr, wieder gefasst und dann erschossen zu werden, war groß. Die Grenze verlief oftmals innerhalb der Köpfe. Dazu kamen die erwähnten Auswirkungen auf die Bevölkerung und Rückwirkungen auf die Behandlung der normalen Arbeiter: griffen die SS-Bewacher hart durch und sprach sich die Betriebsleitung nicht dagegen aus, verschlechterte sich auch deren Situation. Sogar unter den Häftlingen konnten sich Drucksituationen in Gewalt und Unterdrückung gegen schwächere und “den Arbeitsprozess aufhaltende” Mithäftlinge entladen.
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Angela Siebold
Das Ziel der beiden ersten Vorträge, gehalten von Matthias Middell und Michael Geyer, war es zunächst, einen diachronen Vergleich zweier unterschiedlicher Zeitabschnitte der europäischen Geschichte anzustrengen, nämlich der Zeit der Französischen Revolution einerseits sowie der Jahre 1970-2010 andererseits. Beide Phasen, die eine als gewaltsame, die andere als friedliche Periode, verkörperten Transitionsphasen im Aufbruch zu neuen Raumordnungen, in denen verdichtete Identitätsräume verhandelt worden seien. In solchen Perioden seien in Europa institutionelle und prozedurale Formen des inneren Zusammenhangs, also der transnationalen Verflechtung entwickelt worden.
Im zweiten Teil des Panels diskutierten Katja Naumann und Steffi Marung die Transnationalität der Geschichte unter historiographischen Aspekten.
Zum Einstieg stellte Matthias Middell fünf Elemente der transnationalen Geschichte vor: Erstens nehme die transnationale Geschichte als grenzüberschreitende Praxis zu. Diese würde zweitens in einem Zusammenhang mit Globalisierungsprozessen diskutiert und überschneide sich etwa mit Fragen der Migration, Integration oder der global governance. Drittens sei die transnationale Geschichte verwandt mit verschiedenen neueren Forschungsansätzen, wie etwa der postkolonialen Geschichte, der Verflechtungsgeschichte, der histoire croisée oder der Kulturtransferforschung. Dennoch sei viertens das Verhältnis der transnationalen Geschichte zur Nationalgeschichte und der Regionalgeschichte zu klären. Dabei stelle sich die Frage, ob Transnationalität tatsächlich eine neue Forschungsperspektive darstelle, was transnational tatsächlich bedeute und welche Rolle dem Nationalen in diesem Zusammenhang beikomme. Fünftens sei schließlich das Verhältnis der transnationalen Geschichte zu den Sozialwissenschaften zu klären.
Wie können transnationale Elemente in die bestehenden historischen narrative Europas integriert werden?
Es stelle sich die grundsätzliche Frage, inwiefern transnationale Elemente in die bestehenden historischen Narrative integriert werden könnten. Während die einen eine komparatistische Sicht auf Europa im Vergleich zu anderen Weltregionen betonten, fokussierten andere auf die Verflechtung Europas nach außen. Eine transnationale Geschichte diene, so Middell, auch der historischen Selbstaufklärung; die Frage nach der Zielrichtung einer transnationalen Geschichtsschreibung sei jedoch bisher noch erstaunlich wenig diskutiert worden.
Dabei biete eine transnationale Perspektive auf Europa die Chance, das Verhältnis von Souveränität und Nationalstaatlichkeit neu in den Blick zu nehmen; das Zusammenspiel parallel verlaufender Territorialisierungsmuster könnte untersucht und Europa in einem globalen Kontext provinzialisiert werden.
Europäische Raumordnungen zur Zeit der Französischen Revolution
In seinem Vortrag warf Middell zunächst die Frage auf, nach welchen Kriterien die Französische Revolution als Zäsur gelte, denn durch die transnationale Perspektive hätten zentrale Ereignisse der innereuropäischen Geschichte an Bedeutung verloren. Deshalb müsse man die Französische Revolution in einen globalen Zusammenhang stellen, etwa in den Kontext der weltweiten Konkurrenz Frankreichs mit England oder in die globale Krisenhaftigkeit des 18. Jahrhunderts. Nach dieser Perspektive sei die Französische Revolution Teil eines Revolutionszyklus von globalem Ausmaß; die französischen Revolutionäre hätten aus dem Scheitern und dem Erfolg vorausgegangener Proteste gelernt. Eine zunehmende Mobilität der Informationen und die Professionalisierung der Gesellschaftsbetrachtung hätten einen transnationalen „Kommunikationsarm” geschaffen und die Intellektuellennetzwerke der Frühen Neuzeit abgelöst.
18. Jahrhundert: Krise der alten Territorialisierungsregime.
Seit Beginn des 18. Jahrhunderts seien die alten Territorialisierungsregime in eine Krise geraten, auf die die Suche nach einer neuen Raumordnung gefolgt sei. Letztendlich hätte die Französische Revolution in der Folge auch ein Verschwinden der inneren Territorialisierungsmuster bedeutet, da sie als unzureichend für die Mobilisierung von Ressourcen und die Integration der Bevölkerung erschien. Europa sei zum Schlachtfeld der Auseinandersetzung über neue Raumordnungen geworden. Dies habe eine „Atempause” europäischer Expansionsbestrebungen bedeutet; nichteuropäische Räume hätten vorübergehend an Bedeutung verloren gegenüber innereuropäischen Neuordnungen des Raums, wie etwa durch die polnischen Teilungen oder den Reichsdeputationshauptschluss. Diese Ambivalenz aus einerseits intensiven Bemühungen um eine Ordnung in Europa und die Vernachlässigung des außereuropäischen Raumes andererseits habe einen Funktionswandel hin zu „Nationalstaaten mit imperialen Ergänzungsräumen” ermöglicht.
Europa in der zweiten Globalisierungswelle 1970-2010
Anschließend sprach Michael Geyer über die Entterritorialisierung und Grenzziehung in Europa zwischen 1970 und 2010. Dabei nahm er an, dass die 1970er Jahre einen europäischen Wendepunkt und eine übergreifende Strukturkrise darstellten. Damit verortete er den Beginn der „Geschichte der Gegenwart” in diese Zeit. Aufgabe sei es nun, diese jüngste Zeitgeschichte in ein historisches Narrativ zu bringen. Momentan herrsche nämlich vor, sich bei der Erzählung der letzten vierzig Jahre auf Ereignisse, nicht auf historische Entwicklungslinien zu konzentrieren.
Transnationalismus nach 1970 beinhaltet u.a. die Aneignung fremder Sprachen und Kulturen, sowie die Idee eines demokratischen Universalismus.
Geyer formulierte die Hypothese, dass die Probleme einer Verschriftlichung der jüngsten Geschichte mit Fragen und Problemen der Transnationalität zusammenhingen. Er veranschaulichte zwei Formen, wie man die Geschichte der Reaktion auf den globalen Schock der 1970er Jahre erzählen könne: Erstens aus einer pessimistischen Sicht als eine Zeit nach dem Boom und eine Geschichte der Vertreibung aus eine Welt des Wohlstands und der Sicherheit. Zweitens könne diese Geschichte auch optimistisch betrachtet werden als eine Zeit von Helsinki, der Menschenrechte und der Befreiung von Nationen und Subjekten. Die Möglichkeit, sich andere Kulturen und Sprachen anzueignen, sei eines der konkreten transnationalen Elemente nach 1970. Die transnationale Geschichte sei auch die Idee von Europa als Ort ohne Grenzen, als Ort der Konfiguration eines europäischen Subjekts, als Ort der humanen Weltoffenheit und des demokratischen Universalismus.
Weiterhin identifizierte Geyer mehrere Phänomene, die es ermöglichen könnten, in der Erzählung der letzten 40 Jahre von den Ereignissen abzurücken und die Transnationalität in der Geschichte zu verankern.
Erstens sprach Geyer von einer „rekombinativen Nationalität”, also der Verwandlung Europas in einen postimperialen Kontinent von Republiken und in Nationen mit autonomen Räumen der Politik. Europa hätte in dieser Zeit durch die sukzessive Deimperialisierung europäischer Metropolen, die Zurückdrängung des sowjetischen Imperiums und das Auseinanderdriften Europas und der USA einen langen Prozess zu Ende gebracht. Die entscheidende Entwicklungslinie sei hier diejenige Osteuropas gewesen.
Zweitens garantierten nun Nationen weder Sicherheit von Wohlfahrt, noch die Unabhängigkeit von transnationalen Einflüssen. Die Nationalisierung Europas habe einen Abschluss gefunden, allerdings in einer neuen Realität: Sicherheit und Wohlfahrt seien jetzt als Kernbereiche nationaler Souveränität jenseits des Nationalstaates angesiedelt und würden zum Gegenstand von konkurrierenden Regulierungs- und Deregulierungssystemen. Dies habe unter anderem zwei Auswirkungen: Erstens habe sich Europa in einen Raum regionaler Ordnungen verwandelt. Zweitens habe sich in den letzten 40 Jahren ein neues Wertesystem herausgebildet, indem sich die Subjekte in einer europäischen Interdependenz verorteten, sich aber auch in dieser Transnationalität verlören. Nationalität und Subjektivität konstituierten sich jeweils neu; diese Neukonstitution sei analytisch jedoch nur im transnationalen Kontext greifbar.
Zu dieser postimperialen Konstitution Europas käme weiterhin die Industrialisierung anderer Weltregionen hinzu, die eine Rückzugsbewegung Europas auf sich selbst verstärkt hätte. Europa habe seinen globalen Modellstatus verloren – mittlerweile gäbe es wichtige konkurrierende Modernen. Diese Perspektive ließe jedoch auch eine Provinzialisierung Europas zu, die ein integraler Bestandteil einer Transnationalisierung Europas sein müsse.
Europa in der „World History” und der Integrationsgeschichte
Im zweiten Teil des Panels thematisierte Katja Naumann die „Transnationalisierung Europas in der Weltgeschichtsschreibung” und stellte zunächst die Dringlichkeit einer „Entgrenzung” Europas auf: Erstens könne die Geschichte Europas nicht mehr in sich abgeschlossen geschrieben werden. Zweitens sollte eine Historisierung der europäischen Integrationsgeschichte befördert werden, welche die Geschichte EU-Europas nicht mehr isoliert und nach innen gerichtet betrachte. Sie führte anhand einer Analyse des Palgrave Dictionary of Transnational History aus, dass Europa in der nordamerikanischen World History eine untergeordnete Rolle zukäme. Zwar hätten seit den 1940er Jahren Drittmittel für die Auseinandersetzung mit Europa bereit gestanden, dennoch fand die europäische Geschichte kaum Eingang in die nordamerikanische Weltgeschichtsschreibung.
Naumann führte aus, dass Weltgeschichte lange ein Bereich der Lehrerbildung gewesen sei und dabei auf die Vermittlung von Allgemeinwissen fokussiert habe. Ab den 1930er Jahren habe sie sich auf außereuropäische Regionen wie etwa Lateinamerika gerichtet. Ab dem Zweiten Weltkrieg wurde die Regionalwissenschaft ausgebaut – Europa sei dabei jedoch nicht zu einem Teilbereich der area studies geworden, sondern blieb für sich in den european studies; im Kontext der Eurozentrismuskritik hatten europäische Themen keine Priorität. Mittlerweile würden in den weltgeschichtlichen Analysen in den USA jedoch Europas Verflechtungen thematisiert.
Anschließend fragte Steffi Marung, wie man eine transnationale Geschichte Europas nach innen, quasi eine „binnentransnationalisierte Geschichte”, schreiben könne, die die Verflechtung Europas nach außen berücksichtige. Dazu analysierte sie die Geschichtsschreibung zur europäischen Integration in Bezug auf transnationale Fragestellungen. Sie betonte, dass die Kritik an der introvertierten Geschichtsschreibung Europas ernst genommen werden müsse.
Kritik an der Selbstreferentialität der europäischen Geschichtsschreibung.
Eine transnationale Geschichte Europas ließe sich zudem nicht ohne die Transformationsprozesse der letzten Jahrzehnte schreiben. Damit verwies sie auf die von Jürgen Osterhammel bereits kritisierte „internalistische Orthodoxie”, also die übertriebene Selbstreferentialität der europäischen Geschichtsschreibung. Auch wenn es in diesem Bereich schon Fortschritte gäbe, sei das Problem noch nicht vollständig beseitigt: Es gebe, so Marung, noch keine systematische Betrachtung der globalen Verflechtung und Grenzüberschreitung in der europäischen Geschichtsschreibung; gleichzeitig versuche sich Europa jedoch, vor allem in Form der EU-Institutionen, global neu zu definieren und als globaler Akteur zu positionieren.
Die europäische Integration sei bedeutend für die Zeitgeschichtsschreibung, da hier die Nachfrage nach einem europäischen Geschichtsbild formuliert würde. Zudem veranschaulichten die Institutionalisierung der Europäischen Union neue Grenzen und Erfahrungsräume Europas. Zudem zeigte Marung auf, wie im Journal of European Integration History in den letzten Jahren Europa in globale Prozesse eingebunden wurde und welche Rolle in den Beiträgen außereuropäische Prozesse und Akteure spielten.
Abschließend formulierte Marung drei Felder, die im Kontext der europäischen Integrationsgeschichte stärker berücksichtigt werden sollten: Erstens ein Nachdenken über „europäische Ergänzungsräume”, zweitens der Zusammenhang von europäischer Integration und außereuropäischer Dekolonisation sowie drittens die Forschung zu Themengebieten, die sich mit europäischen Grenzfragen oder europäischer Migration, also mit Fragen der Formierung Europas im Verhältnis nach außen, beschäftigen.
Abschließend kommentierte Michael Mann die vorausgegangenen Vorträge aus der Perspektive der Südasienwissenschaften.
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Gina Fuhrich
Karl Siegbert leitete die Vortragsreihe mit einer umfassenden Zusammenfassung über die vielfältigen Bedeutungen des Zustands des Tragens ein, der omnipräsent im menschlichen Leben ist. Allerdings ist der Transport schwerer Dinge, so Siegbert, hauptsächlich Frauensache, da auf sie das Schwere abgewälzt wird. Tragen an sich steht also auch in Verbindung mit der Sozialstruktur und der Hierarchisierung einer Gesellschaft. Überdies tragen Menschen nicht nur materielle Last, sondern auch psychische. Die Religion ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig.
* Screenshot der Website zum Forschungsprojekt
Die Menschen werden von Gott getragen oder tragen selbst religiöse Zeichen. Jesus trug das Kreuz und die Sünden der Welt. Zugleich ist das Tragen immer mit dem technischen Entlastungsprinzip verbunden, um das Transportieren von Lasten besser bewältigen zu können, wie beispielsweise Entlastung durch Kräne oder Verkehrsmittel. Dies führte zu einer erheblichen Verbesserung der menschlichen Lebensqualität und Energieersparnis. Selbst der Tod steht in Zusammenhang mit der Entlastungstendenz in der Redewendung „jemanden zu Grabe tragen”, also die rituelle Begleitung des Toten durch die Angehörigen. Des Weiteren gehört das Tragen von Kleidern als Statussymbol oder Schmuck in diesen Kontext. Außerdem kann der Mensch als Träger von Krankheit, Geheimnissen oder von Recht und Autorität fungieren.
Von tragbarer Kunst und der religiösen Dimension des Tragens
Sibylle Wolf stellte das Tragen von Schmuck, speziell von Frauenfiguren, in Europa vor ca. 40.000 Jahren dar. Hier unterschied sie einmal zwischen Wandkunst wie der Felsmalerei und der mobilen Kunst, also tragbarer Kunst, wie beispielsweise die berühmte Venus von Willendorf. Die Frauenfiguren wurden als Kettenanhänger genutzt, meist kopfüberhängend.
Maria Häusl betonte anschließend die religiöse Komponente des Tragens. Anhand von Bibelausschnitten belegte sie das Motiv des tragenden Gottes. Jesaja trägt hier sein Volk (Israel). Es besteht also eine Art Eltern-Kind Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Agostino Paravicini Bagliani knüpfte daran an und beschrieb den Papst als Träger göttlicher Autorität. Der Papst trägt besondere Kleidung sowie symbolische Artefakte und erhält dadurch seinen Status und seine Autorität. Gleichzeitig ist er Träger der Kirche und Stellvertreter Christi.
Warenträger des Mittelalters wurden zwar schlecht bezahlt, hatten aber eine politische Stimme in den Städten.
Sabine von Heusinger nahm Bezug auf die Warenträger im Mittelalter. Diese teilt sie in zwei Gruppen ein: Träger mit und ohne Hilfsmittel, die vor allem im Baubetreib aber auch für den Transport der städtischen Waren zuständig waren. Beliebte Hilfsmittel waren unter anderem Eimer, Tragestock, Trage, Karren oder Schubkarre. Die Warenträger waren ein wichtiger Faktor in der mittelalterlichen Gesellschaft und unabdingbar für den Warenverkehr. Obwohl sie meist ein eher niedriges Einkommen bezogen, hatten sie aufgrund ihrer Bedeutung trotzdem eine politische Stimme in den Städten.
Tragen als Bestrafung: Schandsteine oder Lästersteine
Tragen wurde im Mittelalter allerdings auch als Strafe angesehen. Jörg Wettlaufer stellte in seinem Vortrag die Schandsteine vor. Diese mussten zur Strafe von Frauen von einer zur anderen Stadt um den Hals getragen werden und wogen zwischen 12-50 Kilo. Die Strafe wurde vor allem in Mitteleuropa zwischen dem 12-17. Jahrhundert verhängt. Eingesetzt wurde sie bei Schmähungen, Beleidigungen oder Streit unter Frauen. Der Vollzug der Strafe war öffentlich. Später wurde sie auch für Männer verhängt, die sich des Betrugs oder Diebstahls schuldig gemacht hatten. Der Ursprung dieser Strafe liegt wahrscheinlich bei der Harmschar (dem Hundetragen im Mittelalter). Durch diese Strafe sollte der Frieden zwischen den beiden Frauen hergestellt und eine Besserung erreicht werden. (* Auf dem Foto sind sog. Schand- bzw. Lästersteine zu sehen, die um den Hals getragen werden mussten.)
Das Tragen als Strafe gab es aber auch im 20. Jahrhundert durch die Zwangsarbeit. Peter Steinbach erklärte eindrucksvoll, wie 1933 ein Bruch in der Bedeutung von Arbeit zu verzeichnen ist. Früher wurde Arbeit in der Gesellschaft hoch angesehen, nun galt sie unter den Nazis als Disziplinierungsmaßnahme. Die Zwangsarbeit steht in Verbindung mit der Rassenideologie, die Tragen als Symbol der Minderwertigkeit darstellte. Die Zwangsarbeiter wurden aus der Gesellschaft ausgeschlossen und als wertlos bezeichnet, also durch die Arbeit entwürdigt. Es galt der Leitspruch: Vernichtung durch Arbeit. Heute sind die Opfer jedoch Vorbilder, da sie würdevoll ihre Last trugen und somit den damals Mächtigen die Grundlage entzogen, über sie triumphieren zu können.
Johannes Paulmann thematisierte den Kolonialismus und arbeitete eine interessante Ambivalenz heraus. Einerseits trugen die Kolonisierten gezwungenermaßen Lasten und Waren für die Kolonisatoren und andererseits musste der „weiße Mann” die Bürde tragen, die Zivilisation gegen den Willen der Indigenen voranzutreiben.
Die Gender-Dimension des Tragens
Sigrid Schmitz forscht im Bereich Gender Studies und zu dem Thema, welche Auswirkungen das Geschlecht auf den Zustand des Tragens hat. Es gibt vier Hauptnarrationen, wie sich der Mensch entwickelt und seine Fähigkeiten ausgebildet hat, die alle auf den gleichen Befunden basieren. Die erste Theorie besagt, dass die Männer für das Jagen und die Frauen für die Kinderaufzucht und das Sammeln zuständig waren. Eine andere Theorie geht wiederum davon aus, dass durch die enge Mutter-Kind-Beziehung die Gesellschaft teilen und sammeln lernte und somit die kognitiven Leistungen ausbilden konnte. Desweiteren gehen einige Theoretiker von einer monogamen Kleinfamilie aus, in der der Mann für die Nahrungsbeschaffung und die Frau für die Kinderaufzucht zuständig ist. Die vierte Theorie besagt, dass der Mensch ein Aasfresser war und somit keine geschlechtliche Arbeitsteilung notwendig war. Schmitz arbeitete heraus, dass die gleichen Befunde abhängig von der Zeit anders interpretiert werden, da die Wissenschaft den heutigen Zustand auf früher projiziert. So werden in den Grafiken, die unsere Vorfahren illustrieren sollen, die Frauen mit Kind dargestellt und die Männer beispielsweise mit einem Werkzeug.
Gina Fuhrich studiert Mittlere und Neuere und Neueste Geschichte und Ethnologie an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Philipp Meller
Welche Rolle spielten Clan-Strukturen bei der Vergabe von Posten in den ehemaligen sozialistischen Staaten Osteuropas und inwieweit unterliefen sie dabei die offiziell propagierten Hierarchien?
Jens Gieseke, Projektleiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, führte mit kurzen Überlegungen in die Problematik der Sektion mit dem Titel „Clan-Strukturen und Policy-Akteure. Die Machtzentralen der staatssozialistischen Parteien zwischen Poststalinismus und Perestroika” ein. Indem Gieseke behauptete, die äußere Homogenität der hierarchischen Strukturen sei nur eine Requisite der staatlichen und parteiinternen Organisationen, warf er bereits eine nicht unumstrittene These in die Runde der versammelten Referenten. Weiter umriss der Leiter der Sektion eine der Hauptfragen des Vormittags: Welche Rolle spielten Clan-Strukturen bei der Vergabe von Posten in den ehemaligen sozialistischen Staaten Osteuropas und inwieweit unterliefen sie dabei die offiziell propagierten Hierarchien?
* Die Referenten und der Leiter der Sektion „Clan-Strukturen”, Jens Gieseke (rechts), Foto: Philipp Meller
Der Wandel sowjetischer Personalpolitik
Zunächst widmete sich die schon lange mit der Geschichte und den Spannungen Osteuropas vertraute Susanne Schattenberg dem Übergang des von brutaler Gewalt beziehungsweise Unberechenbarkeit geprägten Führungsstils Josef Stalins und Nikita Chruschtschows zur liberal und konsensual wirkenden Personalpolitik Leonid Breschnews. Letzterer markierte laut Schattenberg einen neuen Typus des sowjetischen Regierungschefs. Die erfolgreiche Durchsetzung seines Willens bei der Besetzung von wichtigen Posten innerhalb der kommunistischen Partei- und Staatsorganisation kann allerdings nur vor dem Hintergrund der Praxis seiner Vorgänger treffend bewertet werden.
Breschnew verkörperte einen neuen Typus des sowjetischen Regierungschefs.
Bereits Chruschtschow beendete die totalitäre Herrschaftsausübung Stalins, begründete selbst jedoch zunächst ein eigenes Patronagesystem. Hierbei förderte er vielversprechende Talente der Partei und übergab ihnen wichtige Posten. So begann auch Breschnew seine Karriere als politischer Ziehsohn des Generalsekretärs. Als Chruschtschow dann jedoch – auch für die heutige Forschung überraschend – seine Politik änderte, ehemals geförderte Partner fallen ließ, Vergünstigungen abschaffte und weitere Umstrukturierungen im Staatsapparat vornahm, wandten sich viele Parteigenossen gegen den Regierungschef. Der Sturz Chruschtschows im Jahr 1964 erfolgte demnach auch nicht, wie oft behauptet, aufgrund seiner außenpolitischen Misserfolge. Vielmehr lag die Motivation des Zentralkomitees darin begründet, der willkürlichen Personalpolitik ein Ende zu machen und damit auch die eigenen Laufbahnen der Funktionäre nicht zu gefährden.
Breschnew, der Chruschtschow nachfolgte, wollte nach den extremen Führungspraktiken seiner beiden Vorgänger eine Phase der Ruhe einleiten. Obwohl er stets vermittelnd und weniger autoritär wirkte, gelang es ihm, mit Beharrlichkeit, Überzeugungsarbeit und vor allem viel taktischem Verhandlungsgeschick nach und nach die „kollektive Führung” nach seinem Willen umzugestalten. Dabei sorgte er sich auch um alte Bekannte und Genossen aus seiner Heimat Dnjepropetrowsk. Als er schließlich mit Hilfe seiner Anhänger erreichte, dass das Amt des Obersten Sowjets, dem rechtlichen Staatsoberhaupt der UDSSR, mit dem des Generalsekretärs zusammenfallen sollte und ihm wie geplant angetragen wurde, stellte er sich vor dem so entmachteten und fassungslosen Podgorny ahnungslos und entgegnete ihm ruhig: „Das Volk scheint es so zu wollen.”
Als zweiter Referent griff Francesco di Palma die Verbindungen der SED aus der Deutschen Demokratischen Republik mit anderen kommunistischen Vereinigungen in Europa auf. Sein Vortrag wandte sich eher an ein fachkundiges Publikum, da die Betrachtungen über Akteure, Funktionsweisen und Probleme der Thematik ein gewisses Maß an Vorwissen voraussetzten. Fazit seiner im Kommentar von Christoph Boyer hochgelobten Überlegungen war, dass die Führung der SED meist aus rein taktischen Gründen keine Beziehungen zu anderen kommunistischen Organisationen in Europa wünschte und dem sogenannten Eurokommunismus über lange Zeit ablehnend gegenüber stand.
Spannungen und Konflikte zwischen den sozialistischen Bruderstaaten.
Der gebürtige Rumäne Petru Weber vertiefte einen weiteren Aspekt der zwischenstaatlichen Beziehungen im ehemals sozialistischen Osten Europas und zeigte damit, dass sich diese keinesfalls immer partnerschaftlich ausdrückten, sondern auch erhebliche Spannungen beinhalten konnten. Als Beispiel wählte er dabei die Konflikte zwischen den kommunistischen Führungen Ungarns und Rumäniens. Gerade Nicolae Ceaușescus Assimilationspolitik beleuchtete Weber kritisch. Hier stellte er heraus, dass die rumänische Führung mit den Maßnahmen zur Homogenisierung der Bevölkerungsgruppen vielmehr eine Steigerung und Vereinheitlichung des öffentlichen Patriotismusgefühls verfolgte, anstatt einen Hass auf die ungarische Minderheit in Rumänien zu schüren.
Als letzter Referent ging Rüdiger Bergien aus Potsdam in seinen sehr vertiefenden Ausführungen auf die Kontrollmaßnahmen der SED gegenüber auffälligen Parteiorganen ein. Hierfür wurden eigens Brigadeeinsätze durchgeführt. Allerdings zielte man dabei nicht auf starke Repressionen gegen auffällige SED-Mitglieder, sondern versuchte, der in manchen Parteigruppen festgestellten „Verspießerung” und „kleinbürgerlichen Bequemlichkeit” entgegenzuwirken. Die Parteifunktionäre aus der zweiten Reihe vermissten oft bei ihren Parteigenossen den sogenannten „proletarischen Habitus” und ordneten dann die besagten Einsätze an.
Beispiel China noch unverdaut
Bevor er in einem differenzierten und kritischen Kommentar auf die einzelnen Vorträge einging, leitete Christoph Boyer von den dargestellten Clan-Strukturen eine eigene Überlegung ab. So sei die scheinbare Homogenität innerhalb der sozialistischen Machtstrukturen wie von Gieseke zu Anfang erwähnt durchaus brüchig, allerdings betonte Boyer auch, dass im Vergleich zu den elastischen und viel dynamischeren westlichen Gesellschaftsstrukturen die Hierarchien in den sozialistischen Staaten schon per se eine viel stärkere Homogenität aufwiesen. Wie das Beispiel Chinas mit seinen starren Machtstrukturen und zugleich einer marktorientierten, boomenden Wirtschaft mit dieser These zu verbinden sei, blieb hingegen auch Boyer ein Rätsel, der im Hinblick auf diesen Ausnahmefall von einer „irren Entwicklung” sprach, die er theoretisch noch nicht verdaut habe.
Philipp Meller hat Geschichte und Religionswissenschaft in Heidelberg studiert und beginnt in Kürze ein Masterstudium in Geschichte. |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Carlos A. Haas
Das Historikertags-Panel „Krisenwahrnehmungen und gesellschaftlicher Wandel in den 1970er und 1980er Jahren in transatlantischer Perspektive” machte deutlich, dass es sich bei der Krise zu Beginn des 21. Jahrhunderts weder um ein singuläres Ereignis handelte, noch die konkrete politische Situation als deren alleiniger Auslöser anzusehen ist. Vielmehr sei das transatlantische Verhältnis noch nie völlig krisenfrei gewesen. Den 1970er Jahren käme hierbei die Rolle einer Epochenwende zu, was dann in den 1980er Jahren zu qualitativen Änderungen geführt habe.
* Die NATO bildet den sicherheitspolitischen Kern des transatlantischen Verhältnisses. Hier ein Foto des NATO-Gipfeltreffens zum 50. Jahrestags des Bündnisses 1999.
Der erste Beitrag stammte von Ariane Leendertz, die das Panel konzipiert und organisiert hatte. Ariane Leendertz arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München und kann auf Lehrtätigkeiten an verschiedenen renommierten Hochschulen der USA zurückblicken.
Die vermeintliche oder tatsächliche Krisenhaftigkeit hat verschiedene (kulturelle, politische, wirtschaftliche) Dimensionen, die unterschieden werden können.
Mit Blick auf die Zeit von 1969 bis 1979 stellte sie die Frage, inwiefern die diesem Zeitraum sowohl von den Zeitgenossen als auch von der Nachwelt zugesprochene Krisenhaftigkeit sich auf ideelle und kulturelle Aspekte der transatlantischen Beziehungen auswirkte. Ausgehend von der Situation in den Vereinigten Staaten arbeitete sie in einer virtuosen Analyse die Wechselwirkungen von zeitgenössischer Krisenrhetorik und Krisenbewusstsein heraus, die mit internationalen bzw. globalen Verhältnissen korrespondierten.
Zbigniew Brzezinskis Buch „Between Two Ages – The Technotronic Era” aus dem Jahr 1971 führte sie in diesem Zusammenhang als Beispiel für die Wirkmächtigkeit von Gesellschaftstheorien im Hinblick auf Reflexionen über die Verhältnisse der Zeit an. Unterschiede in den Bewältigungsversuchen der Krise „hüben und drüben”, also in den USA und der Bundesrepublik, sah sie vor allem im jeweiligen Verhältnis zur Vergangenheit.
Als langjähriger und ausgewiesener Experte referierte anschließend Michael Geyer (Chicago) über die politische Ökonomie Europas und der USA in der Zeit von 1979 bis 2009. Er diagnostizierte für die Vereinigten Staaten eine radikale Redifferenzierung ihrer Binnenstruktur sowie eine massive Verschärfung von Ungleichheit. Ähnlich wie Leendertz sah er das Element der Zukunftsgewinnung als Unterscheidungsmerkmal von Europa einerseits und USA andererseits. Für Europa, genauer gesagt für Kontinentaleuropa, machte er die Peripherisierung prekärer Verhältnisse als Epochencharakteristikum aus. Die abweichenden Reaktionen auf den „shock of the global” seien, so Geyer, tatsächliche, nicht nur konstruierte Unterschiede.
Zwischen Krise und Kommerz
Einen kulturgeschichtlichen Ansatz vertrat im folgenden Referat Philipp Gassert (Augsburg), der die Verarbeitung der Nuklearkrise der 1980er Jahre in den Medien untersuchte. Mit zahlreichen anschaulichen Beispielen aus der Popkultur (Nicole: „Ein bisschen Frieden”, Udo Lindenberg: „Wozu sind Kriege da?”) zeigte er nicht nur das Spannungsverhältnis von Angst vor einem Atomschlag und deren Kommerzialisierung auf, sondern wies auch auf die Stellvertreterfunktion der Auseinandersetzung über Krieg und Frieden hin. Der zuvor differenziert und mit hohem Komplexitätsgrad geführte Krisendiskurs wurde auf diese Weise, so Gassert, vereinfacht und zugespitzt und eignete sich nun als orientierungsstiftende Größe mit narrativer Struktur. Dass dieses Narrativ eine starke mediale Komponente besaß, sei ein Beweis für den Wandel der Gesellschaft in eine Mediendemokratie, der bereits vor der flächendeckenden Einführung des Internets eingetreten sei.
In den 1980er Jahren kann in Westdeutschland eine Welle des Antiamerikanismus diagnostiziert werden, die als Teil eines Viktimisierungsdiskurses gelesen werden kann.
Sozialgeschichtlich argumentierte Holger Mehren (Oxford), der sich mit der westdeutschen Friedensbewegung und der Krise der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft befasste. Er verortete die Bewegung im Rahmen eines Viktimisierungsdiskurses, wie er in der ganzen BRD stattfand. Außerdem thematisierte er die Kategorie des Antiamerikanismus, der in der Auffassung US-amerikanischer Politik als konkrete Bedrohung für Deutschland und die Welt gegipfelt habe. Das vor den 1980er Jahren noch weitestgehend intakte Sicherheitsbündnis, das den USA vor allem militärische, der BRD wirtschaftliche Sicherheitswahrung zugewiesen habe, sei aufgrund der Auswirkungen der deutschen Erfahrungen mit massiver Gewalt im Laufe des 20. Jahrhunderts und der daraus resultierenden Ablehnung kriegerischer Politik in eine Krise geraten. Auch wenn diese in den 80ern noch nicht den politischen Bereich erreicht habe, so könne sie deshalb keineswegs negiert werden.
Die Sektion fand in den beiden brillanten Kommentaren von Uta Balbier (Washington) und Adelheid von Saldern einen Schlusspunkt. Balbier und Saldern begrüßten die Vielfalt der in den Vorträgen angewandten Ansätze, insbesondere die kulturwissenschaftlichen Herangehensweisen. Sie forderten eine differenziertere Verwendung der Begrifflichkeiten, in Sachen kulturwissenschaftlicher Methode plädierten sie für eine stärkere Einbeziehung der Kategorie „Emotionen”. Uta Balbier spitzte ihre Anmerkungen auf zwei Kernfragen zu:
Zunächst fragte sie, inwiefern die wissenschaftliche Wahrnehmung der 1970er und 1980er Jahre in einer Wechselwirkung mit der zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Methodik stünde und wie diese Wechselwirkung zu bewerten sei.
Sodann stellte sie den Begriff „der Westen” zur Diskussion und fragte, ob es sich hier nicht eher um ein Narrativ der – wiederum zu hinterfragenden – westlichen Wertegemeinschaft handle. Frau von Salbern machte auf die Ungleichzeitigkeit von Diskursen und Handlungen aufmerksam und kritisierte den Krisenbegriff als eventuell zu normativ.
Die leider nicht nach den einzelnen Vorträgen, sondern erst ganz am Ende des Panels stattfindende Diskussion zeichnete sich durch viele interessante Anfragen aus. Auf einer Metaebene ergab sich die Frage, inwieweit Zeithistoriker die eigene Zeitzeugenschaft ausblenden könnten und müssten, oder ob bei der Wahl eines alternativen Zugangs die Zeitzeugenschaft gar als unschätzbarer Vorteil anzusehen sei.
Die Sektion unter der souveränen und charmanten Leitung von Christoph Mauch (LMU München) war aufgrund der vielen grundsätzlichen Fragen, die hier thematisiert wurden, sicherlich eine der spannendsten des 48. Historikertags.
Carlos A. Haas, Student an der Universität Heidelberg (Musikwissenschaft, Mittlere und Neuere Geschichte). |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Bernhard Schell
Die Sektion wurde von Dr. Felix Ackermann moderiert. Er machte deutlich, dass der Prozess der Erinnerung eine kulturwissenschaftliche Neuausrichtung in Gang bringt. Mit dem Ableben der Erlebnisgeneration besteht zudem die Notwendigkeit, das Erfahrene in den zukünftigen Generationen zu verankern. Dabei muss aber vermerkt werden, dass der Integrationsprozess in der Europäischen Union keine homogene Erinnerungskultur kreiert, sondern sich diese Erinnerungskultur auf nationaler Ebene ereignet.
* Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, inzwischen Teil der bundesdeutschen Erinnerungskultur.
Europa der Gedächtnisse
Frau Professor Waltraud Schreiber (Eichstätt) machte in ihrem theoretischen Teil deutlich, dass ein Europa der Gedächtnisse existiert, d.h. es müssen deshalb auch die unterschiedlichen Narrationen in den Blick genommen werden und ihr nationaler Stellenwert geklärt sein. Vergangenheit gilt es zu rekonstruieren und auf die Gegenwart und Zukunft eines Landes zu beziehen. An vier Projektbeispielen sollte dies nun verdeutlicht werden.
Formen und Inhalte nationaler Erinnerungskulturen unterscheiden sich naturgemäß deutlich voneinander.
In einem ersten Durchgang berichtete Bernd Robionek (Berlin) über Räumliche Erinnerungskultur in Dalmatien in der Region Split zwischen Partisanenkult und Nationalstaatlichkeit. Die Jahre 1945 und 1991 stellten tiefe Zäsuren in der kroatischen Geschichte dar. Kroatien war im Zweiten Weltkrieg tief gespalten. Deshalb brauchte es die Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand, den Partisanenkult, um das Land nach 1945 wieder zu einen. Denkmäler nationaler „Helden” und Opfer der gegnerischen Gewalt waren Ausdruck dieser neuen Narration.
Auffällig ist, dass diese mit dem sich abzeichnenden Ende der Tito-Ära nochmals zunahmen. Mit der kroatischen Selbstständigkeit Anfang der 90er Jahre rücken diese Gedenkstätten zunehmend in den Hintergrund und werden durch die Gründungsväter des neuen Kroatiens, vor allem Franjo Tudjman, ersetzt. Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entfällt allerdings. Die kroatisch-faschistische Ustascha verkümmert deshalb zu einem Produkt serbischer Propaganda.
Frage eines jungen Kroaten: „Warum lassen die Deutschen ihre sozialistischen Denkmäler verrotten?”
Ein daher nicht überraschendes Ergebnis zum Schluss: Das Forschungsprojekt stieß auf nur wenig Verständnis unter den Kroaten aller Altersschichten. Ein junger Kroate: „Warum lassen die Deutschen ihre sozialistischen Denkmäler verrotten?”.
Einen zweiten Projektbericht stellte Frau Stephanie Herold über Erinnerungskonstruktionen im Raum Skopje (Makedonien) vor. Die Hauptstadt Skopje ist ethnisch zweigeteilt. 24 % Albaner stehen 76 % Makedonen gegenüber. Erst in neuerer Zeit greift man wieder auf den Gedanken der Denkmäler zurück und plant Statuen von Alexander dem Großen und neue orthodoxe Kirchen. Beides provoziert aber zurzeit den Widerstand der Bevölkerung.
Frau Professor Dr. Rasa Balockaite (Kaunas) referierte in ihrem auf Englisch gehaltenen Vortrag über die Ergebnisse eines litauisch-weißrussischen Teams über städtische Erinnerungslandschaften in Vilnius, Minsk und Kiew. Grundlage war das Studium alter Landkarten aus unterschiedlichen Epochen. Auffallend war, dass neben den üblichen Kategorien wie vorsowjetisch, sowjetisch und nachsowjetisch Vilnius ca. 25% Blumen- oder Tiernamen für seine Straßen gewählt hat. Selbst während der Zeit der sowjetischen Besetzung nach 1945 gab es nur wenige Straßennamen von kommunistischen Helden, die alle stillschweigend noch am Ende der Sowjetära umbenannt wurden.
Minsk ist auch noch heute von sowjetischen Namen und sowjetischer Kultur geprägt. Sie bilden einen wichtigen Bestandteil der nationalen Identität. In der Ukraine ist dies ähnlich, allerdings gibt es auch Rückgriffe auf die eigene Geschichte, so z.B. auf den ukrainischen Freiheitshelden Stefan Bandera in der Westukraine.
Die Festung Brest
Den Höhepunkt, sowohl inhaltlich als auch emotional, stellte der Vortrag von Christian Ganzer und Frau Dr. Alena Pashkovich über die Festung Brest und ihre museale Repräsentation als Mythos dar. Die heldenhafte Verteidigung der Brester Festung ist ein wichtiges Moment des Mythos des „Großen Vaterländischen Krieges” Stalins. Er wurde vor allem in den 50er und 60er Jahren entwickelt. Dieser Mythos soll von den Katastrophen gerade in der Anfangszeit des deutsch-sowjetischen Krieges ablenken. Dieser „heroische Kampf bis zur letzten Patrone” wird perfekt inszeniert und auf 32 Tage bis zur Kapitulation des Major Gavrilov zelebriert. Die Verteidigung des Brester Forts wird somit zum ersten Schritt des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. (* Teil der Erinnerungskultur waren u.a. auch Briefmarken, vgl. rechtes Bild.)
Die Schwächen springen ins Auge: Von den 9000 Rotarmisten des Forts gehen 6000 in Gefangenschaft. Die Überlebenden werden zu Verrätern stigmatisiert, verschwinden im Meer des heroischen Heldentums, werden totgeschwiegen. Auch in Belarus, das bereitwillig diese Narrative weiterpflegt, bekommen sie keine Stimme. Im Gegenteil, der „Kult” ist allgegenwärtig für die weißrussische Bevölkerung und dient wie selbstverständlich zur Herrschaftslegitimation der herrschenden Klasse.
Erst mit der Öffnung weiterer Archive entsteht ein differenzierteres Bild: Die Belagerung kann gar nicht so lange gedauert haben, da die deutschen Truppen schon am 05. Juli 1941 weitermarschieren. Die verbleibenden Deutschen beginnen den Massenmord an Juden und missliebigen Russen. Auch der Missbrauch des Begriffs des Helden/Märtyrers wird heute in der weißrussischen Gesellschaft klarer gesehen. Allerdings ist dies ein schmerzhafter Prozess, gibt es doch in fast jeder Familie Opfer des Zweiten Weltkriegs zu beklagen. Existentiell spürbar war dies bei den beiden Referenten, vor allem bei Frau Pashkovich.
Frau Prof. Dr. Monika Flacke (Berlin, Oldenburg) kommentierte die beiden letzten Vorträge. Die in den Vorträgen rekonstruierten Narrative bilden die Grundsäulen einer Nation. Will man sie dekonstruieren, dann bedarf es Alternativen, eines Paradigmenwechsels. Weißrussland tut sich hier schwer, kann es doch nicht auf die Vorkriegszeit zurückgreifen.
Erinnerungskulturen bilden die Grundsäulen einer Nation.
Dank sei der Stiftung „Erinnerung – Verarbeitung – Zukunft” und dem Institut für angewandte Geschichte, die diese Projekte finanziell ermöglichen und damit einen wichtigen Beitrag zur Friedensarbeit leisten. Weitere Informationen zu vergleichbaren Projekten kann man unter www.geschichtswerkstatt-europa.org nachlesen.
Bernhard Schell ist Oberstudienrat für die Fächer Geschichte und Religion am Hohenstaufen-Gymnasium Eberbach. |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Martin Stallmann und Carlos A. Haas
Das Medium Poster birgt spezifische Probleme, bietet aber auch Vorteile. Aus den Naturwissenschaften kommend und seit einigen Jahren zunehmend in den Geisteswissenschaften beachtet, liegt sein größter Vorzug unbestreitbar in der Breitenwirkung, die es entfalten kann. Sitzen in Vorträgen vielleicht 100 Zuhörer, so ist es – zumindest theoretisch – möglich, dass eine vielfache Menge an Interessierten die Poster sieht und so einen Einblick in die jeweiligen Arbeiten erhält. Das Medium Poster eignet sich also als Multiplikator, was gerade für junge Wissenschaftler von entscheidender Bedeutung sein kann.
* Das Foto zeigt Niels Petersen bei der Preisverleihung.
Das Medium Poster eignet sich also als Multiplikator.
Andererseits gilt es, Schwierigkeiten zu umschiffen, die aus der besonderen Form des Mediums erwachsen. Die Reduzierung komplexer Inhalte, vielschichtiger Zusammenhänge und kontroverser Forschungsmeinungen auf ein DIN A 0 Poster ist heikel und stellt besondere Anforderungen. Es sind mehrere Ebenen, die hier zu erkennen, zu unterscheiden und letzten Endes dennoch zu einem großen und vor allem schlüssigen Ganzen zusammenzufügen sind.
Da wäre zunächst einmal die visuelle Ebene: Die Aufmerksamkeit des potentiellen Betrachters muss erst gewonnen werden, wobei ein origineller, farblich ansprechender Eye-Catcher ausschlaggebend ist. Idealerweise wird bereits auf dieser Ebene ein thematischer Bezug hergestellt, der das jeweilige Thema attraktiv und spannend erscheinen lässt und Lust auf mehr macht.
Wissenschaftliche Poster sind eine Kunst für sich. Visualisierung und Komplexitätsreduktion sind gefragt.
Ist der Betrachter solchermaßen auf das Poster aufmerksam geworden, greift die zweite Ebene: Ausgangslage, Erkenntnisziele und erste Thesen müssen in zwei bis drei Sätze wiedergegeben werden. „In der Kürze liegt die Würze” – das klingt einfach, ist aber bei näherer Betrachtung sehr schwer. Die Schnittstelle von Visualisierung und Reduzierung sind die Textelemente eines Posters. Die Schrift darf nicht zu klein sein, weil das Lesen sonst Mühe bereitet. Es können aber auch nicht nur einige wenige plakative Sätze in der „richtigen” Schriftgröße auf dem Poster platziert werden, wenn dadurch die Hälfte des Inhalts wegfällt.
Aus dem – letzten Endes zwar irgendwie banalen, aber eben doch gravierenden – Problem des Platzmangels ergibt sich das sprachliche Problem: Die Sprache soll verständlich sein, ohne Inhalte allzu sehr zu verkürzen.
Poster als Balanceakt
Das Poster ist also ein Paradebeispiel für die ständige Balance zwischen Wissenschaftlichkeit und ihren entsprechenden Standards auf der einen Seite und den Gesetzen medialer Vermittelbarkeit auf der anderen. Dieser Balanceakt wird in einer Geschichtswissenschaft, die immer aktiver und bewusster den Kontakt mit der außeruniversitären Öffentlichkeit sucht, immer konstitutiver.
Die auf dem aktuellen Historikertag ausgestellten Poster decken zeitlich eine Spanne von der Antike bis zur Gegenwart ab. Interessant sind aber die Proportionen: Ein Poster zu einem Thema aus der Antike und zwei aus der mittelalterlichen Geschichte stehen sieben Postern über Projekte, die sich mit der Frühen Neuzeit beschäftigen, entgegen. Alle drei Bereiche rangieren weit abgeschlagen hinter Arbeiten, deren Gegenstand die Zeit ab etwa 1880 ist: Siebenundzwanzig (!) Poster beschäftigen sich mit Themen aus der Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts!
Themen aus der Antike oder der Frühen Neuzeit waren Mangelware.
Eine Vermutung drängt sich hier sehr schnell auf: Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zwischen Forschungsgegenstand und der Vertrautheit oder Offenheit mit bzw. für Präsentationstechniken. Die Zeit seit 1880, also die Zeit, seit der Photographien in umfassender Weise bei der Medialisierung der Gesellschaft von Bedeutung sind, ist hierbei besonders präsent.
Aber auch die historischen Abschnitte vor dem Zeitalter der Photographie können gelungen auf einem Poster präsentiert werden. Der Beitrag von Niels Petersen (Universität Göttingen) soll als ein Beispiel für die vertretenen Poster auf dem Doktorandenforum dienen. Die Darstellung von Petersens Dissertationsprojekt „Extra muros. Die Stadt und ihr Ausgreifen auf den Nahbereich im späten Mittelalter: Das Beispiel Lüneburg” würdigte die Jury zudem mit dem 3. Platz. Petersen stellt in seiner Dissertation die Frage, „wie die spätmittelalterliche Großstadt den an die Mauer angrenzenden Raum erschloss und welche herrschaftliche, wirtschaftliche, soziale und symbolische Bedeutung die der Stadt zuzurechnenden Bauten in der ‚Stadtgemarkung’ besaßen”. Gekonnt findet er die Balance zwischen Visualisierung und Wissenschaftlichkeit. So erfährt der geneigte Betrachter, dass als Quellengrundlage seiner Arbeit das so genannte Lüneburger Baubuch dient, in dem die Bauausgaben der Stadt für das Umland angegeben sind, neuere geographische und raumsoziologische Ansätze zudem die methodische Basis seiner Arbeit bilden.
* Das Poster von Niels Petersen landete auf dem 3. Platz.
Die Gerda-Henkel-Stiftung förderte das Doktorandenforum des Berliner Historikertags und bot somit Promovierenden eine Plattform, noch in der Bearbeitung befindliche Dissertationsprojekte vorzustellen. Die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen dem Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands und der Gerda-Henkel-Stiftung machte dieses für den wissenschaftlichen Nachwuchs so wichtige Forum möglich.
Die Preisträger des Doktorandenforums:
* Julia Bruch, die Gewinnerin des 1. Preises, vor ihrem prämierten Poster.
Martin Stallmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. |
Carlos A. Haas, Student an der Universität Heidelberg (Musikwissenschaft, Mittlere und Neuere Geschichte). |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Thomas Geier und Philipp Meller
In seiner Einleitung konnte Andreas Eckert vom Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität Berlin von einem Aufschwung der Globalgeschichte berichten. Ihre immer größere Popularität schlage sich vor allem in der häufigen Erwähnung in Zeitschriften und Journalen nieder. Eine generelle Definition des Begriffs wollte er allerdings nicht geben.
* Blick in den überfüllten Hörsaal der Sektion “Neue Wege der Globalgeschichte” (Foto: Philipp Meller)
Geschichtswissenschaft immer noch europäisch-nordamerikanisch dominiert
Im ersten Vortrag legte Dominic Sachsenmaier dar, dass die Globalgeschichte unter einem sehr starken Eurozentrismus leide. Das hänge schon damit zusammen, dass bereits in den Schulen hauptsächlich US-amerikanische und europäische Geschichte unterrichtet werde. Auch an den Universitäten gehe der Blick kaum über den westlichen Horizont hinaus. Dennoch sei Globalgeschichte nicht monopolisiert. Gerade in Lateinamerika und Ostasien sind steigende Forscherzahlen zu verzeichnen. Ein gewisses Ungleichgewicht herrsche laut Sachsenmaier trotzdem. So sind beispielsweise im Jahr 2007 dreizehnmal mehr Bücher vom Englischen ins Chinesische übersetzt worden als anders herum.
Noch bleiben die Beiträge des aufstrebenden asiatischen Raums häufig unberücksichtigt.
Eine ähnliche Relation lässt sich auch bei den Studienaufenthalten feststellen. Das sei wiederum auf einen Absolutheitsanspruch zurückzuführen, den die westlichen Räume beanspruchen: Immer noch sei es möglich, eine Weltgeschichte nur mit anglo-amerikanischer und europäischer Literatur darzustellen, ohne die aufstrebenden Forscherregionen in Asien berücksichtigen zu müssen. Auch das ist ein Grund, weshalb beispielsweise in China rund 40% der Historiker als Globalhistoriker zu bezeichnen sind. Weil jedoch die Weltgeschichte immer noch vom Westen dominiert werde, beschäftigen sich diese hauptsächlich mit europäischer und US-amerikanischer Geschichte. Erst nach und nach erlange auch die Geschichte anderer Regionen wie Süd- und Ostasien oder Afrika immer mehr an Bedeutung. Dabei werde die Forschung gekennzeichnet von nationalorientierten Historikern wie Afrikanisten und Lateinamerikanisten, denen in der Globalgeschichte eine wichtige Rolle zukäme.
Globale Kommunikationsströme: Die Welt rückt zusammen
Durch neue Kommunikationswege wurde die Geschichtsschreibung stark beeinflusst. Neue Fragestellungen und Debatten prägen die Globalgeschichte heute. Auf die Anregung einer Lektorin, Sammelbände mit globalhistorischer Perspektive herauszugeben, um die Geschichte anderer Erdteile populärer zu machen, reagierte Sachsenmeier angetan und meinte, er könne sich dies versuchsweise sehr gut vorstellen. Allerdings glaube er, dass der Absatz in Deutschland nicht groß genug wäre, um ein solches Vorhaben wirtschaftlich umsetzen zu können.
Sebastian Conrad nahm das Thema des bereits von Andreas Eckert erwähnten Aufschwungs der Globalgeschichte auf und bezeichnete den aktuellen Trend der Forschung als wahre Goldgräberstimmung. Die Geschichte verschiedener Bereiche werde laut Conrad immer häufiger auch aus globalgeschichtlicher Perspektive betrachtet.
Globale Handelsbeziehungen als Schrittmacher
Nach dieser positiven Einschätzung ging er auf die für die Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts spezifischen Ereignisse ein. Neben der globalen Vernetzung war vor allem die Herausbildung globaler Funktionszusammenhänge wie Handelsbeziehungen der wichtigste Teil der globalen Integration. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war die Welt zwar vor allem regional geprägt, gewann zugleich jedoch an immer stärkerer Vernetzung. Erst nach und nach entwickelte sich damit eine sogenannte globale Gleichzeitigkeit.
Während dieser Zeit kam es auch zum kulturellen Imperialismus. Die sich immer mehr vermischenden Kulturen lagen in einem großen Spannungsverhältnis zueinander. Mit Gewalt wurden asiatische Kulturen unterdrückt und unter Zwang die westliche Kultur verbreitet. Sebastian Conrad sprach dabei sogar von einem kulturellen Genozid. Nach der Vorstellung verschiedener Konzepte, die die Ausrichtung Asiens im 19. Jahrhundert zu definieren versuchten, ging Conrad auf den Begriff der Globalen Moderne ein. Hierbei ist nicht der Ursprung von Deutungsmustern wesentlich, sondern die Frage nach konkreten globalen Kontexten einzelner Gebiete.
Atlantic History
Nach diesen übergreifenden Vorträgen vor der kurzen Pause gaben die beiden letzten Referenten einen Einblick in zwei Teilaspekte der Globalgeschichte: William O’Reilly aus Cambridge stellte den Bereich der Atlantic History vor. Diese etablierte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und umfasst die Geschichte von Regionen, Ländern und Kontinenten, die an den Atlantik angrenzen und vor allem in der Frühen Neuzeit mit Handel, Entdeckungen und Kolonialismus durch den großen Ozean verknüpft wurden. Der Beginn der Entwicklung des hierzulande noch nicht sehr öffentlichkeitswirksamen Fachs muss auch vor dem Hintergrund der politischen Verhältnisse des Kalten Krieges betrachtet werden. Manch ein Befürworter der Wissenschaft erwartete in ihren Ergebnissen auch eine akademische Rechtfertigung für das Handeln der eigenen Nation im Ost-West-Konflikt. So verfing sich die Atlantic History auch schon bald in anderen Kontexten, die außerhalb üblicher Wissenschaftsdiskurse stehen. Vielfach veröffentlichten die Historiker ihre Thesen und Betrachtungen in finanzpolitischen oder wirtschaftlichen Journalen.
Kritikpunkte an der Atlantic History, die sich inzwischen als anerkannter und selbständiger Zweig der globalen Geschichtsforschung gefestigt hat, bleiben wegen der weitgreifenden räumlichen Ausrichtung eine fehlende konkrete Bestimmung ihrer Aufgaben. Außerdem, so O’Reilly, werde der afrikanische Kontinent im Verständnis der Atlantic History zu oft übergangen. Der Referent verwies auch auf die große Verbreitung des Faches, dem sich hunderte Wissenschaftler auf beinahe allen Kontinenten widmen. Lehrstühle finden sich beispielsweise in Australien, den USA, Argentinien, Südafrika und auch in Deutschland. Vor allem an ein erfahrenes Fachpublikum richtete O’Reilly seine Ausführungen zu bekannten Forschern und ihren Thesen, die er meist kommentierend zitierte.
Globale Begriffsgeschichte
Hagen Schulz-Forberg, Assistant Professor in International History, stellte der im überfüllten Hörsaal versammelten Zuhörerschaft ein Projekt zur globalen Begriffsgeschichte vor. Mit seinem Team untersucht er die Aneignung und Übersetzung europäischer Grundbegriffe aus sozialen und ökonomischen Bereichen in Asien in der Zeit zwischen den 1860er und 1940er Jahren. Im Vordergrund stehen dabei die Fragen, wie dem eurozentrischen Anspruch auf Deutungshoheit von Geschichte und Bestimmung eines Begriffs begegnet wird, welche westlichen Autoren in Asien überhaupt übersetzt werden und wie die westliche Heterogenität auch in der Begriffsgeschichte wahrgenommen wird. Da Schulz-Forberg vor allem die wesentlichen Handlungsweisen des Projektes umkreiste, blieben konkrete Aussagen zu Inhalt und Ziel der Arbeitsgruppe nur angerissen und dies erschwerte dem nicht fachkundigen Publikum ein Verständnis der Thematik.
Als bedeutender Globalhistoriker angekündigt, erhielt Matthias Middell aus Leipzig die Gelegenheit zu einem Kommentar zu den vorangegangenen Vorträgen. Er nutzte seine Zeit jedoch auch zu einer eigenen, übergreifenden Stellungnahme zu den Trends der Globalgeschichte. Zunächst wies er darauf hin, dass die Historiker erst spät in die Globalisierungsdebatte eingriffen und eigene Deutungsmuster bildeten. Die Globalgeschichte erfahre, so Middell, seit der Jahrtausendwende wieder eine hohe Beliebtheit in der historischen Forschung. Der Leitfrage der Sektion „Neue Wege der Globalgeschichte” stellte er seine eigene Ansicht gegenüber, dass es fragwürdig sei, neue Wege zu benennen, die vor allem alte, bereits vergessene Herangehensweisen wiederaufnähmen.
Globalgeschichte: Unter Historikern populär, in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.
Midell sieht als die neuen Wege eher die Mobilisierung von Wissen und die Bereitschaft, neues Wissen zu formieren. Wie in ökonomischen und politischen Gesellschaftsbereichen entwickle sich auch in dieser Wissenschaft Asien als neue Forschungsmacht. Zuletzt bemerkte er noch die Divergenz der Erscheinung des globalhistorischen Forschungsfeldes: Während sie sich beim Fachpublikum einer starken Konjunktur erfreue, spiele sie weder im Geschichtsunterricht an Schulen noch in der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung eine große Rolle.
Im Anschluss an den Kommentar erhielten die Zuhörer die Gelegenheit zu Fragen und Diskussion. Am Ende der Sektion ergriff noch einmal Andreas Eckert das Wort. Den aktuellen Trend zu einer globalen Sichtweise historischer Entwicklungen sowie die gleichfalls bestehende Scheu traditioneller Forschungsansätze fasste er zusammen mit einem der wenigen klaren und konkreten Formulierungen des Vormittags: „Jeder betreibt Globalgeschichte, nur keiner weiß es.”
Philipp Meller hat Geschichte und Religionswissenschaft in Heidelberg studiert und beginnt in Kürze ein Masterstudium in Geschichte. |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Maximilian Schell
Die Sektion Infrastrukturen der Macht wurde durch einen kurzen Vortrag von Jens Ivo Engels (Darmstadt) mit konzeptionellen Überlegungen zum Verhältnis von Macht und Infrastruktur eröffnet. Prof. Dr. Helmuth Schneider (Kassel) referierte anschließend über den Zusammenhang von politischer Herrschaft und Wohlfahrt im Bezug auf die Infrastruktur des Imperium Romanum. Er bezog sich nur auf die materielle Infrastruktur, also Straßen, Brücken und Kanäle. In der Antike wurde bei der Infrastruktur zwischen öffentlichen Bauwerken wie Verteidigungsanlagen, Heiligtümern oder Bauwerken des öffentlichen Nutzens, z.B. Häfen oder Brücken, und privaten Bauten unterschieden.
* Ein Ausschnitt aus der Tabula Peutingeriana, die das Straßennetz in spätrömischer Zeit zeigt.
Frühe infrastrukturelle Meisterleistung: Straßenbau im Imperium Romanum
Der Straßenbau im Imperium Romanum durchdrang das gesamte Reich. Eine Expansion verlangte eine wachsende Infrastruktur und diese förderte im Gegenzug wiederum die Expansion des Reiches. Schneider zeigte anhand eines antiken Briefwechsels, dass beispielsweise beim Bau von Wasserleitungen vor allem der Wohlfahrtsgedanke und die Förderung der Gesundheit der Bevölkerung im Vordergrund standen. Der Infrastrukturausbau diente neben diesem zivilen natürlich auch einem militärischen Zweck und sicherte somit auch die römische Herrschaft. Abschließend zeigte Schneider auf, dass es keine großen Unterschiede im Ausbau der Infrastruktur zwischen Zentren, an allererster Stelle Rom, und Peripherien gab. Auch in Randgebieten wurden technisch aufwendige Projekte verwirklicht.
Mittelalter: Das Pilgerwegenetz und Wasserstraßen
Im Mittelalter war der Staat zu Beginn an der Infrastruktur und deren Ausbau desinteressiert. Andererseits wurde beispielsweise das Pilgerwegenetz nach Santiago de Compostela und Rom ausgebaut. Als eines der Beispiele für die Ausdehnung der Infrastruktur führte Prof. Dr. Gerrit Schenk die Erweiterung des Straßennetzes in Florenz im 13. Jahrhundert an. Diese wurde notwendig, weil es zu Änderungen in der Bevölkerung gekommen war und für die Erschließung von Ebenen neue Verbindungsstraßen gebaut werden mussten.
Die Wasserstraßen waren einer der Hauptverkehrswege. Daher wurde versucht, diese auch in flachen Gewässern mit Hilfe von Kähnen und infrastrukturellen Baumaßnahmen schiffbar zu machen. Dies zeigt sich z.B. an Baumaßnahmen am Rhein oder am Arno in Italien.
Herr Schenk fasste abschließend zusammen, dass die Frage nach der Infrastruktur im Mittelalter ein riesiges Forschungsfeld ist, in welchem noch viele Fragen erforscht werden können.
Bei Maßnahmen zur Erhaltung und Erweiterung von Infrastruktur ging es fast immer um die Stärkung der höfischen Gesellschaft und deren Macht.
Repräsentation und Macht
Die Vorstellung von Natur war in der Frühen Neuzeit sehr dynamisch und unterschied sich von Stand zu Stand. Infrastrukturen waren dahingehend wichtig, als dass sie zur Erhaltung der höfischen Gesellschaft und deren Macht dienten. Die Bauten des Hofes hatten im Vergleich zur Antike keinen Gemeinwohlcharakter. Sie dienten fast ausschließlich zur Repräsentation der Macht und waren auf technischen Fortschritt angewiesen. Sie konnten den Ruhm des Erbauers steigern, diesen jedoch natürlich auch verringern. Auch war dabei oft mehr Schein als Sein. So zeigte Herr Wiland anhand von Quellenmaterial, dass die Kritik an Bauprojekten nicht nur aus dem niederen Volke, sondern selbst von Adligen kam. So kritisierte ein Herzog die Gartenanlage um das Versailler Schloss. Beispielsweise wäre das Wasser dickflüssig und grün und der Garten würde nur nach Außen einen repräsentativen Eindruck machen.
Prof. Dr. Dirk van Laak (Gießen) versuchte mit seinem Vortrag, das „Scharnier” zwischen den vorangehenden Vorträgen und den folgenden Vorträgen aus der Neuesten Geschichte zu bilden. Er zeigte, dass der Begriff der Infrastruktur sich erst seit den 1950er Jahre entwickelte und dieser von den Eisenbahnern kam. Die Infrastruktur wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr zu einem Mittel, um Macht zu kontrollieren und andererseits zu einem wichtigen Ziel militärischer Angriffe.
Infrastrukturplanung in der Sowjetunion
Prof. Dr. Klaus Gestwa (Tübingen) referierte über die Infrastrukturen in der Sowjetunion. Den Begriff der Infrastruktur gab es in dieser Form in der UdSSR nicht. Er wurde als materiell-technische Grundlage bzw. Basis bezeichnet. Lenins Infrastrukturplan, das gesamte Land mit Elektrizität zu versorgen, war für ihn so wichtig wie das Parteiprogramm. Für ihn war die Infrastruktur ein Maßstab für die Entwicklung des sowjetischen Staates. Durch den Ausbau der Infrastruktur wandelte sich das Land von einer rückständigen Agrargesellschaft zu einer führenden Wirtschaftsmacht.
Infrastruktur gab dem Staat Handlungs- und Veränderungsmacht.
Infrastruktur gab dem Staat Handlungs- und Veränderungsmacht, als Beispiel sei hier Stalins Aussage „vom Holzpflug zum Atomkraftwerk” angeführt. Desweiteren war sie Mobilisierungs- und Verfügungsmacht, Definitions- und Überzeugungsmacht und sie repräsentierte sowohl die Macht durch Belohnung (sozialer Aufstieg mit dem damit verbundenen materiellen Wohlstand) als auch die Macht des Zwanges und der Ernüchterung. Gestwa führte weiter aus, dass die sowjetische Infrastruktur auf Gewalt und Blut gebaut wurde. So wurden große Teile der Infrastruktur von Zwangsarbeitern aus dem Gulag-System gebaut. Auch stellte er fest, dass die Landbewohner zu den Verlierern des Ausbaus gehörten. In der UdSSR galt das Motto „Think and Build Big”. Mit der neu erbauten Infrastruktur wollten sie die Vergangenheit begraben, wie Lenin in einer seiner Reden feststellte. Das oben genannte Gulag-System war genauso Teil dieser Infrastrukturgeschichte.
Dr. Birte Förster (Darmstadt) schloss mit ihrem Vortrag über die Postkolonialen Machtspeicher die Sektion ab. Sie arbeitete heraus, dass Infrastrukturen auch als Speicher kolonialer Macht anzusehen sind, welche auch noch nach der Kolonialzeit die ehemalige Macht des Kolonialstaates präsentieren. Solch ein Modell war das Volta River Projekt an der Goldküste, im heutigen Ghana. Dort wollte die britische Krone vorhandene Bauxit-Vorkommen abbauen. Das Projekt wurde durch die Krone und die USA finanziert. Meist profitierten nur multinationale Firmen und nicht die Bevölkerung von Projekten wie diesem. Und das, obwohl der Bevölkerung die Infrastruktur als Mittel zur wirtschaftlichen Entwicklung versprochen wurde.
Maximilian Schell studiert Geschichte, Geographie und Biologie auf Lehramt an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Die Sektionen der Tagung waren an erster Stelle männlich geführt und auch besucht. Häufig glichen die Podien einer reinen Männerrunde.
Ein Zwischenruf von Nicole Güther
Dennoch, in der Frage der Geschlechtergleichheit ist kein Durchbruch geglückt. Die so zwangsläufig rückblickende wie zukunftsweisende Tagung zeigte die andauernde, offensichtliche Unterrepräsentation von Frauen in der Wissenschaft auf. Die Sektionen der Tagung waren an erster Stelle männlich geführt und auch besucht. Häufig glichen die Podien einer reinen Männerrunde. Obgleich seit nunmehr dreißig Jahren über die Hälfte der Studenten weiblich ist, lichtet es sich weiterhin in den höheren Hierarchien universitären Lebens. Geradezu ironisch erscheint die Wahl einer weiblichen Akademikerin als Festrednerin. (Hier unser Bericht über den Vortrag von Lorraine Daston.)
Die Blogger gehen mit gutem Beispiel voran
Ein geradezu gegenteiliges Bild konnte die Redaktion des diesjährigen Blogs zum Historikertag bieten. Mit einer geradezu vorbildlichen Balance weiblicher und männlicher Mitarbeiter spiegelte das Bloggerteam so gar nicht den Tagungsdurchschnitt wider. Den elf Bloggern standen zehn Bloggerinnen gegenüber und auch die Leitung war gendergerecht mit zumindest einer Frau bei drei Posten besetzt. Das Internet zeigte hiermit einmal mehr, wie mit den Herausforderungen von Grenzen umzugehen ist.
Das Bloggerteam:
Nicole Güther ist Magisterstudentin der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS/CJ)
]]>Seit der Finanzkrise befinden sich die Wirtschaftswissenschaften in einer Legitimitätskrise.
Von Albrecht Franz
Wenn sich die Wirtschaftswissenschaftlerin Esther-Mirjam Sent zu Beginn ihres Vortrages mit einem Hauch von Ironie dafür entschuldigt, Ökonomin zu sein, so liegt das an der gegenwärtigen Legitimitätskrise eines Fachs, das die Finanzkrise nicht zu prognostizieren vermochte – trotz komplexer theoretisch-mathematischer Modelle, deren Geltungsanspruch oft weit über das Ökonomische hinausgeht. Auch Roman Köster, der die Sektion einleitete, kam nicht umhin, auf die Häme zu verweisen, die derzeit in Teilen der Presse über die Wirtschaftswissenschaft ausgeschüttet wird: Zu offensichtlich ist die Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Anspruch, komplexe Regeln und Mechanismen der Wirtschaft abbilden und erklären zu können, und der Unfähigkeit, fundamentale Zäsuren derselben vorherzusehen. Diese Kluft zwischen Theorie und Praxis in den Wirtschaftswissenschaften bildete den zentralen Angelpunkt der Diskussion in der Sektion „Grenzgänge zwischen Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaften”.
* Das Bild zeigt Jan-Otmar Hesse, der über den Geldtheoretiker Albert Hahn spricht (Foto: Albrecht Franz)
Semantische Grenzbildung in den Wirtschaftswissenschaften
Auch die Wirtschaftswissenschaft hat eine Geschichte: Ihre Methoden und Ansprüche standen zu verschiedenen Zeitpunkten zur Disposition und veränderten sich. Die Debatten um die Festlegung der Grenzen des Fachs kreisten dabei maßgeblich um die Pole Theorie und Praxis. Die Geschichte dieser Diskussionen ist zugleich die Geschichte der Selbstbeschreibung und der semantischen Bestimmung einer wissenschaftlichen Disziplin. Denn eine prinzipielle personelle oder institutionelle Abgrenzung zwischen den beiden Sphären Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft gibt es nicht.
Um diesen Prozess der Grenzziehung herauszuarbeiten und dessen Bedeutung für die Ausrichtung der Disziplin zu bestimmen, stellten die Referenten bestimmte Fälle und Personen vor, die diese Grenzen in Frage stellten oder überschritten.
Nils Goldschmidt arbeitete am Beispiel der Historischen Schule der Nationalökonomie eine wichtige Phase für die Selbstverortung der Wirtschaftswissenschaften heraus. Denn Ziel von Gustav Schmoller und Lujo Brentano (das Foto rechts zeigt Brentano im Jahr 1890) – um nur zwei der bekanntesten Vertreter zu nennen – war eine Ausrichtung der Disziplin an konkreten sozialpolitischen Fragen. Der Lösung der „sozialen Frage” sollte die Nationalökonomie dienen, politische Ziele die Ausrichtung der Wissenschaft bestimmen.
Der Historischen Schule der Nationalökonomie wurde mangelnde Systematik vorgeworfen.
Allerdings scheiterten die Vertreter der „Historischen Schule” gemessen an diesem Anspruch an ihrem Fach. Zu wenig systematisch sei sie, wurde ihr alsbald von einer jüngeren Generation von Ökonomen vorgeworfen. Deren Gegenentwurf folgte einer anderen Logik: Wenn es gelänge, die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten auf theoretischem Wege zu entschlüsseln und in Modelle zu verwandeln, habe man auch die Techniken zu deren Steuerung in der Hand.
Roman Köster vermochte dieses Bild weiter zu differenzieren, indem er den Blick auf diejenigen Nationalökonomen richtete, die in der Weimarer Zeit Theorielosigkeit und Methodenpluralismus als ernsthaftes Problem ihres Faches identifizierten. Konsequent wurden diese „Missstände” in der Folgezeit beseitigt, die Tendenz zur Modellbildung mit Hilfe mathematischer Methoden setzte sich durch. Ziel dieser Maßnahmen war jedoch durchaus eine stärkere Praxisorientierung – ein nur scheinbares Paradoxon, glaubte man doch, durch die Beherrschung der Modelle auch über ordnungspolitische Techniken zu verfügen.
Personale Grenzüberschreitungen
Jan-Otmar Hesse und Jeff Fear richteten in ihren Beiträgen den Blick auf bestimmte Personen, welche sich über den Graben zwischen Theorie und Praxis hinweg bewegten. So war der Geldtheoretiker Albert Hahn als Bankier zwar eher den Praktikern zuzuordnen; gerade dieser Umstand scheint ihm jedoch in den krisenhaften 1920er-Jahren Legitimität verliehen zu haben, denn seine Geldtheorien wurden in der Wissenschaft durchaus rezipiert. Demgegenüber zeigte der Ökonom Jeff Fear am Beispiel des Wirtschaftswissenschaftlers Eugen Schmalenbach, wie eine an den unternehmerischen Realitäten orientierte Wissenschaft mit dem Stigma der Praxisnähe behaftet sein kann. Bis heute ist die von Schmalenbach vor allem seit den 1930er- Jahren vorangetriebene Betriebswirtschaftslehre dem Vorwurf ausgesetzt, nicht „wissenschaftlich” zu sein: ein klarer Fall von „Ausgrenzung” einer Teildisziplin.
Die Grenze hin zur Praxis überschritt der von Esther-Mirjam Sent vorgestellte US-Ökonom Thomas Schelling auf ganz andere Weise. Als ein wichtiger Vertreter der Spieltheorie entwickelte er im Kontext des Kalten Krieges im Auftrag der Politik Modelle der „rationalen”, „begrenzten” Kriegsführung, welche beim Ausbruch des Vietnamkriegs angewandt – und mit dessen Eskalation auch gleich eindrücklich widerlegt wurden. Anhand dieses Falls wurde zweierlei noch einmal deutlich: der universelle Anspruch, den die ökonomische Wissenschaft ihren Modellen zeitweise zugemessen hat, und zugleich die engen Grenzen, die deren theoretischen Annahmen in der Praxis gesetzt sind. Dennoch, so Sent, habe die Ökonomie im historischen Verlauf die Orientierung an praktischen Fragen – seien es unternehmerische, soziale oder politische – weitgehend aufgegeben.
Wirtschaftskrisen zwingen das Fach zur Thematisierung ihrer Methoden und des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis.
Theorie und Praxis bilden – in diesem Punkt waren sich die Referenten einig – ein zentrales Gegensatzpaar der wirtschaftswissenschaftlichen Selbstbeschreibung. Gegensätze freilich, die häufig eher eine Grenze semantischer Art darstellten. Die Neudefinition oder Überschreitung dieser Grenze zwischen der Wirtschaft und der Wissenschaft geschah punktuell und folgte bestimmten Konjunkturen. Dabei scheinen Wirtschaftskrisen, wie etwa die der Weimarer Jahre, eine wichtige Rolle zu spielen. In Ihnen wird das Verhältnis von Theorie und Praxis verstärkt thematisiert, sie sorgen für Debatten um die entsprechenden Methoden, wie die Reaktion auf die gegenwärtige Krise nur allzu deutlich zeigt. Diese – vom Publikum offenbar unterschätzte – Sektion bot einen spannenden Blick auf historische Prozesse, die von höchster Aktualität sind.
Albrecht Franz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS/CJ)
]]>Im Anschluss an die Preisverleihung stellten sich die beiden Preisträger den Fragen von Klaus Körmös und Maximilian Schell. (Das Foto rechts zeigt Rahul Kulka zusammen mit Dr. Simone Lässig vom VHD.)
ScienceBlogs: Erst einmal herzlichen Glückwunsch, Rahul. Was für ein Gefühl ist das, als Schüler einen Preis im Rahmen des Historikertags zu bekommen?
Rahul: Für mich ist es eine große Ehre und es erfüllt mich mit Stolz. Das Besondere an dem Abend ist, dass ich eine Auszeichnung von Akademikern bekommen habe und sie mir so ihre Anerkennung ausdrücken.
SB: Was war deine Motivation, bei diesem Wettbewerb mitzumachen?
Rahul: Ich fand das Wettbewerbsthema spannend und Berlin und seine Geschichte verkörpert das Thema für mich vollkommen.
SB Woher hast du die Ruhe und den Ehrgeiz genommen, um dich so intensiv mit dem Thema zu beschäftigen?
Rahul: Vor allem mein Wissensdrang und die ungelöste Frage, auf welche Art und Weise Bögling gestorben ist, waren die ausschlaggebenden Gründe. Schließlich ist es auch für die Erinnerung an Bögling wichtig, unter welchen Umständen er gestorben ist.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, einmal als Historiker zu arbeiten.
SB: Rahul, wie sieht jetzt dein weiterer Lebensweg aus?
Rahul: Ich werde ab nächster Woche in Oxford (England) Geschichte studieren und kann mir sehr gut vorstellen, einmal als Historiker zu arbeiten.
SB: Würdest du diesen Wettbewerb anderen Schülern empfehlen?
Rahul: Ja, auf jeden Fall. Es ist eine besondere und andere Art, Geschichte kennenzulernen, vor allem außerhalb der Schule. Außerdem ist es schön, nach der langen Arbeit solch ein Ergebnis in den Händen zu halten.
SB: Zum Abschluss nun noch eine Frage, die nichts mit Geschichte oder dem Wettbewerb zu tun hat. Welche Musik hörst du am liebsten?
Rahul (lacht) Eine gute Frage. Am liebsten klassische Musik, vor allem Oper.
SB: Vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast für uns! Jetzt lassen wir dich aber in Ruhe den Empfang genießen. Wir wünschen dir viel Glück auf deinem weiteren Weg.
ScienceBlogs: Hallo Giovanna, erst einmal herzlichen Glückwunsch zu dieser Ehrung, aber sag uns doch bitte, was das für ein Gefühl ist, als erste Schülerin solch einen Preis zu erhalten?
Giovanna-Beatrice: Danke! Es ist ein tolles Gefühl zusätzlich zur Preisverleihung des Geschichtswettbewerbs eine persönliche Auszeichnung als Anerkennung für die Mühe, die Zeit und die Arbeit zu erhalten, nachdem man so viel Herzblut und Energie hinein investiert hat.
SB: Wie kamst du überhaupt auf die Idee, bei diesem Wettbewerb teilzunehmen?
Giovanna-Beatrice: Durch meinen Geschichtslehrer aus meinem Geschichtsleistungskurs an meiner Schule. Er brachte mich auf die Idee, bei diesem Wettbewerb teilzunehmen. Ein persönlicher Höhepunkt war für mich die Möglichkeit, Text, Literatur und Geschichte zu verbinden.
SB: Wie sieht dein weiterer Berufsweg jetzt aus?
Giovanna-Beatrice: Ich will mein Germanistik- und Literaturwissenschaftsstudium wieder aufnehmen. Zudem sehe ich meine Zukunft schreibend und deshalb arbeite ich auch momentan an einem Romanprojekt.
SB: Würdest du den Wettbewerb an Jugendliche weiterempfehlen?
Giovanna-Beatrice: Ja, auf jeden Fall! Allerdings muss man sich bewusst sein, dass man hartnäckig beim Thema bleiben und sehr interessiert sein muss. Man braucht sehr viel Durchhaltevermögen und Neugier.
SB: Nun abschließend eine Frage, die nicht so viel mit dem Thema zu tun hat, was ist deine Lieblingsmusik?
Giovanna-Beatrice (lacht): Warum nicht eine Frage über Literatur?!? Nun gut, eigentlich höre ich alles, vor allem beim Schreiben, Hauptsache es geht ins Ohr!
SB: Vielen Dank für das Interview und alles Gute für die Zukunft!
Maximilian Schell studiert Geschichte, Geographie und Biologie auf Lehramt an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Gina Fuhrich
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, wurden in der Sektionsveranstaltung von Malte Zierenberg, Bernhard Fulda, Christiane Reinecke, Kerstin Brückweh sowie Anja Kruke Publikumsforschung, Umfragetechniken, Auswertung und Verwendung der Daten und der Markt für Meinungsforschung genauer analysiert.
Der Mediennutzer als Forschungsgegenstand
In seinem Vortag beschrieb Malte Zierenberg den Zuschauer im 21. Jahrhundert als alltägliche Erscheinung und zugleich als Forschungsgegenstand. Die Wissenschaft beschäftigte sich intensiv damit, wie Medien auf Zuschauer wirken und was ihre Aufmerksamkeit erregt. Beispielsweise wurden Filme und das Fernsehen an sich in den 1940er Jahren auf ihre Wirkung getestet. Später folgte auch die telefonische Befragung, um eine Verbesserung des Fernsehprogramms zu erhalten und Kundennähe zu demonstrieren. Die Forschung fokussierte sich also auf das Verhalten der Zuschauer und versuchte diese zu professionalisieren.
Man bediente sich hierfür umfangreicher Statistiken und Typisierungen verschiedener Zuschauergruppen und schuf somit Vergleichsräume durch die öffentliche Diskussion der gesammelten Daten. So wurden soziale Unterschiede nun durch erhobene Daten aufgezeigt, beispielsweise schaute statistisch ein Hilfsschüler in der Woche wesentlich mehr fern als ein Abiturient. Überdies lag ein besonderes Augenmerk auf der Aktivität und Passivität des Zuschauers. So entstanden viele Sendungen mit Zuschauerabstimmung, wie die ZDF-Hitparade oder die TED-Abstimmungen. Durch die Marktforschung entstanden transnationale Aufmerksamkeitsökonomien. Es bestehen aber durchaus nationale Unterschiede aufgrund unterschiedlicher Techniken zur Erfassung der Daten.
Umfragenforschung
Bernhard Fulda beschäftigt sich mit dem Markt der politischen Meinungen. Allgemein kann man sagen, dass politische Meinungsumfragen zurückgehen, da sie zu teuer sind, so Fulda. Deshalb muss man sich auch immer fragen, was für ein Interesse die Umfrageführer haben, die solche Kosten tragen. Die Meinungsumfragen gehen auf Dr. George Gallup (Foto oben rechts) mit seinem Konzept der Probeabstimmung „straw poll” in den 1930er Jahren zurück.
Der Durchbruch für die Demoskopie kam 1936 mit der richtigen Prognose des US-Präsidentschafts-Wahlergebnisses.
Durch diese Umfragen und die Darstellung der Daten in Statistiken verzeichneten die Zeitungen mehr Aufmerksamkeit und damit auch mehr Leser. Daraus ergab sich dann die Bemühung, die Kosten zu reduzieren und die Umfragen in einer höheren Frequentierung durchzuführen. Gallup verhalf seiner Methode bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 1936, bei denen er den Wahlsieg für Roosevelt richtig prognostizierte, zu internationaler Geltung. Nun wurden Meinungsforschungsinstitute in der gesamten Welt eröffnet.
Vor allem politische Meinungsumfragen wie Wahlprognosen bekamen am meisten Aufmerksamkeit. In diesen Umfragen wurden allerdings zuerst nur gebildete und wahlberechtigte Personen befragt. Deshalb kam es zur Ausgrenzung von Randgruppen, da alle Minderheiten wie beispielsweise Indigene in den USA oder Brasilien keine politische Stimme in den Umfragen und somit auch keine Aufmerksamkeit bekamen. Ebenso wurden politische Themen wie Rassismus oder Judenfeindlichkeit vermieden sowie Umfragen, die das Vertrauen der Befragte in die Umfragen zeigen sollten.
Meinungsforschung in West- und Ostdeutschland
Frau Reinecke verglich in ihrem Vortrag die Meinungsforschung in der DDR und BRD. In der DDR wurde vor allem das Konsumverhalten der Bevölkerung abgefragt. Die Umfragedaten wurden nicht öffentlich in den Medien diskutiert, sondern nur einer kleinen Gruppe der Parteielite der SED zugänglich gemacht. Die Umfrageergebnisse spiegelten folglich meist die vorherrschende Ideologie wieder. Zugleich waren sie für die Partei ein Test für die Stabilität der DDR und lieferten Angaben für die Planung der Produktion und den zu erwartenden Konsum.
In der BRD gab es hingegen eine permanente Inszenierung der Wissenschaftlichkeit der Umfragen, die in der DDR aufgrund der staatlichen Abhängigkeit der Wissenschaft nicht gegeben war. Die Umfragetechniken sollten hingegen in Westdeutschland völlig transparent vorliegen und wissenschaftlich fundiert sein. So konnte man die Aussagen der Umfragen als sachlich und wahr betrachten. Desweiteren gab es kein starres Gesellschaftsmodell wie in der DDR, sondern es existierten verschiedene Milieus nebeneinander. Es gab einen permanenten Austausch von Wissenschaft, Medien und Bevölkerung.
In dem folgenden Vortrag von Kerstin Brückweh wurde die Kartographie sozialer Unterschiede in Großbritannien durch die erhobenen Umfragedaten erläutert. So werden Bürger aufgrund ihres Wohnortes klassifiziert. Frau Brückweh beschäftigte sich mit geodemographischen Techniken. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Karten angelegt, die Regionen beispielsweise nach Wohlstand oder Todesraten analysierten. Später wurden die Armutsforschung und Volkszählung mit der Marktforschung verbunden. Bei dieser Technik werden die Bürger in verschiedene Gruppen beziehungsweise Typen unterteilt, z.B. der Typ „happy family” oder „middle class” mit dazu passenden Lifestyle-Charakteristiken. Die erhobenen Daten werden nicht offengelegt, sondern an andere Firmen verkauft. Überdies werden die Daten und Verfahren nicht wissenschaftlich überprüft. Das heißt, der Fokus liegt ganz deutlich auf dem wirtschaftlichen Gewinn.
Eurobarometer
Im letzen Beitrag von Frau Kruke wurde die Entwicklung des Eurobarometers dargestellt. In den sechziger Jahren legte die EU wenig Wert auf die Meinung der Bürger zu Europa. Erst in den 70er Jahren begann eine regelmäßigere Datenerhebung. Allerdings spielten Umfragen bis in die 90er Jahre nur eine untergeordnete Rolle, da die europäische Kommission nicht auf die Umfragewerte angewiesen war. Der Eurobarometer wurde nun zweimal jährlich durchgeführt. Da aber die Umfrageauswertung knapp drei Monate betrug, waren die dann erscheinenden Ergebnisse veraltet und in der aktuellen Politik nicht mehr nutzbar. Eine wöchentliche nationale Umfrage wäre eindeutig hilfreicher, so Kruke. In den 1990er Jahren wurden dann eine Reform und eine Überholung des Eurobarometers vorgenommen.
Gina Fuhrich studiert Mittlere und Neuere und Neueste Geschichte und Ethnologie an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Sebastian Gehrig und Martin Stallmann
Das von Helge Heidemeyer (Berlin) organisierte Panel „Grenzen überwinden – Die Systemgrenzen sprengende Kraft von Opposition und Widerstand in der DDR” diskutierte die Rolle von Grenzüberwindungen und grenzüberschreitenden Kontakten von Oppositionsgruppen für den Zerfall der DDR und die Transformation Osteuropas am Ende der 1980er Jahre. Die Sektion wurde von Gerhard A. Ritter geleitet, der in seinem Einführungsvortrag erste Problemkreise für die Vorträge und die Diskussionen skizzierte. Laut Ritter gehe es vor allem um die Überwindung von Grenzen im nationalstaatlichen Sinne. Dabei müssten Kontakte von DDR-Bürgern nach Osten und Westen und deren Bedeutung für Oppositionsbewegung in den Blick genommen werden.
* Antragsformular zur Ausreise aus der DDR
These: Die DDR war systemisch nicht reformierbar.
Ritter stellte der Sektion zwei Thesen voran: erstens habe nie eine Chance auf Transformation in eine demokratische DDR bestanden, da die DDR zum einen systemisch nicht reformierbar gewesen sei. Zum anderen sei dies in der Tatsache begründet, dass die DDR keinen Nationalstaat dargestellt habe, daher auch „kein nationaler Weg zum Sozialismus” wie in Polen als politische Perspektive möglich gewesen sei. Zweitens stellte Ritter erinnerungspolitische Konkurrenzen fest, da die Diktaturüberwindung in Osteuropa durch den Mauerfall symbolisiert werde, was Entwicklungen in osteuropäischen Ländern in den Hintergrund dränge. Daher dürfe die Entwicklung in der DDR jedoch nicht als isolierte Revolution betrachtet werden, sondern müsse im Zusammenhang mit der Entwicklung in Ost- und Mitteleuropa untersucht werden. Zudem betonte auch er, dass die DDR stets Teil der westdeutschen Medienlandschaft gewesen sei.
Mitläufer-Forschung intensivieren
Den ersten Sektionsteil zum Thema „Die Überwindung der Systemgrenzen im Inneren der DDR” gestalteten Ilko-Sascha Kowalczuk (Berlin) und Tomas Vilimek (Prag). Kowalczuk wies zunächst darauf hin, dass Systemgrenzen in der Diktatur subjektiv erfahren werden und unterschiedliche Bedeutungen für das Individuum annehmen können. Daraus leitete er ab, dass eine typologische Beschreibung von Opposition nur begrenzt möglich sei, da sich oppositionelles Verhalten aus Individualbiographien erkläre. Die Beschäftigung mit Systemgrenzen helfe jedoch, ein allzu starres Bild der Diktatur zu überwinden.
Dies sollte für die Geschichtswissenschaft als Auftrag gelten, zu Perspektiven eines dynamischen Gesellschaftsbildes auf dem Weg zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR zu kommen. Zudem müsse die Mitläufer-Forschung verstärkt in den Blick genommen werden. Vilimek betonte in seinem Vortrag, dass die Grenze zwischen noch konformem und schon sanktioniertem Verhalten in der Diktatur für die historischen Akteure fließend gewesen sei. Darüber hinaus hätten sich diese staatlich sanktionierten Grenzen über die Zeit verändert und sich damit die Definitionen oppositionellen und widerständigen Verhaltens mitverschoben.
Kontake zwischen oppositionellen Gruppen in Osteuropa
Im zweiten Thementeil der Sektion diskutierte Krzysztof Ruchniewicz (Wroclaw) grenzüberschreitende Kontakte zwischen nationalen oppositionellen Gruppen in Osteuropa. Die Vernetzung von polnischen und DDR-Oppositionsgruppen sei dabei seit den 1970er Jahren sehr gering gewesen, was Ruchniewicz auch im „Neid auf den Mut der Polen” in der DDR begründet sah, da Polen schon früh eine wirkungsmächtige Oppositionsbewegung entfaltet hätte. Die polnische Arbeiterschaft sei in der Artikulierung von gesellschaftlichem Widerstand sehr viel aktiver als die ostdeutsche gewesen. Ruchniewicz charakterisiert die Jugendopposition in Polen daran anschließend als dezidiert politisch motiviert, wobei die DDR-Jugendkultur westlich beeinflusst gewesen sei, was sich in der dominanten Konzentration auf Friedens- und Ökologiefragen geäußert habe. Abschließend argumentierte Ruchniewicz, dass die Opposition in der DDR in Polen bis ins Jahr 1989 weitgehend nicht wahrgenommen wurde, dann allerdings stark beachtet worden sei.
Daran anschließend beschrieb Olschowsky die ostdeutsch-polnischen Austauschprozesse anhand der Betrachtung von Reisebewegungen seit der Öffnung der Grenze zwischen der DDR und Polen im Jahre 1972. Der gesteigerte Kontakt zwischen Ostdeutschen und Polen habe bestehende nationale Stereotype und Vorurteile jedoch nur bedingt abgebaut. Die Kontakte beschränkten sich überwiegend auf Kurzreisen, Migration habe in den Ost-Ost-Beziehungen kaum eine Rolle gespielt. Aufgrund der Tatsache, dass nationale Ressentiments bestehen blieben, argumentierte Olschowsky, kam es zu einer gewissen Oppositionskonkurrenz und Irritationen zwischen den Oppositionsbewegungen bis ins Jahr 1989.
Der Kontakt in den Westen
Nach der Beschreibung von oppositionellen Kontakten über Grenzen Osteuropas hinweg, wandten sich Bernd Florath (Berlin) und Helge Heidemeyer (Berlin) Kontakten von Oppositionellen über die Grenze des Kalten Krieges hinweg nach Westeuropa zu. Florath beschäftigte sich mit dem westdeutschen Sozialistischen Osteuropakomitee (SOK). Der Vortrag rief das generelle Problem westdeutscher linker Gruppen in Erinnerung, wie diese sich zu Oppositionellen in Osteuropa positionieren sollten. Sollte man nur Individuen und Gruppen unterstützen, die den gleichen ideologischen Positionen anhingen oder alle Dissidenten gleichermaßen? Dabei seien es vor allem trotzkistische Gruppen gewesen, die Interesse an oppositionellen Gruppen gezeigt hätten, während andere linke Gruppen und die großen Parteien in der Bundesrepublik mehr auf die osteuropäischen Regierungen fixiert blieben.
Welche Effekte hatte die Ausreise von DDR-Bürgern? Profitierte die Opposition? Schwächte sich die DDR durch die Kriminalisierung der Grenzüberschreitung selbst?
Helge Heidemeyer beschäftigte sich mit Effekten der Ausreise von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik. Er verfolgte die Frage, ob die Kriminalisierung der Grenzüberschreitung von der DDR in die Bundesrepublik die ostdeutschen Staatsorgane geschwächt habe, da auch die weitere Beobachtung ausgereister Bürger die Kräfte der Staatssicherheit gebunden hätten. Im Umkehrschluss fragte Heidemeyer auch, ob die Ausreise die Opposition innerhalb der DDR gestärkt oder geschwächt habe. Da die grenzübergreifende Opposition vor allem von Auswanderern auf Seiten der Bundesrepublik getragen worden sei, deutete Heidemeyer einen durchaus stärkenden Effekt der Opposition durch die Ausgereisten an.
Die Abschlussdiskussion versuchte nochmals Perspektiven zu bündeln, welche die zeithistorische Forschung in Zukunft weiterverfolgen könne. Dabei standen vor allem die Frage der gesellschaftlichen Verankerung von Opposition in den Gesellschaften Osteuropas und die Weiterverfolgung transnationaler Vergleiche und Kontakte im Vordergrund. Kurzfristig kontrovers wurde die Debatte, als der Vorschlag gemacht wurde, die Ausreise von DDR-Bürgern als Migrationsprozess zu begreifen, der mit anderen Migrationsgruppen, die in die Bundesrepublik im gleichen Zeitraum einwanderten, verglichen werden könne. Dieser Vorschlag wurde von den Vortragenden mehrheitlich negativ beurteilt, da man die militarisierte deutsch-deutsche Grenze und die besonderen Gefahren ihrer Überschreitung im Blick behalten müsse.
Sebastian Gehrig ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Heidelberg. |
Martin Stallmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Julia Naßutt
Was passiert in den Zonen der Grenzüberschreitungen – und was passiert mit diesen Räumen? Eine Fragestellung, die dem Fachpublikum am Donnerstagvormittag in diesem Panel auf anschauliche Weise erläutert wurde. Unter der Moderation von Frau Prof. Dr. Monika Dommann (Basel) näherten sich Forscherinnen und Forscher aus den Bereichen Geschichte und Architektur dem Thema aus verschiedenen Perspektiven. (* Das Foto rechts zeigt eine Familie mit Blick auf die Freiheitsstatue Anfang des 20. Jhs.)
Janusköpfigkeit von Grenzen
Der Kulturwissenschaftler und Historiker Dr. Joachim Baur (Tübingen) forscht über die Kontrollfunktion von Grenz-Passagen in den USA und Kanada. In seinem Vortrag referierte er auf faszinierende Weise über das Beispiel Ellis Island in den USA und Pier 21 in Kanada als Nicht- und Erinnerungsorte der Migration. Immigranten erlebten diese Transiträume als Dreh- und Angelpunkt ihrer Reise. Beim Passieren der Grenze wanderten sie über die Grenze des Nationalstaates und erlebten dabei die Grenze sowohl als Ort der Kontrolle als auch als Ort des Willkommens.
Die heutigen Inszenierungen der Museen beider Kontrollstationen weisen Unterschiede und Gemeinsamkeiten auf. Ellis Island wird heute als Gateway to America gefeiert, wohingegen am Pier 21 der Wartesaal im Vordergrund steht.
Einen weiteren interessanten Ansatz bot der Architekt und Architekturhistoriker Herr Prof. Dr. Laurent Stalder (Zürich). Er beleuchtete zeitgenössische Architektur als Schwellen des Alltags. Der Eingangsbereich von Häusern stellt dabei fast immer eine Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Wärme und Kälte oder zwischen Privatheit und Öffentlichkeit dar.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wandeln sich die Schwellenräume kontinuierlich. Ob Drehkreuz oder Drehtür, Desinfektionsschleuse, Schiebetür oder Sensoren – die Eingangsarchitektur weist heute unzählige Ausprägungen auf, die je nach ihrer Funktion differenziert werden können.
Zivilschutzräume als Übergangsraum zur postapokalyptischen Zukunft
Das faszinierendste Beispiel, das bei den Zuhörer auf großes Interesse stieß, stellte Dr. Silvia Bergers (Zürich) zuerst etwas sperrig anmutendes Thema „Prospektives Transitorium: Der Zivilschutzraum als un/wirklicher Übergangsraum zur postapokalyptischen Zukunft” dar. Während des Kalten Krieges wurden in Europa sukzessive Schutzbunker gebaut. Die Schweiz nimmt dabei eine Vorbildrolle ein, da jeder Bürger, anders als in Westdeutschland, einen Schutzplatz zur Verfügung hätte.
Ab den 1960er Jahren stattete die Schweiz ihre Bürger mit Plätzen in Schutzbunkern aus. Nicht dass die Schweiz befürchtete, direkt angegriffen zu werden, Grund war vielmehr die geographische Nähe zu Deutschland. Die privaten Schutzbunker, die sich im Keller eines jeden Hauses befinden, haben eine Schleuse mit gestaffelter Panzertür, einen Reinigungsraum und einen Schutzraum, der als „Überlebensinsel” bei einem nuklearen Angriff fungieren würde. (* Das Bild zeigt einen Luftschutzraum in der Schweiz.)
Nutzungswandel: Ehemalige Bunker werden heute u.a. als Galerien, Minigolfanlagen oder Cannabisplantagen genutzt.
In dem Vortrag wurden die Bunker als transitorische Räume dargestellt. Dabei symbolisiert die Panzertür die Schwelle und die Schleuse den Übergang der Bevölkerung von der vertrauten Welt hin zu einem neuen Zustand. Seit den 1990er Jahren unterliegen die Räume aus Beton einem Nutzungswandel. Die Bunkerwelten werden heute zum Teil als Kunsthallen, Cannabisplantagen, für Minigolfanlagen oder als Hotels genutzt.
Der Suezkanal
Eine weitere bemerkenswerte Stellungnahme war die Darstellung des Suezkanals als Grenze und Verbindung zwischen Europa, Asien und Afrika von Frau Dr. des. Valeska Huber (Konstanz). Auf ihrer Passage, auf dem Highway to Empire, vollzogen die Emigranten Rituale, um sich auf die Gegebenheiten des neuen Raumes vorzubereiten.
Huber stellte zwei transitorische Räume im Suezkanal vor, zum einen den Kanal selbst und zum anderen Orte in der Hafenstadt Port Said. Hier wurde im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Kontrollfunktion ausgeübt, um die Seuchenausbreitung und den „Mädchenhandel” einzudämmen.
Als ein weiteres und letztes Beispiel ging Frau Prof. Dr. Monika Dommann auf das Warenlager als transitorischen Raum ein. Anhand der Bahnhof-Kühlhaus A.G. in Basel wurde das Lagerhaus als Vorrats- und Pufferzone zwischen Produktion und Distribution identifiziert.
Im abschließenden Kommentar betonte Prof. Dr. Dirk van Laak (Gießen) die neue Perspektive in der Geschichtswissenschaft. Vor allem die Betrachtung von Räumen als nicht mehr flächenhafte Einheiten, sondern als Passagen oder Übergangszonen begeisterten van Laak, da dieser Blickwinkel, seiner Meinung nach, den Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften widerspiegle. Ferner hob er die Sensibilität der Referenten hervor, die sich aus seiner Sicht weniger klassischen Grenzen widmeten, sondern vielmehr einem neuartigen Ansatz, unabhängig von der traditionellen Betrachtungsweise von nationalen Einheiten, widmeten.
Julia Naßutt ist Studienrätin für die Fächer Englisch und Geographie am Hohenstaufen-Gymnasium Eberbach. |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Angela Siebold
Jedoch seien trotz dem Ende der deutschen Teilung neue Grenzen entstanden, die sich auf anderen Ebenen bewegten, wie etwa im ökonomischen, kulturellen oder sogar im kulinarischen Bereich.
Grenzauflösungen, so Daston, bedeuteten immer auch das Ziehen neuer Grenzen, die nötig seien, um die Welt zu definieren, zu kategorisieren und ihr einen Sinn zu verleihen. Die Aufgabe der Historiker sei es dabei, herauszufinden, warum und wie Grenzen entstehen und verschwinden – seien es politische Grenzen oder subtilere Grenzen wie die zwischen Geschlechtern oder zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich. Auch bei der universitären Disziplinarität handele es sich um Grenzziehungen, die jedoch nicht nur Abgrenzung, sondern auch die Definition bestimmter Kompetenzen und Fähigkeiten bedeuteten.
* Foto rechts: Lorraine Daston mit Prof. Dr. Werner Plumpe (VHD)
Disziplingrenzen verwischen
Anschließend zeigte Daston anhand verschiedener Beispiele die vielfältige Bedeutung von Grenzziehungen auf. Erstens thematisierte sie die fließenden Grenzen zwischen der Wissenschaftsgeschichte und der Wissensgeschichte: Lange seien die Grenzziehungen innerhalb der Wissenschaft weitaus bedeutender gewesen als heute; der Gedanke, die Wissenschaft von äußeren Einflüssen „rein” zu halten, habe die Wissenschaft dominiert. Betrachte man jedoch die Praktiken der Wissenschaft, so verwischten die Grenzen zwischen Wissenschaft und Wissen in anderen Bereichen: Das wissenschaftliche Labor, die handwerkliche Werkstatt, der Markt oder der Haushalt wiesen durchaus ähnliche Praktiken auf.
Zweitens seien, so Daston, die Details und das Ausmaß der Unterschiede amerikanischer und deutscher Hochschulen wesentlich umfassender als man erwarten könnte. So sei beispielsweise der Frauenanteil unter den Professoren in den USA schon lange wesentlich höher als in Deutschland. Ein Grund dafür sei, dass die Idee einer strikten Komplementarität in Deutschland lange das Geschlechterverhältnis bestimmt habe, während das amerikanische Modell dagegen stärker auf Konkurrenz fokussiere. Weitere Unterschiede seien zum Beispiel Aspekte der universitären Organisationsstruktur, die auch Auswirkungen auf die Handlungs- und Arbeitsweisen der Wissenschaftler hätten.
Lorraine Daston: Die deutsche Art und Weise der Reflexion über Geschichte ist eine Form der Zukunftsplanung.”
Ein weiterer signifikanter Unterschied sei die Bedeutung, welche der Geschichte in Deutschland und den USA zukäme. Denn während das Prestige und das kulturelle Gewicht der Geschichte in Deutschland sehr ausgeprägt sei, würde in den USA mit der Formel „That’s History!” die Irrelevanz des Verhältnisses von Gegenwart und Vergangenheit zum Ausdruck gebracht. Wem das überdeterminierte deutsche Geschichtsbewusstsein nicht vor Augen sei, solle, so Daston, nach Texas fahren, um zu erfahren, was Geschichtsverdrossenheit bedeute. Mittlerweile sei ihr klar geworden, dass die Reflexion über die Vergangenheit in Deutschland durchaus auch als Art verstanden werden könne, die Zukunft zu planen.
Im Kontext der Diskussionen um Elitenuniversitäten in den USA und Deutschland stellte Daston die Grenzen zwischen den Evaluierungskategorien „gut”, „besser” und „am besten” dar. Die Kontroverse um die Elitenuniversitäten würde in der Presse oft als Konflikt um politische Werte dargestellt. Der vermeintliche Gegensatz zwischen Solidarität in Deutschland und Wettbewerb in den USA sei jedoch übertrieben. Denn auch die deutschen Universitäten befürworteten die Schaffung von meritokratischen Strukturen. Schließlich ginge es im Universitätssystem immer auch um die Schaffung von Hierarchien.
Ohne Grenzen geht es nicht
Gleichzeitig sei die bisher ungekannte „Evaluierungswut” deutlich sichtbar, etwa im Leistungsdruck aufgrund mangelnder öffentlicher Gelder oder im Gutachtenwesen. Auf wertende Grenzziehungen könne die Universität nicht verzichten, da das Konkurrenzdenken im wissenschaftlichen System für Forschung und Lehre unverzichtbar sei. Dabei unterliege das Universitätssystem jedoch weniger transparenten Regeln als andere Institutionen, die über öffentliche Gelder verfügten. Denn Aspekte wie die Wertschätzung von Vertrauen und der Einsatz der Urteilskraft seien in der Wissenschaft wesentlich für die Qualitätssicherung. Daston betonte damit die Wissenschaft als ein eigenes Feld mit seiner eigenen Geschichte, seiner eigenen Logik und eigenen Standards.
(Redaktion: KP/MS)
]]>By Julia Naßutt
The panel was introduced by Dr. Veronika Lipphardt (Berlin) and Dr. Corinna R. Unger (Bremen), who also chaired the discussion.
* Interational picture language by Otto Neurath
The panel’s aim was to approach the topic with “voices from below” instead of taking a “view from the top”. Researchers had interviewed individuals in order to gain qualitative data on their attitudes and motives towards birth control and contraceptive methods.
Field work done by the method of oral history in a post-colonial context was presented by Dr. Alexandra Widmer (Berlin). She interviewed local women on Vanuatu, an island nation located in the South Pacific Ocean, in order to gain an insight into the social and demographic change of the population.
Another case study was carried out by Dr. Jesse Olszynko-Gryn (Cambridge). He analysed the globalisation of tubal ligation in the 1970s. Tubal ligation “was a risky in-patient procedure performed under general anesthesia in a hospital setting”, which involved expertise knowledge of the doctor.
His examination of medical techniques to control population growth was an interesting historical research to show how the “new” method coming from Maryland, USA, to developing countries such as India.
A third and final discourse was given by Dr. Sybilla Nikolow (Bielefeld) on Otto Neurath’s representation of population. Otto Neurath (1882-1945), an Austrian philosopher of science, sociologist, and political economist, who worked on graphic design, created so called isotypes. These symbolic ways represent, e.g. demographic facts, and were able to inform a mass audience about certain groups of people or population movements. Demographic data was symbolised by easily interpretable icons, for example, certain colours denoted “skin colours” or distinct headdresses ethnic groups.
In this case study one was able to detect how Neurath’s pictorial statistics visualise population changes at the end of the 20th century.
Final commentary remarks were added by Prof. Dr. Patrick Wagner (Halle). He emphasised the fact that “in order to transform a population into an imaginary society one needs expert knowledge” to do so. Wagner also pointed out further fields of research; power and ideology, on a local, national, and international level, have to be taken into consideration.
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Von Bernhard Schell. Mit Anmerkungen von Friederike Gund und Klaus Körmös.
Seit Pisa kommen die Lehrpläne an den deutschen Schulen nicht zur Ruhe. Das schlechte Abschneiden war auch für das Fach Geschichte der Anlass, den Lehrplan einer Revision zu unterziehen. Im Jahr 2006 hatte der Verband einen ersten Entwurf für mögliche Standards unter dem Titel „Bildungsstandards Geschichte – Rahmenmodell Gymnasium, 5. – 10. Jahrgangsstufe” publiziert. Der bundesweite Anspruch dieser Standards gab zu intensiven Diskussionen Anlass, die auch auf dem Historikertag ihren Widerhall fanden. Der Leitgedanke eines länderübergreifenden Kerncurriculums musste inzwischen fallengelassen werden. Einige Bundesländer haben nämlich ihre Lehrpläne veröffentlicht und dabei bewusst auf Inhalte verzichtet, da dies Fachkonferenzen und letztlich jedem Fachlehrer überlassen werden soll.
Das Ringen um Standards und einen verbindlichen Kanon
In der Sitzung wurde nun den interessierten Kollegen ein Neuentwurf der Bildungsstandards für die Sekundarstufe I überreicht. Ein verdienstvolles Unterfangen, war die Kritik beim ersten Entwurf doch teilweise stark überzogen und niederschmetternd. Der Entwurf stellt ein Zwischenergebnis der letzten Jahre dar und soll das Konzept weiterentwickeln helfen.
Ulrich Bongertmann führte dann unter tatkräftiger Mithilfe seiner Mitstreiter das Auditorium durch diesen Entwurf, er machte dabei klar, dass der Arbeitskreis ebenso die Diskussion der letzten Jahre in diesen Entwurf einfließen ließ wie auch das Prinzip der Reduktion der Inhalte. Auffällig war dabei, dass es keine Spalte mehr für Sachwissen gibt. Die Antike wurde weiter reduziert. Besonders die verbindlichen Inhalte für das Mittelalter waren auch in der Arbeitsgruppe umstritten. Der Zuhörerschaft fiel in diesem Zusammenhang auf, dass der Entwurf Jahreszahlen fast ausblendete, was nicht überall Zustimmung fand.
Wie wichtig sind Jahreszahlen? Darf man aus den Lehrplänen streichen, was unbequem ist?
Die Angst, dass man weglässt, was unbequem ist, war nicht ganz auszuräumen. Hier ist aber der einzelne Fachlehrer gefordert. Trotzdem ist hier sicherlich noch Gesprächsbedarf, zumal wenn man die Lernenden im Blick hat. Ihnen ist ein zeitliches Gerüst für das für viele als schwierig empfundene Fach hilfreich. Wie ein verbindlicher Kanon aussehen sollte, ist allerdings eine andere Frage. Die Arbeitsgruppe machte allerdings klar, dass die Bundesländer einen unterschiedlichen Stundenumfang für das Fach Geschichte bereitstellten, ein bedenkliches Vorgehen!
Der Block B1 „Frühe Neuzeit” ist besonders heterogen empfunden worden. Allerdings hat die Arbeitsgruppe versucht, einen roten Faden einzubauen, indem sie einen Schwerpunkt auf Großbritannien – Frankreich – Deutschland legte, auf Demokratie – Zentralismus – Föderalismus. Damit wird ein enges nationales Geschichtsdenken überwunden, nicht nur ein Tribut an das Tagungsthema. Auch das lange 19. Jahrhundert folgt diesem Prinzip. Geschichte ist nicht nur eine Wissenschaft von der Vergangenheit, sondern auch von der Gegenwart. Es ist daher unumgänglich, so Bongertmann, sich zum Beispiel bei der Sozialen Frage im 19. Jahrhundert auch mit der Sozialen Frage des Jahres 2010 zu beschäftigen.
Der zeitliche Umfang des Blockes C + D, das „20. Jahrhundert”, wird von Seiten der Kommission als zu kurz empfunden, sie sieht aber selbst keine andere Lösung.
Weitere Diskussionen notwendig
Die sich nun anschließende Diskussion verlief in den Augen vieler Besucher unbefriedigend. Hier fiel auf, dass alte Positionen neu und emotional vorgetragen wurden. Etwas für „Insider”. Schade, hier wurde eine Gelegenheit vertan, mit dem breiten Fußvolk ins Gespräch zu kommen. Sieht man von diesem Menetekel ab, dann kam vor allem die Verkürzung des Sprachvermögens der Schüler zur Sprache, was das differenzierte Urteilen über historische Sachverhalte nicht leichter macht. Ein richtiger Sachverhalt, der aber für alle Unterrichtsfächer zutrifft. Auch die Themenauswahl des Blocks „Mittelalter” traf auf Widerspruch. Das Grundanliegen, dass die Wurzeln unserer heutigen Gesellschaft verdeutlicht werden, leuchtete allen ein, aber die Auswahl der Themenfelder nicht. Auch hier bedarf es noch weiterer Diskussion.
Das verdienstvolle Anliegen des Arbeitskreises, die Diskussion um die Bildungsstandards voranzubringen, ist gelungen, dafür sei ihm ausdrücklich gedankt. Gesprächsstoff für die nächsten Jahre ist da. Es ist daher auch sinnvoll, so wie es Herr Bongertmann andeutete, sich bei der Überarbeitung Zeit zu lassen. Die anvisierten vier Jahre sind sicherlich realistisch. Allerdings droht die Diskussion den eigentlichen Adressaten, die Schüler, aus den Augen zu verlieren und das wäre schade. Die nun folgenden Berichte zweier Schüler sind daher auch eher als Appell zu verstehen.
* Ulrich Bongertmann (Rostock) moderiert die Podiumsdiskussion
Bernhard Schell ist Oberstudienrat für die Fächer Geschichte und Religion am Hohenstaufen-Gymnasium Eberbach. |
Fällt die Geschichte nach 1945 unter den Tisch?
Ein Zwischenruf von Friederike Gund
Mit großen Erwartungen ging ich in den Vortrag „Schulfach Geschichte: Geschichtslehrpläne ohne Inhalte?” Ich war gespannt, weil nicht nur ich als Schülerin der Meinung bin, dass die neueste Geschichte nach 1945 zu wenig bzw. teilweise überhaupt nicht im Unterricht behandelt wird. Da schien der Titel dieses Vortrags sehr passend, um darauf eine Antwort zu liefern. Der sehr gut besuchte Vortrag begann mit der Vorstellung des länderübergreifenden Kerncurriculums.
Wie soll die Geschichte seit dem 2. Weltkrieg im Unterricht behandelt werden?
Die Präsentation war unübersichtlich und dem Referenten war, auf Grund verschachtelter Schriftsprachentexte, kaum zu folgen. Im Anschluss daran stellten die Diskutanten jeweils ihren Teil des Bildungsstandard-Programms vor und allmählich ging das Ganze in die Podiumsdiskussion über.
Es wurde beispielsweise die Frage gestellt, welche Argumente das Gremium vorbringen könnte, wieso man als Lehrer die Epoche Mittelalter weiterhin behandeln sollte und wie dabei der Bezug zur Gegenwart hergestellt werden kann. Diese und weitere Fragen aus dem Auditorium wurden sehr knapp und meiner Meinung nach unzulänglich beantwortet, teilweise belächelt.
Meine Erwartung, von einem Plan zu erfahren, wie man die Thematik nach dem Zweiten Weltkrieg zeitlich im Geschichtsunterricht unterbringen kann, konnte leider in keiner Hinsicht erfüllt werden. So bleibt für mich der Lehrplan nach 1945 ohne Inhalt.
Streit um Details. Das große Ganze wird vergessen.
Ein Zwischenruf von Klaus Körmös
Enttäuschend: Auch zukünftig wird die Französische Revolution vermutlich drei Mal im Unterricht durchgekaut.
Anfangs macht man sich noch Hoffnungen bei diesem Thema der Historikertage: „Geschichtslehrpläne- Lehrpläne ohne Inhalt”, da ändert sich vielleicht was für die Schülerinnen und Schüler! Vielleicht wird der Lehrplan endlich entmüllt und man bekommt auch Geschichte nach 1945 mit und wiederholt im Laufe seiner Schullaufbahn nicht drei Mal die Französische Revolution oder redet in übertriebenem Maße über die Spätfolgen des Mittelalters. Hoffnungen, Wünsche und eine gewisse Erwartungshaltung stellten sich bei mir zu Beginn dieser Vorlesung ein, doch es sollte anders kommen als erwartet und erhofft.
Viel von dem, was wir erzählt bekamen über Ideen, Ziele und auch sogenannte Lehrpläne war für mich aus Sicht eines Schülers in vielerlei Hinsicht schwer zu verstehen und kaum nachzuvollziehen.
Man bekam in der für mich persönlich zum großen Teil sinnlos erscheinenden Diskussionsrunde den Eindruck, dass hier viele kleine Interessens- und Konfliktgruppen aufeinander treffen und nicht das Wohl der Schüler und die sogenannte „Bildung” im Vordergrund stehen. Leider kann ich bestätigen, dass in meiner Schullaufbahn die Geschichte nach 1945 bis hin zur Wiedervereinigung 1989 kaum besprochen, geschweige denn behandelt wurde.
Ist es da wirklich sinnvoll, über Kleinigkeiten im Lehrplan, wie welche Jahreszahlen besonders wichtig seien, zu diskutieren, anstatt sich auf die für die Allgemeinheit wichtigen Daten und Fakten der Geschichte zu beschränken? Die Schullaufbahn soll nicht als Vorbereitung oder gar Einführung eines Geschichtsstudium dienen, sondern viel eher eine Bereicherung des Allgemeinwissens sein.
Für viele Schüler ist es schwer, sich für Geschichte zu begeistern, da viel zu viele Jahreszahlen verlangt werden anstatt verschiedene Ereignisse in den historischen Kontext einzuordnen. Ist es da ein Wunder, dass Geschichte von so wenigen Schülern positiv aufgenommen wird, wenn die Lehrer ihren eigenen Lehrplan nicht unterrichten können, sei es aus zeitlichen Gründen oder aus Kompetenzfragen? Ich denke nein und dieser Vortrag hat mir mehr als deutlich gezeigt, dass sich für den geschichtsinteressierten Schüler im Unterricht nicht viel ändern wird.
Geschichtslehrpläne ohne Inhalt? Leider ja.
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Angela Siebold
Das von Bettina Severin-Barboutie geleitete Panel auf dem Historikertag setzte sich mit diesem Thema im Kontext europäischer Städte auseinander. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, welchen Einfluss nationale Zuschreibungen auf städtische Strukturen aufweisen; die Stadt sollte dabei nicht nur als aufnehmender Raum, sondern als Akteurin und Produzentin von Strukturen und Grenzziehungen aufgefasst werden. Auch wenn dieser Aspekt in allen Vorträgen etwas in den Hintergrund rückte, lieferte das Panel einen vielfältigen Einblick in die Bedeutung nationaler Fremd- und Selbstzuschreibungen im Migrationskontext.
* Protestierende Immigranten ohne (offizielle) Papiere im April 2008 in Paris
„Nationalisierung in der Fremde”
Den Einstieg in die Vortragsrunde lieferte Roberto Sala, der die Bedeutung von Stadt und Nation im italienischen Einwanderungsprozess nach Deutschland diskutierte. Seinen Ausführungen stellte er zwei Raumvorstellungen voran, welche den Kontext der sogenannten Gastarbeiter aus Italien mit prägten: den Raum des Einwanderungslandes sowie den Bezug zu ihrem Herkunftsland. Dabei stellte er die Nation als eine sehr kompakte Vorstellung eines Herkunftsraumes heraus, der nur scheinbar selbstverständlich sei, da für Migranten häufig andere räumliche Bezüge wie etwa ihr lokaler Herkunftsraum viel relevanter gewesen seien – ein Umstand, der sich auch auf der sprachlichen Ebene niederschlug, indem häufiger in regionalen Dialekten als auf Hochitalienisch gesprochen worden sei.
Anders sei dies bei den „Elitenitalienern” gewesen, also bei denjenigen Italienern, die als Vertreter italienischer Institutionen nach Deutschland kamen, um die Gruppe der italienischen „Gastarbeiter” in Deutschland zu vertreten; durchaus mit dem Anspruch, sie in Form einer national bestimmten „Schicksalsgemeinschaft” zu definieren. Diese Vertreter kirchlicher und staatlicher Institutionen unterschieden sich jedoch in mehrfacher Hinsicht von den Arbeitsmigranten aus Italien: Sie kamen überwiegend aus Norditalien, sprachen keinen Dialekt, waren in Städten sozialisiert worden und gehörten einer höheren Bildungsschicht an als die große Mehrheit der „Gastarbeiter”, die süditalienisch und dörflich geprägt waren und einen geringeren Bildungsgrad aufwiesen.
Leider werden primär nationale Identifikationsmuster in den meisten Forschungsprojekten zu Migration vorausgesetzt.
Diese Diskrepanz zwischen der Migrantenperspektive der „Gastarbeiter” und der „Elitenitaliener” ließe sich nicht auf die gemeinsame nationale Zugehörigkeit verkürzen; so habe der „kulturelle Schock” der Arbeitsmigranten weniger darin bestanden, von Italien nach Deutschland, denn aus einer dörflich und familiär geprägten Struktur in die Großstädte der Bundesrepublik zu ziehen. Die „Nationalisierung in der Fremde” hatte nicht nur Auswirkungen auf die Wahrnehmung der italienischen Migranten innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Sie spiegele sich auch, so Sala, in vielfältiger Weise in der historischen und sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung wider, in der häufig nationale Identifikationen in den Forschungskonzeptionen vorausgesetzt und damit die Ergebnisse der Analysen von vorn herein in national geformte Bahnen gelenkt würden. Alternative Raumvorstellungen und Identifikationsmuster könnten gar nicht zur Sprache kommen, da die Forschungen dies bereits in ihrer Konzeption unterbänden.
Spanische, deutsche, afrikanische Immigranten?
Anschließend zeigte Imke Sturm-Martin die Wahrnehmung und Kategorisierung der Nachkriegsmigration im Frankreich und Großbritannien der 1950er und 1960er Jahre auf. Die im britischen Fall aus der Karibik und Südasien, im französischen Fall aus Italien und Nordafrika stammenden Einwanderer hätten sich, so Sturm-Martin weiter, hauptsächlich in großen, häufig auch industriell geprägten Städten niedergelassen. Dabei sei die Wahl des Zielortes den Kriterien gefolgt, ob bereits eine Bezugsperson vor Ort wohnte und ob eine Aussicht auf Beschäftigung bestand. Dies habe einerseits zur Existenz nationaler Großgruppen in Städten geführt. Allerdings sei der urbane Kontext auch die notwendige Voraussetzung für eine Partizipation der Migrantengruppen am sozialen Leben im Einwanderungsland gewesen. Ein Wandel im Bewusstsein gegenüber diesen Großgruppen habe jedoch erst in den 1960er Jahren eingesetzt.
Der Zuschreibung nationaler Kriterien sei insofern eine ungewöhnliche Rolle zugekommen, als dass diese nicht nur eine Distinktionsfunktion hatte, sondern auch Hierarchisierungen verdeutlichte. Denn während die Einwanderer aus dem kontinentaleuropäischen Raum nach ihrer nationalen Herkunft eingestuft und wahrgenommen wurden, bezeichnete man diejenigen Migranten, die im (post)kolonialen Kontext nach Frankreich und Großbritannien kamen, als Zugehörige von Rasse oder Regionen, wie etwa als coloured immigrants, colonial immigrants, africains oder musulmans.
Dieser Umstand erinnert auch an heutige europäische Wahrnehmungsmuster, in denen etwa Afrika häufig nicht analog zu anderen Weltregionen, sondern zu Nationalstaaten gesetzt wird und damit eine ungleich stärkere Simplifizierung bedient wird als dies nationale Stereotype tun.
Defizitäre Franzosen
Auf jugendliche Migranten in französischen Großstädten ging im dritten Vortrag Susanne Grindel ein. Sie zeigte Diskussionen in Frankreich auf, die auf die Vorstellung einer Unfähigkeit oder auch Unwilligkeit der Migranten zur Integration rekurrierten. Dies habe in Frankreich zu einer neuen Debatte um die Tragfähigkeit des französischen Republikanismusmodells geführt.
Besonders die Schule, die in Frankreich als zentrales Integrationsinstrument wahrgenommen würde („Die Schule der Nation”) zeige eine Krise der Repräsentation des französischen Staates auf. Dementsprechend hätten sich die Unruhen und Krawalle französischer Jugendlicher in den Vorstädten der letzten Jahre auch hauptsächlich gegen öffentliche Institutionen gerichtet.
Das republikanische Versprechen der egalité klingt in Ohren vieler Jugendlicher als heuchlerisch.
Das republikanische Versprechen der egalité und damit vor allem der Chancengleichheit würde von vielen Jugendlichen als heuchlerisch verstanden. Von staatlicher Seite herrsche dagegen die Angst vor, die französischen Vorstädte könnten aufgrund der sozialen Unruhen zu „unbegehbaren Räumen” innerhalb der Stadt werden.
Weiterhin zeigte Grindel auf, wie mit dem Thema Migration in aktuellen französischen Schulbüchern umgegangen wird. Dabei stellte sie drei Aspekte heraus: Erstens würde die Migration, die im Kontext der französischen Nachkriegsgeschichte, nicht aber in einem europäischen Rahmen thematisiert würde, aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft dargestellt. Dabei würde etwa die Frage gestellt, was Migranten leisten müssten, damit ihre Integration in die französische Gesellschaft gelingen kann. Zweitens würde keine Verbindungslinie hergestellt zwischen der französischen Kolonialgeschichte und der Migration nach Frankreich. Drittens reproduzierten die Schulbücher das Bild von Migranten als defizitäre Franzosen, die ein Entwicklungsbedürfnis aufwiesen. Dieser Aspekt führe, so Grindel, zu einer weiteren Unzufriedenheit und Enttäuschung unter den Jugendlichen.
Transnationale Migrantennetzwerke
Abschließend lieferte Martin Zillinger einen ungewöhnlichen Einblick in die Struktur und die Bedingungen ethnischer Ökonomien und transnationaler Netzwerke in Brüssel. Er stellte dazu sowohl marokkanische als auch christliche arabische Migranten vor, die über verschiedene Wege und mit unterschiedlichen Motivationen nach Brüssel gekommen waren.
Anhand seiner Ausführungen stellte er heraus, dass die Offenheit sozialer Netzwerkbildung in der neueren Forschung stärker berücksichtigt werden sollte. So wies die soziale Vergemeinschaftung beispielsweise häufig spezifische lokale Bedingungen und Strategien auf; die Eigendynamik von Migrationsprozessen sei zudem durch die billigen und guten Kommunikationswege der Migrantennetzwerke zu ihren Herkunftsräumen verstärkt worden.
Zillinger stellte die Frage, inwiefern die knappen Ressourcen der Migranten in Handlungsinitiativen übersetzt würden. Dazu zeigte er drei Strategien auf: Die der Patronage, der Klasse sowie der politischen Repräsentation. Durch die gemeinsame Kooperation mit Gleichgesinnten fände so eine Fraktionsbildung statt, wodurch zum Beispiel die Kosten für Unterkünfte gedeckt würden, da diese nur kollektiv getragen werden könnten. Dabei spielten die nationale Verortung, die Vernetzung transnationaler Migrantengruppen sowie die Beziehungen zum Herkunftsort eine bedeutende Rolle. Die nationalstaatliche Ebene allein sei nicht gut geeignet, um Migrantennetzwerke zu erklären: So verließen die christlichen Araber beispielsweise ihre nationalen Netzwerke, um sich über die kirchliche Ebene mit Migranten anderer nationaler Herkunft zusammenzuschließen.
(Redaktion: KP/MS)
Von Friederike Gund
Passend zum Thema Grenze wählte Prof. Dr. Auge sein Thema: der Traum vom Fliegen. Hierzu bedarf es der Auseinandersetzung mit verschiedenen Bereichen: der Technik-, Religions- und Kirchengeschichte sowie der Literaturgeschichte. Die wichtigste Frage, die man sich dabei stellt, ist, welche Techniken man in der Vergangenheit zum Fliegen verwendete und ob das Fliegen damit überhaupt möglich war.
* Die Skizze zeigt die Flugspirale von Leonardo da Vinci.
Till Eulenspiegel, der Flug vom Magdeburger Rathaus und ein menschenalter Traum
Exemplarisch dafür erweist sich die 14. Historie des Till Eulenspiegels, der Flug vom Magdeburger Rathaus. An diesem Beispiel zeigte Prof. Auge auf, dass die Menschen im Mittelalter nach Neuem strebten und den Traum vom Fliegen hatten, wie ein Vogel durch die Lüfte gleiten wollten.
Bereits in frühchristlichen Bildern entdeckt man häufig Engel mit Vogelfedern, die Botschafter Gottes, die zwischen der Erde und dem Himmel hin und her flogen. Die Himmelfahrt Christi zeigt sich bereits im mittelalterlichen Festkalender und auch die Apostelgeschichte erzählt vom aktiven Flug in den Himmel, bei dem Christus von Engeln hinaufgetragen wird. Neben der Himmelfahrt Christi wird auch Mariä Himmelfahrt verehrt. Auf dem Konzil in Ephesos 431, auf welchem diskutiert wurde, ob Maria eine „Gottesgebärerin” oder die Gebärerin des Christus sei, wurde entschieden, sie als „theotokos” (griechisch für „Gottesgebärerin”) zu bezeichnen. Die eigentliche Marienverehrung begann jedoch erst im 11. Jahrhundert.
Auf einigen Bildern des Mittelalters sind Betende ebenfalls leicht vom Boden erhoben mit Flügeln dargestellt. Sie befinden sich in der sogenannten Levitation. Nicht mehr vergleichbar mit unseren heutigen Assoziationen dazu war das Fliegen in mittelalterlicher Zeit ein Attribut des Göttlichen. Vor allem die Sage von Dädalus und Ikarus war den Menschen eine Warnung, nicht zu hoch hinaus zu wollen. (siehe Darstellung rechts)
Der Flugversuch des Simon Magus um 1490 zeigt, dass an der Wende vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit das Thema Fliegen präsent geblieben war. Doch Simon Magus stürzte aus den Lüften vor dem Kaiser nieder, wurde als Simon der Gaukler beschimpft und als Vater aller Ketzer. Die Rede war von einem Dämonenflug.
Flügel: Die Verbindung mit dem Göttlichen
Anders als in der Religionsgeschichte stehen in der Literaturgeschichte die germanischen Götter, vor allem die Walküren, im Vordergrund. Mit ihren Flügeln stellen sie die Verbindung zu etwas Göttlichem her.
Exemplarisch zu dem Traum vom Fliegen und dessen Grenzen stellte Prof. Auge die Geschichte von einem jungen Mann vor, der Greife (eine Mischung aus Löwe und Adler) an einem Korb befestigte und über dem Korb Köderfleisch anbrachte, sodass eine Aufwärtsbewegung durch das Fliegen der Greife entstehen konnte. Doch das Konstruieren eines solchen Flugapparates wurde als Verkörperung des Antichristen angesehen, da versucht wurde, in die göttliche Sphäre einzudringen, und der Jüngling mit einem Sturz in die Tiefe bestraft wurde.
So war der Wunsch, fliegen zu wollen, zum Einen motiviert durch Neugier und dem Streben wider die Gottheit, zum Anderen auch ein Kampf zwischen dem Monopol der Luftfreiheit und zwischen Christen und Heiden.
Als wichtiges Thema stellten sich die Hexen heraus, die mit selbsthergestellten Salben nach den Anleitungen des Dämons durch die Lüfte flogen. Die Hexen hatten die Kraft zur Verfügung, fliegen zu können und konnten sie einsetzen, wenn sie nur wollten. Die Hexe wurde als willige Täterin dargestellt.
Gescheiterte Flugversuche
Der Mönch Eilmer von Malmesbury, der im 12. Jahrhundert lebte, band sich Flügel an Hände und Füße, stürzte jedoch bei seinem Flugversuch und blieb verkrüppelt. Auch ein Geistlicher aus England unternahm einen Flugversuch, stürzte ebenfalls ab und brach sich ein Bein.
1256 entwickelt Roger Bacon einen Flugapparat, der ein Steuer für den Menschen aufweist und bewegt werden kann, sodass die Flügel durch die Luft peitschen. Um die Grenze oder auch den Fortschritt, den die Menschen im Mittelalter gemacht haben, erkennen zu können, muss man sich an das damalige Weltbild erinnern, dass Luft um die Erde eingeschlossen war und außen herum ein riesiges Feuer. So kam man auf die Theorie, dass ein Schiff in der Luft fliegen kann, wenn man es mit Feuer befüllt. Hier wird erneut deutlich, dass Geschichte Zukunft hat.
Die Rakete, die in China im 11. Jahrhundert erfunden wurde und im 13. Jahrhundert nach Deutschland kam, war möglicherweise schon Gegenstand des Kriegswesens im Spätmittelalter. Auch die Kunst des Drachenfliegens, ebenfalls in China erfunden, bei dem die Zunge des Drachen Feuer spuckt und mit diesem durch die erwärmte Luft schweben kann. Man erkannte also, dass das Feuer essentiell für das Fliegen war. Aufgrund eines Traums beschäftigte sich Leonardo da Vinci ein Leben lang mit dem Fliegen. Er konstruierte verschiedene Fluggeräte, Fallschirme und auch Hubschrauber. Er legte einen weiteren Grundstein für die Zukunft des Fliegens, denn Geschichte hat Zukunft.
Der Vortrag illustrierte sehr schön die innovativen Leistungen der Menschen im Mittelalter, zeigte jedoch auch, dass diese nicht immer zur Verwirklichung ihrer Träume ausreichten.
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Martin Stallmann
Mit der Pioniergeschichte des jesuitischen Paters illustrierte Malte Rehbein, der am Lehrstuhl für Computerphilologie und Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Würzburg lehrt, den Einzug der Computertechnologie in den geisteswissenschaftlichen Alltag. In der modernen Arbeitswelt und in der Wissenschaftspraxis ist der Personal Computer allgegenwärtig, egal ob beim Niederschreiben der neuesten Forschungsergebnisse, bei der Recherche in Datenbanken oder in der mitunter Überhand nehmenden E-Mail-Kommunikation. Der Computer ist Teil der wissenschaftlichen Praxis geworden. (* Das Foto zeigt ein Relikt vergangener Zeiten: Den Zettelkasten.)
Virtueller Urkundenschatz
Ein Beispiel hierfür zeigte Georg Vogeler, der wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der LMU ist. Unter Verweis auf Monasterium.net stellte er die Möglichkeiten einer virtuellen Urkundenlandschaft dar, in der kollaboratives Arbeiten durchführbar ist und neue Formen von Untersuchungskategorien eingeführt werden können. Allein im virtuellen Archiv von Monasterium sind über 100.000 Urkunden online verfügbar. Eine schier unglaubliche Datenmenge, die zugleich einen Wissenschaftsschatz darstellt, den es zu bergen gilt.
Der Zettelkasten, das einstige Arbeitsinstrument der Historiker, fristet heute ein tristes Dasein.
Wie die Urkunden über die Datenströme des Internets zu den Forschern gelangen, so hat auch der Zettelkasten der Bibliotheken den Weg zum Historiker gefunden – in Form der verschiedenen Bibliotheksdatenbanken. Somit fristet der ursprüngliche Zettelkasten, der Generationen von Historikern ein alltägliches Instrument war, inzwischen ein tristes Dasein.
Angesichts der modernen Arbeitsweisen fragte Patrick Sahle von der Universität Köln anschließend, ob man sich nun auf dem Weg zu einer digitalen Wissenschaft befände. Die Sektion ‚Virtuelle Grenzen der Geschichtswissenschaft’ zeigte somit den Stand der digitalen Geschichtsforschung auf und fragte zudem nach Perspektiven.
In der Podiumsdiskussion wurden weitere Chancen und Möglichkeiten, aber auch Probleme einer ‚digitalen Welt’ thematisiert. Helmut Flachenecker (Universität Würzburg) stellte das Internetportal „Historisches Unterfranken” vor, welches die Forschung bereichern und historisch Interessierten Informationen bereitstellen soll. Peter Haber (Universität Basel) verwies bei der Diskussion um die ‚Copy-and-Paste-Kultur’ darauf, dass durch eine bessere Betreuung an den Universitäten Plagiaten entgegengewirkt werden könnte, zudem müsse die Informationskompetenz bei einer digitalen Geschichtsschreibung gestärkt werden.
Mit interessanten Anmerkungen bereicherte darüber hinaus Jakob Krameritsch (Akademie der bildenden Künste Wien) die Sektion. Angela Schwarz (Universität Siegen) plädierte dafür, Internetseiten wie Youtube verstärkt in den Blick der historischen Forschung zu nehmen, schließlich seien viele Clips auch Ausdruck einer Popularisierung der Geschichte. Der Nachdreh der Grenzöffnung von 1989 mit Legosteinen soll dafür nur ein Beispiel sein. Auch hier gilt es, Grenzen der bisherigen historischen Quellenarbeit neu zu definieren.
Martin Stallmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Klaus Körmös
Gleich zu Beginn merkte Prof. Rau an, dass ihr Vortrag, der in der Kategorie des Schülerprogramms zu finden war, nicht für Studenten oder studierte Personen sei, sondern viel eher ein Vortrag für Schüler sein sollte. Doch wie eingangs erwähnt, fand sich kein Schüler unter den wenigen Zuhörern und die Zielsetzung, einen Vortrag für Schüler anzubieten, wurde verfehlt. Prof. Dr. Rau musste dann auch bei ihrer Präsentation mehr oder weniger improvisieren, um die Zuhörer mit noch nicht bekannten bzw. neuen Thesen und Fakten zu „füttern”. (* Die Zeichnung zeigt ein legendäres Gasthaus, nämlich “Auerbachs Keller”. Allerdings nicht in der frühen Neuzeit, sondern im 19. Jh.)
Der Name der Veranstaltung war Programm und so drehte sich die gesamte Präsentation um die Gastfreundschaft und die verschiedenen Gasthausarten in Europa. Hauptaugenmerk lag dabei vor allem auf der Entwicklung der Gasthauskultur vom Mittelalter bis heute.
Gasthäuser als Kommunikations- und Integrationsrahmen
Zu Beginn war es der Rednerin ein Anliegen, über Begriffe wie „Grenze” oder „Gasthaus” zu reden und so etwas wie eine passende Definition für diese Begriffe zu finden. Sie konnte mehr als deutlich die verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten eines Gasthauses der Frühen Neuzeit darstellen. So fungierte ein Gasthaus im Mittelalter nicht nur als Ort der Gastlichkeit, wie der Name schon ausdrückt, sondern auch als zentraler Kommunikationsort und primärer Treffpunkt von Einheimischen und Fremden, aber auch von Nachbarn und Verwandten.
Auch beim Wort Grenze differenzierte sie. Sowohl als territoriale Grenze mit Türen, Schranken und Barrikaden kann man das Wort verstehen als auch als Form von sozialen Schranken und Begrenzungen durch die verschiedenen Schichten einer Gesellschaft und der daraus resultierenden Kauf- und Konsumkraft. Selbst die religiösen Grenzen in Gasthäusern durch Verbote oder damalige Gesetze kann man als Grenzen ansehen, genau wie die symbolischen Grenzen durch Grenzsteine oder aber „Durchgang-Verboten-Schilder”. Nicht zu vergessen seien dabei auch die temporären Grenzen, die durch Zeit und Generationswechsel wie von selbst verschwinden oder neu auftauchen.
“Die Gastlichkeit einer Kultur lässt sich an ihren Grenzen messen.”
Die Hauptthese, die Prof. Dr. Rau in den Raum stellte und ursprünglich mit Schülern diskutieren wollte, was sie nun aber mit einem studierten Kreis tat, war wie folgt: “Die Gastlichkeit einer Kultur lässt sich an ihren Grenzen messen.”
Mit dieser These wird auf die wechselseitige Abhängigkeit zwischen der (regionalen) Kultur und der Offenheit von Wirtshäusern in der jeweiligen Region angespielt. Schließlich kann sich erst dann eine gemischte Gesellschaft bilden, wenn viele verschiedene Menschen zusammenkommen und in einen Diskurs treten.
Wie sieht es für einen Fremden im Mittelalter in Europa aus, wenn er sich in ein hospitium, eine Herberge, eine Taverne, eine Patisserie oder ein Kaffeehaus begibt?
Darf er sich gleich an den Tisch mit Einheimischen setzen, um ein Bier zu trinken, darf er überhaupt eintreten ins Haus oder wird er vielleicht sogar verscheucht?
Um an solche Informationen und auch profunde Antworten zu kommen, sei es sehr wichtig, auf mehrere Quellen zurückzugreifen, wobei hier die persönlichen Reiseberichte von einzelnen und auch die Gerichtsakten, die meist über Raufereien oder Störungen berichten, wichtig seien. Sie geben Aufschluss darüber, wie ein Gasthaus oder eine Schenke aussahen und in welcher Art und Weise sie sich im Laufe der Zeit entwickelt haben.
Früher Wirthaustourismus: Das Beispiel Lyon
Besonders genau konnte die Referentin über Lyon berichten, wo es schon eine Karte aus dem Jahr 1690 gab, auf der die einzelnen Gasthäuser verzeichnet waren und in der sich schon so etwas wie „Tourismus” ankündigte, da sich hier die Gasthäuser an zentralen Punkten und Plätzen der Stadt orientierten oder sich alle in unmittelbarer Nähe zueinander befanden.
Das Gasthaus diente zudem auch noch als Ort der sozialen Integration zwischen den Geschlechtern und als Ballungsort für verschiedene Menschen mit zum Teil unterschiedlichen Auffassungen und Ideen.
Dass damalige Reisende zahlreiche Grenzen überschreiten mussten und dabei immer sowohl ihren Pass als auch einen Gesundheitsschein bei sich tragen mussten, dass sie dabei nie wussten, wem sie vertrauen dürften und wer sie im nächsten Moment ausrauben würde, und dass es damals noch keinen McDonald’s zur Verpflegung gab, zeigt die Wichtigkeit und den Stellenwert eines Gasthauses in der Zeit der Frühen Neuzeit als eine Art Zufluchtsort und vermeintlichen Ruhepol auf einer Reise.
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Christine Buch
Herr Klausmeier ist sich wohl bewusst, dass jener 1,3 Kilometer lange und 4,4 Hektar umfassende Streifen an der Bernauer Straße, auf dem sich das letzte Stück Mauer befindet, das in seiner kompletten Tiefenstaffelung erhalten geblieben ist, eine gewisse politische Brisanz birgt. Dies hat er schon am eigenen Leib erfahren. Die Stiftung, die er betreut, wird zur Hälfte vom Land, zur Hälfte vom Bund getragen. Da stoßen schon mal rot-rote und schwarz-gelbe Interessen aufeinander. Politik ist nicht einfach.
Leidvoll musste er auch Auseinandersetzungen ertragen, die ganz anderer Natur waren. Lange wurde – mit Beteiligung der Familienangehörigen – zum Beispiel über die Frage diskutiert, ob die acht an der Mauer erschossenen DDR-Grenzer Opfer oder Täter waren, ob ihre Fotos und Geburts- wie Sterbedaten zusammen mit den 136 Opfern, die in Berlin an der Mauer starben, ins „Fenster des Gedenkens” eingegliedert werden könnten. Hier gab es ebenfalls unterschiedliche Meinungen.
Aber heute ist etwas ganz anderes passiert. Nicht hier. Nicht in Berlin – in Baden-Württemberg, weit weg. Aber mit einem Mal steht das Telefon nicht mehr still und Berlin rückt mitten ins Geschehen.
Computerspiel „1378 (km)” spielt in den 1970ern an der deutsch-deutschen Grenze
An der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe hatte Jens M. Stober, 23 Jahre alt, Student der Medienkunst im 6. Semester, ein selbst entwickeltes Computerspiel als Diplomarbeit abgegeben. Nach Medienberichten (BZ) bekam er die Note 1 für sein Ego-Shooter-Spiel „1378 (km)” – 1378 km, die Zahl, die für die Länge der innerdeutschen Grenze steht, für menschliches Leid, Trennung, Verletzte und über 1000 Tote. * Der Screenshot oben rechts zeigt einen Ausschnitt des Trailers zum Videospiel.
Akteure des Spiels: Republikflüchtlinge und DDR-Grenzer. Schießbefehl inklusive.
Im Spiel schlüpft man entweder in die Rolle von Republikflüchtlingen oder in die eines DDR-Grenzpostens – der die unbewaffnete Spielfigur „Flüchtling” töten kann. Mit einem Maschinengewehr. Dafür bekommt der Spieler Punkte und Orden.
Nach der Pressevorstellung des Computerspiels hatte es heftige Kritik gegeben – und schon stand das Telefon von Axel Klausmeier nicht mehr still. „Dieses Spiel ist geschmacklos und auf Effekthascherei ausgelegt. Es gibt genug Zeitzeugen, die noch unter den Folgen dieser grausamen Teilung leiden”, so Klausmeier. Und damit steht er nicht allein da.
Kritik und Empörung über “Ballerspiel”
Heftige Kritik gab es auch von Gabriele Hiller, medienpolitische Sprecherin der Linken, die das Ballerspiel als „zynisch und perfide” bezeichnete. Michael Braun, kulturpolitischer Sprecher der CDU kommentierte: „Ein besonders geschmackloser Tabubruch” und die Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) kritisierte das Spiel als einen „Beitrag zur Enthemmung und Brutalisierung der Gesellschaft”, das niedere Instinkte bediene. Die Union sandte ein Protestschreiben an den Rektor der Hochschule, Peter Sloterdijk. (Quellen: BZ, dpa)
Das blutige Kapitel der deutschen Teilung als Ego-Shooter – kann das lehrreich sein?
Stober verteidigte sich in einem Interview mit der BZ: „Ich möchte jungen Menschen damit die deutsche Geschichte nahe bringen.” In der dpa-Meldung wird ebenfalls bestätigt, die Hochschule wolle mit dem Projekt Jugendliche für das Thema interessieren. Das blutige Kapitel der deutschen Teilung als Ego-Shooter – kann das lehrreich sein?
In das Spiel sind zahlreiche Informationstexte eingebaut. Auch „wahlloses Schießen erlaubt das Spiel nicht. Wenn der Soldat mehr als dreimal schießt, wird er aus dem Spiel genommen und muss sich in einem Mauerschützenprozess verantworten”. (Quelle: dpa)
Veröffentlichung auf Dezember verschoben
Große Kritik erntete die Hochschule auch deshalb, weil das Computerspiel ausgerechnet am 3. Oktober, dem 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, öffentlich gezeigt werden sollte. Diese Präsentation ist nun kurzfristig abgesagt worden, wie der Südwestrundfunk berichtete und die Hochschule für Gestaltung am Donnerstag bestätigte. Ein Sprecher der HfG begründete die Entscheidung mit den Worten: „Wir wollten den Druck aus der Diskussion rausnehmen. Mit dieser Debatte werden wir weder dem Spiel noch den Opfern gerecht”, so eine dpa-Meldung. Das Spiel solle nun voraussichtlich Anfang Dezember im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema präsentiert werden.
Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg teilte mit: „Wir begrüßen die Entscheidung der Hochschule für Gestaltung. Es ist richtig, die am 3. Oktober geplante öffentliche Präsentation des Spiels abzusagen, um auf die berechtigten Belange der Opfer an der innerdeutschen Grenze oder ihrer Angehörigen Rücksicht zu nehmen.”
Klausmeier blickt auf die Uhr. „Die Mauer und die Grenze – das ist ein hochpolitisches Thema. Auch heute noch, genau 20 Jahre nach der Wiedervereinigung.” Er nickt entschuldigend. Er hat heute noch einen Termin.
Christine Buch studiert Europäische Kunstgeschichte, sowie Mittlere und Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Medizingeschichte an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Marina Scheiff
In Zusammenarbeit mit der Körber-Stiftung verlieh der VHD im Rahmen des 48. Deutschen Historikertages erstmals Preise für herausragende Schülerleistungen im Bereich der Geschichtswissenschaft. Wie alle Redner des Abends hervorhoben, haben viele Jugendliche derzeit ein „primäres Interesse an Geschichte” (Prof. Dr. Hans Ottomeyer). Um nun auch dieses Interesse und vor allem eine vorwissenschaftliche Erforschung zu würdigen, möchte der VHD von nun an einen Schülerpreis verleihen. Dieser Preis soll für einen „besonders überzeugenden, reflektierten methodischen Ansatz oder für das Schließen einer Lücke” in der Geschichtswissenschaft zuerkannt werden, so Prof. Dr. Simone Lässig, Schriftführerin des Verbandes.
Schülerpreis für herausragende Arbeiten
Die beiden diesjährigen Preisträger, Giovanna-Beatrice Carlesso (19 Jahre) und Rahul Kulka (17 Jahre), hatten sich am Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten beteiligt. Unter dem Leitthema „Helden. Verehrt – verkannt – vergessen” hatte sich Giovanna-Beatrice Carlesso mit dem Brackenheimer Revolutionär Theodor Mögling beschäftigt. Dieser war in der Geschichtswissenschaft lange Zeit untergegangen. Durch Frau Carlesso wurde er – zumindest von den Mitgliedern der Bundesjury vom Geschichtswettbewerb, so Lässig – wiederentdeckt. Rahul Kulka hatte sich unter selbigem Oberthema mit hartnäckiger Akribie dem Berliner Hans Beimler gewidmet. Dieser ist in der BRD nahezu unbekannt, wurde in der DDR jedoch zeitweise als Volksheld verehrt. Wie heterogen das Leben dieses Menschen war, wird in der Arbeit Kulkas besonders deutlich.
Die Laudatio auf die Preisträger des Hedwig-Hintze-Preises und des Preises für jüngst Habilitierte hielt Prof. Dr. Hartmut Leppin, stellvertretender Vorsitzender des VHD. Er legte ein besonderes Augenmerk auf die zur Kreativität und zum Schreiben notwendigen Freiräume und die Stille, die den jungen Wissenschaftlern durch vielfältige Beratungs- und Verwaltungsaufgaben in den Universitäten oft fehlen. Umso mehr würdigte er die herausragenden Leistungen.
Der Historikerin Dr. Anne Sudrow wurde der Hedwig-Hintze-Preis für ihre Dissertation zum Thema „Der Schuh im Nationalsozialismus” verliehen. Vom scheinbar banalen Alltagsgegenstand ausgehend entwickelte Sudrow eine sehr innovative und eingängige Argumentation. Dabei befasst sie sich mit beinahe jedem Bereich der Geschichtswissenschaft. So beleuchtet die ausgebildete Schuhmacherin chemische Prozesse ebenso wie kulturhistorische, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte.
Habilitationspreis für Arbeit über spanische Kolonialzeit
Den Preis für jüngst Habilitierte bekam Prof. Dr. Arndt Brendecke (Foto rechts) für sein Werk zu „Empirie und Imperium” in der spanischen Kolonialzeit, in welchem er unter anderem das Verhältnis von Wissen und Macht herausarbeitete. Er ermöglichte weiterhin einen erstmaligen Einblick in das institutionelle Kolonialgefüge des frühneuzeitlichen Spaniens. Damit ergänzte er ganz neue Blickwinkel, welche die Forschung sicherlich beeinflussen werden.
Weiterhin wurden auf der Abendveranstaltung Teilnehmer des Doktorandenforums des Historikertages geehrt. Junge Promovierende hatten im Vorfeld die Möglichkeit, ihr Promotionsthema auf einem Poster graphisch zu gestalten. Bei der Auswahl der Gewinner kam es, so Prof. Dr. Andreas Ranft, Schatzmeister des VHD, auf die Balance zwischen der Darstellung des Themas in seiner ganzen Komplexität und der Reduktion auf plausible Thesen an. Drei junge Historiker konnten sich an diesem Abend über eine Ehrung durch den VHD freuen. Alle Plakate konnten noch bis zum Ende des Historikertages in der ersten Etage des Seminargebäudes betrachtet werden.
Den Festvortrag bei dieser Abendveranstaltung hielt Prof. Dr. Lorraine Daston, Direktorin des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Dabei ging sie besonders auf noch bestehende Grenzen sein. Sie unterstrich jedoch, dass nicht alle Grenzen immer gleich schlecht seien. Sie lud das Auditorium ein, auf eine Reise zu ihren eigenen, ganz persönlichen Grenzen zu gehen. Dazu zählte sie die Grenze zwischen Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, die Grenze zwischen amerikanischem und deutschem Hochschulsystem sowie die Grenze zwischen einer guten, besseren und besten Evaluation.
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Maria Neumann
Der Frage, inwiefern diese grenzüber-schreitenden Kooperationen dabei auf die politischen Parteien übergegangen sind, widmete sich am Donnerstagvormittag ein Panel des 48. Historikertages.
Die Formierung von Parteiorganisationen auf der europäischen Ebene ist generell eine junge Entwicklung, die bislang wenig erforscht wurde. Grundsätzlich sind politische Parteien nationalstaatlich verfasst und in der Parteiengeschichtsschreibung dementsprechend ebenfalls im Fokus des Nationalstaates etabliert. * Das Foto rechts zeigt den Saal der Kapitolinischen Museen, in dem 1957 die Römischen Verträge unterzeichnet wurden.
In einem ersten Abschnitt der Sektion sollten daher zunächst einzelne Parteienfamilien unabhängig voneinander betrachtet werden, wobei vor allem deren institutionelle und organisatorische Strukturen im Blickpunkt standen.
Im zweiten Teil hingegen standen vorrangig interdisziplinäre Zugänge im Zentrum der Ausführungen. An dieser Stelle galt es insbesondere, den Nutzen aus der Verbindung sozial- und geschichtswissenschaftlicher Methoden zur besseren Analyse politischer Vereinigungen und ihrer Wirkkräfte zu diskutieren.
Welches Potential haben transnationale Parteiorganisationen?
Alle Ausführungen waren dabei letztlich auf folgende Fragestellungen ausgerichtet: Wie ist das Potenzial transnationaler Parteiorganisationen grundsätzlich zu eruieren und schließlich zu bewerten? Welche Funktionen übernehmen parteipolitische Zusammenarbeiten dieser Art? Welche Möglichkeiten und Grenzen beinhaltet eine solche Kooperation?
Diese Fragen formulieren dabei eine Zielsetzung, die – konsequent verfolgt – auch bedeutet, dass sich die Grenzen zwischen Wissenschaft und politischer Praxis öffnen müssen und nicht weiterhin strikt auf veralteten Frontverläufen beharren können.
Konservative Initiativen
Eine der großen historischen Parteienströmungen Europas, die sich aus den christdemokratisch-konservativen Parteien zusammensetzt, hat Michael Gehler, Professor für Geschichte an der Universität Hildesheim, vorgestellt. Er hat darauf verwiesen, dass sich zwar insbesondere nach 1945 zahlreiche Parteienkooperationen aus diesem Milieu heraus formierten, diese aber immer wieder an mangelnder Relevanz scheiterten, da interne Differenzen bezüglich der ideologischen Ausrichtung oder die Logiken nationaler Parteienpolitik die Zusammenarbeit erschwerten. Zu Triebkräften solcher transnationalen Vereinigungen, wie der „Europäischen Union Christlicher Demokraten” (EUCD) oder der „Europäischen Volkspartei” (EVP/EPP) entwickelten sich hingegen gemeinsame Kongresse und Wahlkampagnen sowie Einzelpersönlichkeiten. Trotz der genannten, vor allem anfänglichen Schwierigkeiten expandierten die einzelnen christlich-konservativen Interessengruppen aber weiter und fusionierten nach dem Ende des Kalten Krieges.
Liberale Bestrebungen
Eine ähnliche Entwicklung lässt sich bei Kooperationen liberaler Parteien beobachten, die Professor Guido Thiemeyer im Rahmen seines Kurzreferates erläuterte. Auch er berichtete von der Existenz lockerer Verbindungen und Zirkel über einen langen Zeitraum, die, ähnlich wie bei den christlich-konservativen Parteien, vornehmlich durch Politiker besetzt wurden, die auf der nationalen Ebene die zweite Reihe bildeten. Diese Institutionen dienten dem Meinungs- und Erfahrungsaustausch, führten jedoch bei inhaltlichen Fragen meist nicht über oberflächliche Formelkompromisse hinaus. Nur in den Punkten Antikommunismus und Antitotalitarismus war das liberale Band wirklich einig. Der Beschluss zur Direktwahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments in den 1970er Jahren brachte jedoch eine neue Dynamik in die liberale Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. 1970 trafen sich führende Parteipolitiker auf der „Liberalen Parteiführerkonferenz”. Danach partizipierte die Politprominenz der nationalen, liberalen Parteien vermehrt und fortwährend an transnationalen Themen.
Sozialisten/Sozialdemokraten als Pioniere
Die mit Abstand ältesten Traditionen bei länderübergreifenden Kooperationen haben die sozialistischen/sozialdemokratischen Parteien. Seit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1863 gab es immer wieder Grundbekenntnisse zu grenzüberschreitenden Beziehungen. Bis 1945 gelang jedoch trotz aller Deklarationen keine Festlegung auf gemeinsame Ziele und Programme, wie Jürgen Mittag, Geschäftsführer des Instituts für soziale Bewegungen, überzeugend schilderte. Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg erste supranationale Organisationen etablierten, fiel es dabei sogar insbesondere der deutschen Sozialdemokratie schwer, sich zu integrieren.
Willy Brandt trug entscheidend dazu bei, dass der Kurs sich änderte und die anfängliche Skepsis, euphorischen Momenten wich. Gleichzeitig ist hervorzuheben, dass die Sozialistische Internationale schon 1962 ein gemeinsames Aktionsprogramm erarbeitete und die Bedeutung einer übernationalstaatlichen Perspektive für die sozialistischen/sozialdemokratischen Parteien in Europa unterstrich. Diese allgemein zunehmende Verdichtung parteipolitischer Zusammenarbeit, darauf hat Mittag eindrücklich verwiesen, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass tatsächlich schlagkräftige Parteien auf der europäischen Ebene in naher Zukunft noch nicht zu erwarten sind.
Kooperationen extremistischer Strömungen
Der Vortrag von Janosch Steuwer, Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Ruhruniversität Bonn, widmete sich thematisch den extremen politischen Strömungen, die in nationalen Parlamenten, anders als die etablierten Parteien, meist eine besonders marginale Stellung einnehmen. Dabei bezog sich der Referent exemplarisch auf die Kooperationen rechtsextremer Parteien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In diesem politischen Spektrum lässt sich ein umgekehrter Trend verfolgen. Während nach 1945 vielfältige transnationale Beziehungen und Kooperationen vorherrschten, zersplitterten diese Verbindungen in den folgenden Jahrzehnten allmählich. Der Organisationsgrad der Strukturen sank, die Bildung einer Wahlplattform scheiterte. In den 1980er Jahren erlebten die nun vorwiegend als rechtspopulistisch titulierten Parteien einen neuen Aufschwung. 1984 bildeten sie im Europäischen Parlament erstmals eine eigene Fraktion. Diese neuen Kontakte unterscheiden sich jedoch von den Plattformen der 1950er Jahre. Nicht mehr die programmatischen Übereinstimmungen stehen im Vordergrund der Zusammenarbeit, vielmehr wird die nationale Einigung der einzelnen Parteien unterstrichen. Eine gemeinsame europäische Basis rechtsextremer Parteien existiert nicht, einzelne Politiker/Delegationen besuchen sich zu informellen Gesprächen.
Neben den inhaltlichen Differenzen werden die Mitglieder der einzelnen extremen Parteien in einigen Ländern aufgrund sicherheitspolitischer Überlegungen auch mit anderen Problemen konfrontiert. So verbieten einige Staaten Rechtsextremen, die beispielsweise Hetzkampagnen gegen Ausländer betreiben, aufgrund sicherheitspolitischer Bedenken die Einreise.
Dennoch kann die Abnahme transnationaler Zusammenarbeit rechtsextremer Parteien auf Parteiveranstaltungen nicht zwangsweise zu der Annahme führen, dass rechtsextreme Kreise verschiedener europäischer Länder kaum mehr miteinander kooperieren, vielmehr haben sich für diese Zwecke neue Plattformen gefunden, die mit einbezogen werden müssen, wenn der Organisationsgrad rechtsextremer Gruppierungen analysiert wird.
Wissenschaft meets Praxis
An diesem Punkt endeten die theoretischen Ausführungen dieser Historikertagssektion – zumindest vorerst. Nun wurde die Veranstaltung tatsächlich politisch. Professor Christoph Zöpel berichtete von seinen langjährigen praktischen Erfahrungen in der nordrhein-westfälischen SPD und bei der Sozialistischen Internationalen (kurz: SI) – ein bisschen Wahlkampf inklusive. Er hob vor allem die Funktionen dieser parteipolitischen Kooperation, die sich aus 140 Mitgliedern zusammensetzt, hervor. Dabei verwies er vor allem auf die Einflussnahme der SI auf internationale Institutionen oder ihre Vermittlerrolle bei bilateralen Konflikten.
Die Wiedergründung der SI nach dem Zweiten Weltkrieg war 1954 erfolgt. Fortan weitete sie sich zur internationalen Organisation aus, die sich längst vom rein europäischen Weg gelöst hat und globalpolitische Prozesse verfolgt und mitgestaltet. Inwieweit die SI mit ihrem Programm dabei tatsächlich Entscheidungen beeinflussen kann, wird nachzuweisen sein. Fest steht, dass die Generaldirektoren der WTO, des IWF und des UNHCR gegenwärtig allesamt ausgewiesene Sozialdemokraten sind.
Perspektive der Netzwerkforschung
Den Abschluss dieses Panels gestaltete – wieder weit theoretischer – Christian Salm, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität von Portsmouth. Salm skizzierte die modernen methodischen Ansätze der Netzwerkforschung und ihren möglichen Beitrag zur historischen Studie. Qualitativ könnten, nach Salm, politikwissenschaftliche Instrumente soziale Strukturen von Netzwerken eruieren und quantitativ den Organisationsgrad der jeweiligen Kooperationen ermitteln. Diese Erkenntnisse könnten weiterführend helfen, die nationalstaatlich geprägte europäische Geschichtsschreibung zu überwinden und flexibler den Einfluss staatlicher und nicht-staatlicher Akteure nachzuvollziehen. Der Nachteil dieses Verfahrens ist, dass die Netzwerkkonzepte selbst immer wieder an die entsprechende Fragestellung angepasst werden müssen.
Parteikooperationen sind im politischen Europa-Alltag noch immer weitgehend irrelevant
Die vorangegangenen Ausführungen stützen bereits eingangs erwähnte Vermutungen und Befunde. Die Praxis der politischen Netzwerke erscheint in ihren Ausprägungen noch undeutlich. Die Persistenz nationalstaatlicher Konzepte hingegen lässt sich deutlich herausarbeiten. Ob die in der Diskussion angeklungene Forderung nach einem erweiterten Begriff von Politik diese Unklarheiten beseitigen kann, ist hingegen fraglich. Aufweichungstendenzen werden die noch nicht abgeschlossenen Prozesse der Parteienkooperation kaum gänzlich erklären können. Vorerst sollten die unterschiedlichen Phänomene erfasst, verglichen und kategorisiert werden.
Eine momentane Zwischenbilanz macht deutlich, dass die Parteikooperationen im politischen Alltag noch immer relativ irrelevant sind und Kommunikationsschwierigkeiten Entgrenzungsprozesse verlangsamen. Ursache dafür könnte neben einem fehlenden europäischen Bewusstsein der Mangel an konkreten Führungspersönlichkeiten sein. Die Richtung aber, und das hat unter anderem Professor Zöpel mit seinem Bericht über die Sozialistische Internationale deutlich gemacht, scheint bereits lange vorgegeben.
(Redaktion: KP/MS)
Von Friederike Gund und Sebastian Gehrig
Anhand verschiedener Beispiele, die von der schriftlichen Ermächtigung Reinhard Heydrichs zur „Endlösung der Judenfrage” bis zu Walter Moers Persiflage „Der Bonker” [Link zum Video]
reichten, demonstrierte Wildt, wie sich die Präsentation von geschichtlichen Themen seit der Einführung des Internets gewandelt hat.
Mit dem Videoclip „Dancing in Auschwitz – I will survive” (vgl. Video am Ende des Artikels) versuchte Wildt, dem Publikum die veränderte Bewertung des Umgangs mit dem Holocaust in der deutschen Öffentlichkeit aufzuzeigen.
Am Beispiel des Mauerfalls vom 9. November 1989 verdeutlichte er, dass es immer diverse Perspektiven auf ein und dasselbe Ereignis gibt. In der Geschichtswissenschaft gehe es deshalb nicht um einfaches „Rechthaben”, sondern um die Diskussion und Analyse historischer Ereignisse. Gerade weil es schwierig ist, im Online-Zeitalter Kommunikation zu archivieren, werden aussagekräftige Quellen seltener, weshalb sich auch die Geschichtsschreibung in den nächsten 20 Jahren verändern wird.
Das Internet: Archiv des Wissens oder Informationsozean?
Doch auch positive Aspekte der „Netzgeschichte”, lassen sich beispielsweise anhand von Wikipedia aufzeigen. In diesem Portal schreibt niemand das Weltwissen neu, sondern es bietet die Möglichkeit, das Geschriebene zu optimieren bzw. vor allem zu diskutieren, wodurch bessere Erfolge erzielt werden können.
Sehr wichtig bleibt dabei trotzdem, die Authentizität der im Internet verwendeten Quelle kritisch zu prüfen. Darüber hinaus werden Quellen im Netz nur unzureichend referenziert. An den beiden von Wildt präsentierten Videos wurde in der Diskussion mit dem jungen Publikum die dynamische Wandlung von Geschichtsdeutungen über die Zeit erneut deutlich. Es bleibe immer zu hinterfragen: „Wie gehen wir heute mit bestimmten Ereignissen um?” und „Haben wir früher anderes darüber gedacht?”. Zur Recherche im Netz empfahl Wildt den Schülerinnen und Schülern vor allem das Internetportal „Zeitgeschichte Online“, das eine Zusammenstellung aus Dossier, Video, Interview und vielem mehr bietet.
Video: Dancing in Ausschwitz – I will survive
Sebastian Gehrig ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Sebastian Gehrig
Rüdiger Graf diskutierte in seinem Beitrag zum Einstieg in das Thema der Sektion die direkte Übernahme von Theorien der Internationalen Beziehungen in die Geschichtswissenschaft am Beispiel der Universität Harvard. Dabei wurde deutlich, dass die einfache Übernahme theoretischer gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen ohne deren Entstehung historisiert zu haben zu einem unkritischen Gebrauch historisch nur unzureichend hinterfragter Konzepte in die Zeitgeschichte führen kann.
Die schon von Graf angedeutete Problematik spitzte Benjamin Ziemann (Sheffield) in seinem Vortrag weiter zu. Anhand von Datensätzen, die der empirischen Sozialforschung zur Beschreibung des katholischen Milieus entstammten, argumentierte Ziemann, dass sozialwissenschaftliche Untersuchungen dieser Art nur als Quelle, nicht auch als Darstellung von Zeithistorikern genutzt werden sollten. Denn die in diesen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen generierten Datensätze spiegelten eben in ihrem Erkenntnisinteresse nur eine spezifische Weltsicht und subjektive Fachansätze wider.
Während Ziemann also der Übernahme von Theorien der empirischen Sozialwissenschaften, wie deren Ergebnissen äußerst kritisch gegenüberstand, versuchte Christina von Hodenberg (London) Wege der Nutzbarmachung von medienwissenschaftlichen Theorien für die Zeitgeschichte aufzuzeigen.
Wie können Ansätze anderer Disziplinen für die Geschichtswissenschaft erschlossen werden?
Während die meisten Historiker Medien nur als Funktionselemente unter vielen betrachteten, bliebe eine kritische Rezeption medienwissenschaftlichen Arbeitens zumeist auf der Strecke. Hodenberg schlug eine Synthese verschiedener Theorien und ein „Gegen-den-Strich-Lesen” medienwissenschaftlicher Studien als Quellen für den Zeithistoriker als fruchtbare Arbeitsperspektive vor. Dabei könne eine besondere Stärke der Zeitgeschichte sein, die Rolle des historischen Akteurs, diachrone Betrachtungsweisen und Untersuchungen über lange Zeiträume in die Betrachtung der Entwicklung von Medien einbringen zu können.
Im abschließenden Vortrag zeigte Kim Christian Priemel (Berlin) den Eingang des Begriffs „Strukturwandel” in die Geschichtsschreibung als dominantes Erklärungsmuster der historischen Entwicklung in den 1970er und 1980er Jahren auf. Priemel argumentierte, dass es sich bei diesem Begriff lediglich um eine Anamnese, nicht um eine Diagnose der historischen Entwicklung handele. Daher wiederholte er die schon in den vorangegangenen Vorträgen aufgestellte Forderung, dass sozial- und politikwissenschaftliche Theorien in ihrer Entwicklung historisiert werden müssten und erst nach kritischer Betrachtung Eingang in die Benutzung als Handwerkszeug des Zeithistorikers in die Geschichtswissenschaft haben dürften.
In seinem zusammenfassenden Kommentar der Vorträge stellte Andreas Wirsching (Augsburg) die Frage, inwieweit die Zeitgeschichte nun theoriefähig sei. Was bliebe nach der Dekonstruktion von Theorien für ein Nutzwert für die Zeitgeschichte übrig? Wirsching fragte, ob man nicht zwischen verschiedenen Arten von Studien und auch fragestellungsabhängig den Quellen- und Darstellungswert von Theorien für die Zeitgeschichte ermessen müsse. Daneben hob er die Bedeutung der Chronologie und von diachronen Vergleichen, die Akteursgebundenheit und die Offenheit der Geschichte als wichtige Bestandteile der Zeitgeschichtsschreibung hervor, mit der sie sich von theoriegeleiteten Ansätzen der Sozialwissenschaften abheben könne. Die kontrovers geführte Diskussion zeigte, dass die Dekonstruktion von Großbegriffen der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, die aus theoriegeleiteten Ansätzen entstanden, als Chance begriffen werde, sich jedoch auch die Zeitgeschichte in der Wahl und Rolle ihrer Forschungsperspektiven kritisch hinterfragen muss.
Sebastian Gehrig ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS)
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Von Nicole Güther
Der diesjährige Historikertag bietet zwar nur eine Sektion zu diesem zukunftsträchtigen Ressort, aber dafür wurden am gestrigen Tag gleich zwei brandneue Portale vorgestellt: das Projekt Europäische Geschichte Online des Mainzer Instituts (s. Screenshot rechts) sowie das Braunschweiger Schulbuchprojekt Eurviews – die Historikerschaft darf also auf deren baldiges Erscheinen gespannt sein. Daneben stellte sich aber auch das bereits etablierte Themenportal Europäische Geschichte des Clio-Vereins vor.
Sprachpluralität als Herausforderung
Das Tagungsmotto bedienend liegt der Schwerpunkt aller drei Internetportale nicht auf der nationalen, sondern auf der gesamteuropäischen Geschichte ab dem 18. Jahrhundert in einem transnationalen, ja globalen Fokus. Diese inhaltliche Grenzüberschreitung korrespondiert dabei gewollt mit der medialen Erweiterung des für Wissenschaftler bisher Machbaren. Dabei behaupten die Vertreter der vorgestellten Seiten von sich, einen innovativen Ansatz zu verfolgen und nicht einfach die herkömmliche Historiographie in ein anderes (dreidimensionales) Medium zu tradieren. Die größte Herausforderung für Europahistoriker stellt auch im medialen Feld die Sprachpluralität dar. Zwar sind die Portale zweisprachig, aber für die versprochene transnationale Darstellung bleibt die Einbindung auch wenig gesprochener Sprachen weiterhin zu wünschen übrig.
Wenig gesprochene Sprachen werden in den Internetportalen kaum berücksichtigt.
Der Herausforderung der Beweisführung stellten sich die Referenten in einer kurzen Vorführung. Hierbei wurde schnell offensichtlich, dass der Erfahrungswert des längeren Bestehens für ein älteres Portale nicht nur von Vorteil ist, aber die neuen Programme darauf aufbauend immens vom hier erworbenen Wissensstand profitieren – da heißt es dran bleiben und nachjustieren! Neben dem ästhetischen Bild betrifft das vor allem die Leser- und Userfreundlichkeit.
Themenportal Europäische Geschichte
Sicher ist es keine dankbare Aufgabe, sich im Fokus der modernen Konkurrenz, die selbst online noch allerhand nachbessern und immerhin von den Fehlern der anderen lernen kann, zu präsentieren. Die optischen und technischen Mängel sind schnell offensichtlich: das Auge wird in keinster Weise bedient und ist bei der vielfältigen Themenauswahl schnell überfordert. Sicherlich sind neueste Beiträge an herausragender Stelle platziert und auch die Suchmaske ist eine altbewährte Hilfe, aber Grenzen multimedialer Möglichkeiten werden nicht überschritten.
EGO – Europäische Geschichte Online
Anders als beim altbacken erscheinenden Themenportal besticht das neue Projekt des Instituts für Europäische Geschichte Mainz durch seine hervorragende Optik und seine gut strukturierter Startseite. Mit der ehrgeizigen Zielsetzung, ausschließlich ein akademisches Publikum anzusprechen – immerhin gelten die Geisteswissenschaftler als borniert und vom Medium Internet schwer überzeugbar – stellt sich das Portal bewusst keiner größeren Kritikerschaft. Gespannt bleibt die Eröffnung am 3.12. dieses Jahres abzuwarten.
Europa in Schulbüchern: Eurview
Die letzte Vorführung galt einem besonders interessanten Projekt, widmet es sich doch den zu Unrecht wenig beachteten und geschätzten Schulbüchern. Der Umgang mit (weltweiten?) Schulbüchern als zentrale Identitätsressource verspricht erkenntnisreiche Auswertungen und ebenso kontroverse Neubewertungen der europäischen Geschichte fernab der eurozentrischen Perspektive. Insbesondere für den Schulunterricht ergeben sich wichtige Möglichkeiten, der Geschichtspassivität entgegenzuarbeiten.
Gerechtfertigt oder anachronistisch? – Die Scheu vor Wikipedia
Der mutigen Bereitschaft zur Vorführung der altbekannten und noch nicht veröffentlichten Portale folgte eine provokante Kritikrunde von solchen, die es wissen müssen: den Usern. Das breite Spektrum der Portalkenner, vom Lehrer bis zum Verleger, bot dabei nicht nur herbe Kritik, sondern auch neue Impulse aus erster Hand. Tadel fand insbesondere die fortdauernd falsche Herangehensweise, dächten alle Betreiber doch noch im zweidimensionalen Medium „Buch”. Einen kontroversen Ansatz bot auch der Verweis auf die falsche Scheu vor frei zugänglichen Wissenssammlern wie bei der Wikipedia.
Eine Kernfrage der anschließenden Diskussion war die Frage nach der Sinnhaftigkeit virtueller Portale für die Geschichtswissenschaft. Neben der großen Reichweite (es sei denn man beschränkt diese mittels eines eingeschränkten Leserkreises selbst) und dem damit einhergehenden mobilisierenden Effekt spricht der erleichterte Zugang für die Zukunft der medialen Geschichtsschreibung. Es ist davon auszugehen, dass in nicht allzu ferner Zukunft nur noch die am häufigsten angewählten Titel gedruckt werden – davon waren alle außer dem anwesenden Verleger überzeugt.
Nicole Güther ist Magisterstudentin der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS)
Von Gina Fuhrich
Der Beck-Verlag hat sich deshalb entschlossen, mit „Geschichte Europas” und „Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert” zwei Buchserien zum Thema zu veröffentlichen und diese in einer Podiumsdiskussion mit den Autoren Wlodzimierz Borodziej, Marie-Janine Calic, Andreas Fahrmeir, Ulrich Herbert, Harmut Leppin und Luise Schorn-Schütte sowie dem Verleger Sebastian Ulrich vorzustellen. Die Reihen haben zwei unterschiedliche Konzepte, beschäftigen sich aber beide mit dem Thema, wie man europäische Geschichte schreiben soll. Zunächst stellt sich die Frage, was Europa eigentlich ist. Lediglich eine Idee oder durchaus ein gemeinsamer Integrationsraum? Die jeweiligen Autoren der Bücher stellten ihre Arbeit vor und begründeten ihren spezifischen Ansatz.
Zuerst äußerte sich der Verleger Helmut Ulrich zu der Reihe „Geschichte Europas”. Er räumte ein, dass es durchaus politische Anreize gäbe, eine gemeinsame Geschichte Europas zu schreiben, die den Zusammenhalt Europas stärken und die Erweiterung der Europäischen Union legitimieren würde. Allerdings ist Erinnerung der Vergangenheit für Ulrich deutlich mehr als nur gemeinsamer Handel und verbundene Wirtschaftsräume.
Es ist Zeit, die Geschichte Europas jenseits der nationalstaatlichen Perspektive zu erzählen.
Vor allem in der europäischen Öffentlichkeit besteht das Bedürfnis zu wissen, was europäische Geschichte ist, so Ulrich weiter. Die Bücher haben daher folgende Charakteristika: Sie stellen eine integrierte Geschichte Europas dar und keine nationale. Desweiteren werden keine gewünschten politischen Annahmen wiedergegeben, wie der uneingeschränkte Zusammenhalt der Europäer über Jahrhunderte, sondern der Wandel in der beispielsweise geografischen Definition Europas und die sich verändernden Beziehungen und Interessen dargestellt. Überdies wird auch die Wahrnehmung Europas in der Welt mit einbezogen. Insgesamt soll die Buchreihe einen kritischen Beitrag zur Selbstverständigung für Europa leisten und kein normatives, statisches Konzept liefern, so Ulrich.
Der Beginn Europas in der Antike
Die europäische Geschichte beginnt in der Antike. In dieser Zeit existierte bereits der Name Europa einerseits in der griechischen Mythologie, in der Europa die Geliebte von Zeus ist und anderseits auch als geographische Bezeichnungen beispielsweise im asiatischen Raum. Allerdings, so Hartmut Leppin, bestanden zu dieser Zeit noch keine gemeinsamen europäischen Werte. Für ihn war es wichtig zu betonen, dass die Antike nicht nur abgeschottet in Europa stattfand, sondern durchaus Kontakte zum Islam und zum Orient wie beispielsweise Ägypten sowie zur jüdischen Religion bestanden.
In der Frühen Neuzeit dehnte sich Europa immer weiter aus, so Luise Schorn-Schüttel. Es existierte ein gemeinsamer innereuropäischer Handel. Zu dieser Zeit sollte Europa eine Einheit der Christenheit symbolisieren, trotz den Konfessionskriegen. Im 16.-17. Jahrhundert, so Schorn-Schüttel, also schon vor der Bildung von Nationalstaaten, gab es bereits gemeinsame europäische Werte, wie beispielsweise die Monarchie oder die Ständegesellschaft. Nach Napoleon 1815 begann eine neue europäische Entwicklung durch den Kolonialismus und Imperialismus. Allerdings gab es trotz dieser Gemeinsamkeiten durchaus konkurrierende Ansichten in den europäischen Ländern, erklärte Andreas Fahrmeir. Zudem setzte laut Fahrmeir zu dieser Zeit eine unterschiedliche Entwicklung innerhalb Europas ein.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Nun schließt sich die Vorstellung der Buchreihe „Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert” an. Ulrich Herbert hält das gemeinsame Europa eher für ein Versprechen und beanstandet ein stark national geprägtes Bewusstsein. Allerdings, so Herbert weiter, reicht ein nationaler Raum nicht aus, um die Phänomene des Imperialismus oder totalitäre Ideologien zu erklären. Trotz des Dilemmas, dass durch den gegebenen Nationalstaat und die europäische Einheit entsteht, stellt der Nationalstaat für Herbert keine Verirrung dar. Die Grundüberlegung seines Buches war, die Zeit zwischen 1890-1914 als Explosionszeit der Moderne zu bezeichnen. Zudem versuchten die jeweiligen Autoren durch Querschnitte in weniger geschichtsträchtigen Jahren einen Vergleich zwischen den jeweiligen europäischen Ländern beispielsweise in Kultur und Politik zu ziehen. Somit wird keine nationale Geschichte geschrieben.
Wlodzimierz Borodziej, der Autor des Buches Polen, sieht aber durchaus Gemeinsamkeiten in den europäischen Ländern. Viele Erfahrungen, wie der Nationalstaat, die Demokratie oder die Weltkriege, wiederholten sich. Marie-Janine Calic, die ihr Buch über Buch Jugoslawien vorstellte, erläuterte drei Grundprobleme in diesem Raum. Einerseits die ethnische Diversität des ehemaligen Staates, die durch Interessensgegensätze Konflikte begünstigte, andererseits, dass Osteuropa meist als rückständig angesehen wird und überdies in diesem Raum über Jahrhunderte hinweg aufgrund von Großmachtinteressen andere Mächte präsent waren.
Haben Nationalstaaten eine Zukunft?
In der abschließenden, von Johan Schloemann (Süddeutsche Zeitung) geleiteten Podiumsdiskussion wurde über den Nationalstaat und den Terminus des Fortschritts debattiert. Allgemein gilt der Nationalstaat in der deutschen Forschung als überholt und als ein Konstrukt. Allerdings ist für Borodziej klar, dass die Idee eines gemeinsamen Europas bis jetzt nicht die Idee des Nationalstaates ersetzt. Für ihn und Fahrmeir sind die Geschichte Europas und die Geschichte des jeweiligen Nationalstaats eher als Parallelentwicklung anzusehen.
Ulrich Herbert erklärt, dass es gemeinsame europäische Entwicklungen gibt, die allerdings in nationale Ereignisse und Kontexte transferiert werden, wodurch dieses gemeinsame Ereignis eine nationale Erfahrung wird. Luise Schorn-Schüttel spricht sich gegen den Nationalstaat aus. Europa wäre schon in der Frühen Neuzeit vor dem Aufkommen der Nationalstaaten unter unterschiedlichen Herrschaftsstrukturen geeint gewesen. In der Debatte um den Terminus des Fortschritts hält Herbert die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert für den Aufstieg Europas.
Allerdings ist für alle Diskussionsteilnehmer klar, dass Fortschritt eine Definitionsfrage ist und keine normative Tradition beinhaltet. Es besteht ebenso keine lineare Entwicklung.
Das Plenum forderte eine internationale europäische Buchreihe mit internationalen statt ausschließlich deutschen Autoren. So könnten Selbstverständlichkeiten, die in den einzelnen Nationen vorherrschten, von Außenstehenden überhaupt erst erkannt werden. Auffällig ist außerdem, dass die Reihe keine Bücher über Griechenland oder skandinavische Länder umfasst.
Gina Fuhrich studiert Mittlere und Neuere und Neueste Geschichte und Ethnologie an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS)
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Preis für jüngst Habilitierte:
Arnd Brendecke: Imperium und Empirie – Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft
Brendecke beschäftigt sich in seiner Habilitation mit dem Verhältnis von Wissen und Macht. Er arbeitet heraus, wie der Versuch der spanischen Krone, durch die Kontrolle über Kommunikationsmöglichkeiten der Wissenserschließung und -vermittlung Macht auszuüben, gescheitert ist. Die Arbeit zeichnet sich durch ihren über konkrete regional und zeitlich begrenzte Phänomene hinausgehenden Zugriff aus, der ihre Lektüre für Historiker aller Fachdisziplinen lohnend macht.
Hedwig-Hintze-Preis:
Anne Sudrow: Der Schuh im Nationalsozialismus. Eine Produktgeschichte im deutsch-britisch-amerikanischen Vergleich.
Doktorandenforum:
Einen besonderen Dank sagte VHD-Vorsitzender Werner Plumpe der Körber-Stiftung und der Gerda-Henkel-Stiftung, die Doktorandenforum und Preisvergabe maßgeblich unterstützten.
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Daniel Rübel
Mit dieser Veranstaltung würden er und die Mitarbeiter im Arbeitskreis Weltgeschichte weder den Unterricht umkrempeln, noch komplett neue Inhalte einführen wollen. Es gehe um kleine Schritte in diese Richtung. Dies sollte am Ablauf der Sektion ersichtlich werden. Die ersten beiden Vorträge von Herrn Unsuk Han und Herrn Hermann J. Hiery wollten verschiedene wissenschaftliche Perspektiven auf die Globalisierung eröffnen. Danach folgte ein in Theorie und Praxis aufgeteilter Entwurf, wie Globalgeschichte im Schulunterricht einzusetzen sei. Abschließend stellte Herr Martin Münch ein Quellenheft zur Globalgeschichte im Unterricht vor, das aus dem genannten Arbeitskreis hervorgegangen ist.
Koreanische Schulbücher und Eurozentrismus
Unsuk Han aus Seoul berichtete über den Eurozentrismus, der in koreanischen Schulbüchern vorherrschend ist. So umfasst der Bereich über Europa 30%. Im Vergleich dazu umfasst der Bereich in den deutschen Schulbüchern, der sich mit Asien befasst, nur 3%. Gerade ist in Korea eine Debatte darüber entbrannt, wie mit diesem Ungleichgewicht, also der starken Betonung europäischer Geschichte, umzugehen sei. Unzweifelhaft ist dieser Sachverhalt der Kolonialgeschichte und den europäischen Hegemoniebestrebungen geschuldet.
Han warnte jedoch davor, dass die wohl bald kommende Reform der Lehrinhalte einerseits dazu missbraucht werden könnte, nationalistische Tendenzen zu verstärken und einen zu großen Schwerpunkt auf nationale Geschichte zu legen. Andererseits bestehe die Gefahr, dass unzweifelhafte Errungenschaften der Europäer zu kurz kommen könnten und so ebenfalls ein falsches Bild entstehen könne. Globalgeschichtliche Ansätze sind seiner Meinung nach die beste Möglichkeit, diesen Schieflagen zu begegnen. Dazu betonte er, wie wichtig der Austausch über Inhalte von Schulbüchern zwischen verschiedenen Ländern sei und lobte das Deutsch-Französische Schulbuch (im Klett-Verlag erschienen, vgl. Coveransicht).
Hermann J. Hiery stellte im Anschluss die Frage, wie sich die aktuelle, von Europa ausgehende Globalisierung auf die anderen Kulturen ausgewirkt hat. Fünf wichtige Wellen der Beeinflussung führte er an. Erstens die physische Bedrohung, die Ausrottung ganzer Völker durch Krankheiten (über bewusste und unbewusste Übertragungen). Zweitens die Zerstörung der “fremden” Kulturen im Geiste der Aufklärung. Im Zuge der religiösen Missionierungen wurde oft weniger Schaden angerichtet, da diese gerne vorhandene Traditionen aufnahmen und nur veränderten, statt bewusst alle Traditionen abzulehnen. Drittens mussten die Länder außerhalb Europas mit dem Ausschließlichkeitsanspruch des europäischen Zentrismus fertig werden.
Eine weitere Welle ist die These des “ex oriente lux”, dass nämlich das Christentum und gleichzeitig die rationalen Welterklärungen der Europäer die beeinflussten Völker dazu zwangen, ihre eigenen spirituellen Konzepte zu überdenken. Hierzu bemerkte Hiery, dass dieser europäische Versuch nirgends auf der Welt erfolgreich war. Die einheimischen Spirituelle habe sich immer gegen das Rational-Westliche durchgesetzt. Die letzte Welle, die gerade noch auf die ehemaligen Entwicklungsländer zurollt, ist die Erkenntnis, dass sowohl die meisten Staatsgründer – zum Beispiel in Asien – westlich geprägt und ausgebildet waren und dass außerdem der Nationalismus als Konzept eine weitere Vorstellung ist, die von Europa um die Welt ging. Dies führte in der Konsequenz zu Auswirkungen des Universalismus, die selbst nicht global, sondern im Gegenteil national und abschottend wirkten.
Statt eines Fazits stellte Hiery die Frage ans Ende seines Vortrags, ob nicht das Verständnis und die Entwicklung des Universalismus, der Globalisierung selbst eine westliche Modeerscheinung sei, die mit schwindender Bedeutung Europas und der USA in der Welt vielleicht selbst in einigen Jahren verschwunden sein wird.
Herausforderung an die Geschichtsdidaktik
Nach einer kurzen Diskussion schloss sich der geschichtsdidaktische Teil an. Hilke Günther-Arndt, Urte Kocka und Judith Martin stellten eine Art der Unterrichtsgestaltung vor, die in den Grenzen der bisherigen Lehrpläne einen globalgeschichtlichen Ansatz verwirklicht. Zuerst zeigten sie anhand mehrerer Beispiele, dass dieser Ansatz zu einem deutlich aufgewerteten Geschichtsunterricht und zu einem größeren Verständnis der Lerninhalte führt. Den Ritterbegriff könne man an zeitgenössischen Darstellungen von Saladin und Richard Löwenherz erarbeiten, der Themenkomplex “Sklaverei” kann außer an den Klassikern Antike und USA global betrachtet werden, wenn man die Wikinger, den arabischen Transsaharahandel oder die innerafrikanischen und inneramerikanischen Gesellschaften in die Betrachtung einschließt. Es bietet sich bei jeder Einheit an, wenigstens am Ende die Schüler selbstständig zusammentragen zu lassen, wie die gelernten Sachverhalte in anderen Ländern oder Zeiträumen aussahen. Nicht nur in den Unterricht, sondern auch in Prüfungen können Lehrer im Bereich Transfer globalgeschichtliche Fragestellungen einfließen lassen.
Dem Kompetenzerwerb, vor allem der historischen Lesekompetenz als unabdingbarer Voraussetzung zur Teilhabe an der globalisierten Welt, wurde ebenfalls Aufmerksamkeit gewidmet. Kompetenzen ersten Rangs sind allgemeine Begriffe. Die Arbeitsbegriffe des Fachs Geschichte sind Kompetenzen zweiten Rangs, diese muss der Geschichtsunterricht vermitteln, zusammen mit dem thematischen Gegenstandswissen.
Die anschließende Diskussion im Plenum und Hans Woidts Überleitung zum letzten Vortrag zeigten, dass sich die Mehrzahl der Anwesenden eine Überarbeitung der Rahmenlehrpläne wünschte. Neben der Berücksichtigung bei der Lehrerausbildung wurde auch der Wunsch nach Weiterbildungsmöglichkeiten auf dem Gebiet geäußert. Um im Rahmen des bislang Möglichen so viel und so gut Globalgeschichte wie möglich zu unterrichten, stellte Martin Münch ein Ergebnis des Arbeitskreises Weltgeschichte vor: Das Quellenheft “Globale Perspektiven im Geschichtsunterricht. Quellen zur Geschichte und Politik” (vgl. Cover rechts). Es enthält sieben große Themenbereiche auf knapp hundert Seiten und zu jedem finden sich zehn bis dreißig ausgewählte Quellen inklusive Vorschlägen zur Bearbeitung und Einbindung in den Unterricht.
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Philipp Meller
Die gesammelten Dokumente sind oft noch älter als das Archiv selbst. Kröger konnte so zum Teil lustige Anekdoten aus den alten Kaiserzeiten am Ende des 19. Jahrhunderts erzählen und an äußerst interessanten Zeugnissen belegen. Schließlich lagern in dem bedeutenden Archiv mit einer Aufbewahrungsquote von stattlichen 40 Prozent nicht nur langweilige Akten, sondern auch außergewöhnliche Gegenstände, wie der Konstruktionsplan eines über hundert Jahre alten Mercedes-Benz (Gastgeschenk an Äthiopien) oder ein – nach Skizze von Kaiser Wilhelm II. – gefertigter Ärmel einer deutschen Diplomatenuniform. Doch auch die zwischenstaatlichen Verträge sind keineswegs verstaubte Papiere: Sowohl in einen von Königin Viktoria persönlich unterschriebenen Vertrag mit riesiger silberner Schale zur Aufbewahrung des Wachssiegels als auch in die zunehmend nüchternen Ausfertigungen der bundesdeutschen Verträge wurde den interessierten Teilnehmern Einblick gewährt.
(Verbindungskorridor zwischen dem Neubau und dem Gebäude der ehemaligen Reichsbank).
Wie die vielfältige Geschichte der deutschen Außenpolitik erahnen lässt, werden im Archiv des Auswärtigen Amtes aber nicht nur erheiternde Relikte vergangener Zeiten aufbewahrt. Besonders das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte hinterließ Spuren in den sauberen und sorgfältig geordneten Regalen tief unter der Erde im Herzen Berlins. Während er den Teilnehmern das Faksimile einer Akte von der Wannsee-Konferenz von 1942 zeigte, erläuterte Kröger, dass jedes gefundene Dokument aus der Zeit vor 1945 ins Archiv aufgenommen werde. Auch in den vergangenen Jahrzehnten gab es spannende Momente für die Archivmitarbeiter, wie die schnelle Bemächtigung der Akten des ostdeutschen Pendants zum Bundesaußenministerium 1990 oder der langwierige Umzug von Bonn nach Berlin.
Von Albrecht Franz
Mit einem Bild der Sprengung des Münchner Agfa-Gebäudes 2008 (siehe Foto rechts) eröffnete Silke Fengler ihren Vortrag zum Niedergang der deutschen Fotoindustrie seit den 1970er Jahren. Das Bild steht symbolisch für das Ende eines Prozesses, der häufig mit dem Begriff der „Deindustrialisierung” zusammengefasst wird. Gemeint ist die Verschiebung einer von „klassischer” Industrie geprägten Wirtschaft hin zu einer Wirtschaftsform, in der dem Dienstleistungssektor eine dominante Stellung zukommt. Diesem Transformationsprozess, der sich in der Bundesrepublik zwischen den späten 1960er und den 1990er Jahren vollzog, fiel auch die erwähnte Fotoindustrie zum Opfer: Zunehmender internationaler Wettbewerb, neue Kundeninteressen und eine strukturelle Unfähigkeit, auf diese Veränderungen zu reagieren, ließen die deutschen Hersteller von Foto-Produkten schließlich in der Bedeutungslosigkeit versinken.
Zu zeigen, dass es sich bei dieser Branche jedoch gerade nicht um ein Beispiel handelt, das die Entwicklung einer ganzen Volkswirtschaft widerspiegelt, war eines der Ziele der Sektion. André Steiner wies in seiner Einleitung darauf hin, dass die bisherige Interpretation des wirtschaftlichen Strukturwandels vor allem durch eine makroökonomische Perspektive geprägt ist, die der Differenzierung bedarf. Um die bestimmenden Faktoren des Umbruchs und deren jeweilige Bedeutung auf internationaler wie lokaler Ebene analysieren zu können, sei der Blick auf einzelne Branchen oder Unternehmen unabdingbar.
Die makroökonomische “Brille” ist blind für Bewältigungsstrategien einzelner Branchen.
Eingelöst wurden diese Forderungen an die Sektion anhand von weiteren Fallstudien aus dem Bereich des Maschinenbaus (Ralf Ahrens), der Automobilindustrie (Ingo Köhler) und der Tourismus-Branche (Jörg Lesczenski), die zu den Aufsteigern im Dienstleistungssektor zählt. Im Fokus standen die verschiedenen unternehmerischen Bewältigungsstrategien für den Strukturwandel. Zentrale Merkmale des Transformationsprozesses sollten auf diese Weise bestimmt und deren jeweilige Bedeutung zur Diskussion gestellt werden.
Der Konsument als Akteur ökonomischen Wandels?
Allen vorgestellten Branchen war der Versuch gemein, durch technische Innovationen oder eine Veränderung der Produktpalette im verschärften internationalen Wettbewerb zu bestehen. Eine naheliegende Reaktion lag auch in der verstärkten Standardisierung und Rationalisierung der Produktion. Darüber hinaus rückte besonders ein Faktor in den Mittelpunkt der Diskussion: die Kommunikation mit den Kunden und die Rolle, die diesem für die Neuausrichtung der Unternehmensstrategien zukam. Ralf Ahrens konnte beispielsweise für den Maschinenbau anhand der Beschäftigtenstruktur eine neue Kundenorientierung feststellen: Denn der Anteil der Angestellten gegenüber dem der in der Produktion Beschäftigten stieg stetig an. Dies sei auch auf eine zunehmende Professionalisierung im Bereich Verkauf und Marketing zurückzuführen, also der Einrichtung oder Verstärkung von Abteilungen, deren Aufgabe weitestgehend den Bereich der Konsumenten betreffen. Auch in der Tourismusindustrie stellte die verstärkte Erfassung der Kundeninteressen – und eine entsprechende Orientierung daran – eine wichtige Strategie dar. Jörg Lesczenski wies darauf hin, dass in diesem Fall der „unberechenbare Kunde” als ein zentrales Problem wahrgenommen wurde. Marktforschung und Marketing wurden daraufhin zunehmend als Instrumente genutzt, um schneller und flexibler auf entsprechende Wünsche eingehen zu können. Auch die Einrichtung von einheitlichen Buchungssystemen zählte zu den Maßnahmen der Reiseunternehmen.
Plötzlich wurde ausgerechnet der Opel Manta, vormals Inbegriff des (männlichen) Traums vom Rennfahrer, auf einmal mit seiner Wirtschaftlichkeit beworben.
Besonders plastisch wurde der „Krisenfaktor Käufer” am Beispiel der Automobilindustrie herausgearbeitet. Nachdem seit den späten 1960er Jahren der Bedarf an der Bereitstellung von Mobilität weitgehend gedeckt war, wurden Emotionalität und Status zu wichtigen Kaufkriterien, PS-starke Mittelklassewagen lösten den Kleinwagen in der Produktionsstatistik ab. Diese Strategie rächte sich, als im Zusammenhang mit der ersten Ölkrise die kritische Auseinandersetzung mit der massenhaften Nutzung des Autos zunahm. Die Tatsache, dass der neue Trend zu Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit des Automobils von den Herstellern zunächst nicht mit entsprechenden Modellen bedient werden konnte, führte zu teilweise seltsam anmutenden Reaktionen. So wurde ausgerechnet der Opel Manta, vormals Inbegriff des (männlichen) Traums vom Rennfahrer, auf einmal mit seiner Wirtschaftlichkeit und seinem Alltagsnutzen beworben. Der Strukturwandel stellte sich in diesem Fall in hohem Maße als ein Wandel der Nachfragepräferenzen dar.
Strukturwandel als Frage historischer Wahrnehmung?
Es bleibt festzuhalten, dass der Kunde bzw. die Käuferpräferenzen, von den Unternehmen als Krisenfaktor wahrgenommen wurden und massiven Veränderungsdruck erzeugten. Eine stärkere Ausrichtung an den Interessen der Konsumenten stellte quer durch die Branchen eine wichtige Bewältigungsstrategie dar. Die Frage nach dem Übergang von einem Verkaufs- zu einem Käufermarkt als ein Merkmal des Strukturwandels war denn auch ein wichtiger Diskussionspunkt der Sektion, in dem jedoch keine Einigkeit erzielt werden konnte. Ohne Zweifel war der Konsument nicht der auslösende oder bestimmende Faktor des wirtschaftlichen Umbruchs der 1970er Jahre und auch nicht der einzige Fluchtpunkt unternehmerischer Lösungsstrategien. Dennoch verweist er auf eine nicht zu vernachlässigende soziale Ebene dieser ökonomischen Transformation: auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit den wirtschaftlichen einhergingen und auf die Frage nach der Bedeutung gesellschaftlicher Leitbilder für den Verlauf und die Bewertung des Umbruchs.
In einem pointierten Kommentar wies Andreas Wirsching auf diese Ambivalenzen in der Wahrnehmung des ökonomischen Umbruchs hin und damit indirekt auf dessen soziokulturelle Komponente. Schon das Konzept des „Strukturwandels” unterliege einer Narrativität, die den Bruch gegenüber den langfristigen Ursachen und Pfadabhängigkeiten unternehmerischen Handelns betone. Hinsichtlich der analytischen Erfassung des ökonomischen Umbaus der 1970er Jahre bleibt daher weiterhin nach den geeigneten Begriffen und Konzepten zu fragen – insbesondere auch im Hinblick auf den internationalen Vergleich.
Albrecht Franz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS/CJ)
]]>Von Gina Fuhrich und Thomas Geier
Sabrow, der in dieser Diskussionsrunde als Verfechter der historischen Zäsuren agierte, begann zuerst die Kritikpunkte aufzuzählen. Historische Zäsuren sind immer subjektive Einteilungen. Es sind bestimmte Anschauungsformen, deren Deutung wandelbar und perspektivenabhängig ist. Desweiteren haben Zäsuren nur eine begrenzte Reichweite und es besteht eine biografische und historische Differenz, d.h. die Menschen erfahren in ihrem alltäglichen Leben oft andere Zäsuren als die in der Geschichte gesetzten.
Dennoch sind für Sabrow Epocheneinteilungen sinnvoll, wenn an Stelle von universalen, allgemeingültigen Zäsuren regionale Einschnitte gesetzt werden, da die Strukturierung von Zeitabschnitten für ihn ein grundlegendes Orientierungsbedürfnis der Menschen erfüllt. Die Industrialisierung ist beispielsweise nur in England, Nordamerika und nach und nach in Europa vollzogen worden, ist aber dennoch für diese Regionen ein wichtiger Einschnitt. In seinen Ausführungen unterscheidet er zwischen Deutungszäsuren, die nach Ereignissen rückwirkend festgelegt werden und Ordnungszäsuren, die ein neues Weltverständnis sowie unbekannte Perspektiven öffnen und sich somit von der Deutungsebene auf die Handlungsebene auswirken.
Epocheneinteilungen und historische Zäsuren erfüllen ein Orientierungsbedürfnis der Menschen. Stehen aber häufig quer zu biographischen Erfahrungen.
Sein “Diskussionsgegner” Konrad Jarausch hielt dagegen. Für ihn haben Zäsuren vor allem in den Medien an Bedeutung gewonnen und werden somit schon willkürlich gesetzt. So werten inflationäre mediale Zäsuren wie beispielsweise die Finanzkrise den Begriff der historischen Zäsur ab. Gleichzeitig erhält der Begriff eine Deutungsmacht für politische Zwecke. Desweiteren sind Zäsuren für Jarausch erlebte Brüche im eigenen Leben, wie Abitur oder Heirat, die mit den historischen Zäsuren in einem hohen Spannungsverhältnis stehen und große Unterschiede aufzeigen. Ebenso hält er es für unmöglich, Zäsuren für Gesamteuropa festzulegen, da jeder Historiker je nach Perspektive und Auffassung andere Zäsuren setzen wird. Für ihn ist eine Hierarchisierung der Zäsuren wichtig, da er so einer naiven Fortschreibung von Zäsuren entgegenwirken und eine stärkere Selbstreflektion fördern möchte.
Anselm Manteuffel äußert sich hingegen zwar zögerlich, ist aber letztendlich den Zäsuren gegenüber positiv eingestellt. Für ihn sind diese Strukturierungskomponenten und geben den persönlichen Erinnerungen eine Bedeutung. Allerdings sagen sie nichts über die Vergangenheit aus. Sie sind keine Epochen, sondern stellen kleine Episoden dar, wie beispielsweise die NS-Zeit, da diese mit knapp zwölf Jahren schwer als Epoche zu bezeichnen ist. Die Menschen erfinden die Zäsuren, um einen Vergleich zwischen Vorher und Nachher generieren zu können. Diese Kategorien sind flüchtig und wandelbar. Zäsuren ordnen laut Manteuffel Erinnerungen und sind somit ein Gruppensubjektivismus, beispielsweise einer Altersgruppe. Somit sind historische Zäsuren für ihn ein Strukturbruch und wichtige Orientierungspunkte für Zeitgenossen, um ihre Gegenwart zu ordnen.
Werner Plumpe ist sich der Notwendigkeit der Zäsur für die Kommunikation und für die Struktur der Lehre bewusst. Allerdings will er Zäsuren mit Hilfe wirtschaftlicher Ereignisse bestimmen. Um eine Zäsur festlegen zu können, sollte also eine „Systemtransformation” vorhanden sein, zum Beispiel die Einführung des Kapitalismus als Wirtschaftsform. Für ihn sind aus wirtschaftshistorischer Sicht Epocheneinschnitte klar erkennbar. Grundsätzlich benötigen Zäsuren einen Ausgangs- und Endpunkt.
Einigkeit herrschte zum Abschluss über die Notwendigkeit eines skeptischen und misstrauischen Umgangs mit Zäsuren, deren Bedeutung subjektiv und wandelbar ist. Dennoch sind Zäsuren an sich als Werkzeug des Historikers und als Orientierungspunkte unerlässlich.
Gina Fuhrich studiert Mittlere und Neuere und Neueste Geschichte und Ethnologie an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS/CJ)
]]>Nationale Erinnerungen sind immer Gegenstand von Deutungskämpfen.
Von Angela Siebold
Das hier vorgestellte Panel des Historikertags beschäftigte sich mit diesen grundlegenden Fragen anhand von Debatten über nationale Erinnerungen im nationalen und internationalen Kontext. Die als „History Wars” bezeichneten öffentlichen, oft über nationale Grenzen hinweg geführten historischen Deutungskämpfe dienten als Ausgangspunkt, um anhand verschiedener aktueller Beispiele die Selbstverortung der Geschichtswissenschaft und ihre Wirkungsbereiche zu diskutieren.
Im Zentrum des Panels standen dabei drei Fragen: Welche Rolle kommt historischen Themen in nationalen oder internationalen Konflikten zu? Wie kann die Geschichte als Mittel zur Aussöhnung genutzt werden? Und wie lässt sich die Geschichtswissenschaft in diesem Spannungsverhältnis zwischen Konflikthaftigkeit und Aussöhnungspotential verorten?
Historisches Konfliktpotential
Anhand von Fallbeispielen aus Spanien, aus den ungarisch-slowakischen Beziehungen sowie aus Ostasien wurden zunächst die verschiedenen Ebenen und Reichweiten historischer Deutungskämpfe aufgezeigt – von der nationalen über die binationale hin zu einer große Regionen umfassenden Dimension.
Dabei machte der Vortrag Sören Brinkmanns die Brisanz der diktatorischen Vergangenheit Spaniens in den heutigen Gruppengedächtnissen der spanischen Erinnerungskultur deutlich. Gerhard Seewann thematisierte anschließend die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Nachbarstaaten am Beispiel der ungarisch-slowakischen Deutungskonflikte um die gemeinsame Beziehungsgeschichte, in denen das vereinigte Europa, so Seewann, kaum eine Rolle spiele. Schließlich zeigte der Vortrag von Sven Saaler, der stellvertretend von Eckhardt Fuchs vorgetragen wurde, auf, welche Rolle der Geschichte als „internationaler/multilateraler Konfliktherd” zwischen Japan, China und Südkorea zukommt und welche Verständigungsinitiativen in diesem Rahmen angestrebt werden.
Geschichtspolitische Akteure haben meistens mehrdeutige Positionen. Deutungskonflikte sind vorprogrammiert.
Zusammenfassend kristallisierten sich in diesem ersten Teil mehrere Aspekte heraus:
Erstens bewegen sich historische Deutungen und politische Forderungen in einem Spannungsfeld vielfältiger Akteursgruppen, wie im spanischen Fall zwischen zivilgesellschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen, kirchlichen und publizistischen Akteuren. Sie reichen dabei von einer Schlussstrichforderung hin zu dem Bemühen um eine intensive Auseinandersetzung mit der konfliktbeladenen Geschichte. Gleichzeitig nehmen geschichtspolitische Akteure allerdings häufig mehrdeutige Positionen ein – etwa als Wissenschaftler und als Politiker, als Amtsträger und als Betroffene.
Diese Auseinandersetzungen ändern sich zweitens mit zunehmender zeitlicher Distanz. So können historische Deutungskonflikte ihre Brisanz verlieren oder erst gewinnen durch generationelle Veränderungen, die sich in der Primärerfahrung, in Familiengedächtnissen oder etwa unter den Enkeln der Erlebnisgeneration abzeichnen.
Weiterhin spielt, wie der slowakisch-ungarische Fall zeigt, die Langlebigkeit gegenseitiger Stereotype eine bedeutende Rolle. Besonders die unterschiedlichen Verständnisse von Nation und Zugehörigkeit sowie die Projektion von Repressionserfahrungen auf ganze Nationen verleiten dabei zu undifferenzierten und pauschalen Fremdwahrnehmungen, die beispielsweise in die permanente Aufrechterhaltung gegenseitiger Bedrohungsszenarien münden können. Diese werden besonders dann problematisch, wenn sie sich gegen Minderheitengruppen der anderen Nation im eigenen Land richten.
]]>Von Nicole Güther
Die Genese der Grenze in ihrer europäischen Auffassung ist mit Ausnahme des römischen Limes und der chinesischen Mauer ein Produkt der Entstehung neuzeitlicher Staatlichkeit und fast allen außereuropäischen Kulturen vollkommen fremd. Ihre eigene Begrenzung auf den europäischen/westlichen Kulturraum klassifiziert sie zu einem europäischen Phänomen. Das historische Bedürfnis nach Abgrenzung und der damit erhofften Sicherung des als Eigentum empfundenen Raumes unterliegt währenddessen einem Paradox: die wider die Natur von Menschenhand geschaffene Begrenzung provoziert mit ihrer Existenz einen sie wiederum bedrohenden Konflikt. Ihr Export über den Seeweg in alle Teile der Welt schuf bis in unsere Tage bekannte Auseinandersetzungen.
Die Sektion „Grenzmissverständnisse in der Globalgeschichte” nimmt in vier Vorträgen das diesjährige Thema des 48. Historikertages „Über Grenzen” in seiner räumlichen als auch symbolisch-sozialen Auffassung auf.
Leider blieb unklar, worin sich “Grenzmissverständnisse” von “kriegerischen Grenzkonflikten” unterscheiden.
Vorgestellt wurde die Problematik anhand der europäischen Kolonisation in Teilen Asiens, Afrikas und Australiens im Zeitraum zwischen 1500 und 1900. Die globalgeschichtliche Perspektive, die bewusst den europäischen Raum verließ, verdeutlicht den kulturellen Konflikt als maßgeblich. Zum besseren Verständnis der Beiträge wurde es leider versäumt, den zentralen Begriff des „Grenzmissverständnisses” hinsichtlich der referierten Themenbereiche genau zu definieren. So blieb unklar, inwiefern Grenzmissverständnisse sich von Grenzkonflikten kriegerischer Natur unterscheiden.
Dr. Stefanie Michels (Frankfurt/Main) Beschreibung der Grenze als Ordnungsmuster deutscher Kolonialpolitik in Afrika charakterisiert jene gar als Ort des gegenseitigen Kontakts. In krasser Ablehnung der physischen Bedeutung einer auf Karten sichtbaren Abgrenzung verwies sie auf die rein symbolische Bedeutung, wie sie sich in Kleidung ausdrückt (so verzichtete Michels gar auf Nennung des thematisierten Landes, dies konnte sich nur aus genauer Kenntnis afrikanischer Geschichte erschließen). Ihr Vortrag machte jedoch auch deutlich, dass eine Grenze unterschiedlich erfahrbar ist.
Grenze als Kontaktzone von Kulturen
Grenzmissverständnis im kulturell-soziologischen Verhältnis (Religion, Klasse, Rasse) war auch im Vortrag von Prof. Norbert Finzsch von der Universität Köln grundlegend. Grenze als Kontaktzone unterschiedlich kulturell geprägter Gruppen erscheint demnach schon im Akt der Genese als Grund des Scheiterns, im Falle Australiens gar als genozidal.
Dr. Alexander Drost von der Universität Jena referierte über die Grenzerfahrung der Indigenen auf den Molukken (ehemals Gewürzinsel nahe Neuguinea) und resümierte die Problematik als Folge der unterschiedlichen Herrschaftskonzepte und Raumordnungsmuster naturverbundener Urvölker. Eine nicht klar bestimmbare räumliche Trennung wie im Inselreich Südostasiens erfährt demnach einen, vielleicht umso stärker kulturell erfahrbaren Grenzkonflikt. Die als materiell, ideell und ideologisch erfassbare Grenze europäischer Prägung manifestiert sich traditionell auch sprachlich und belegt einmal mehr die Bedingtheit durch den europäischen Denkrahmen.
Nicole Güther ist Magisterstudentin der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Diesen und vielen weiteren Fragen zur Bologna-Reform stellten sich Dr. Birgit Galler (BMBF), Prof. Dr. Werner Plumpe (Frankfurt am Main, Vorsitzender des VHD), Prof. Dr. Ulrich Herbert (Freiburg), Prof. Dr. Michael Sauer (Göttingen) und Sebastian Wein (Masterstudent, HU Berlin) in Form einer Podiumsdiskussion. Moderiert wurde diese von Sven Felix Kellerhof (Die Welt).
Bereits 1999 wurden Maßnahmen zur Einführung eines neuen Studiensystems ergriffen. Dies sollte nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa zu Veränderungen der Studienlandschaft führen. Zu den Zielen zählten damals die Einführung eines verständlichen und vergleichbaren Studiensystems, die Einführung von zwei Studienzyklen (Bachelor-Master), die Einführung von Leistungspunkten sowie die Stärkung der Mobilität innerhalb Europas. Man wollte all dies zum Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts erreicht haben. Heute – zu genau diesem Zeitpunkt – ziehen die Minister eine recht positive Bilanz. Die Hauptziele, wie das Erreichen einer gewissen Vergleichbarkeit sowie die Einführung des Stufensystems seien bereits in 47 Staaten umgesetzt worden, stellte Frau Dr. Galler fest. Auch wenn natürlich noch Verbesserungsbedarf bestehe. Dies sei nicht zuletzt durch die zahlreichen Studentenproteste deutlich geworden.
Sie betonte weiterhin, dass man nicht vergessen dürfe, dass es sich bei der Bologna-Reform um einen Prozess handle. Man dürfe also nicht von heute auf morgen mit einem perfekt funktionierenden System rechnen. Vielmehr müsse sich dieses erst etablieren, dann könnten auch die Ziele in ihrer ganzen Tiefe umgesetzt werden. Zum Erreichen dieser Ziele finden jährlich Konferenzen mit dem Ministerium für Bildung und Forschung und Vertretern von Studenten, Universitäten und Institutionen statt. Als 1983, zu Beginn des Reformvorhabens, das erste Konzept veröffentlicht wurde, habe es sich tatsächlich um einen Drop-Down-Prozess gehandelt. An der Entscheidung wurden Universitäten damals nicht beteiligt. Doch heute wolle man alle Beteiligten in den weiteren Prozess mit einbeziehen.
Bologna: Erfolgsmodell oder gescheiterte Reform?
Wie erwartet fiel die Bewertung der Bologna-Reform durch die Professoren nicht so positiv aus. Die pessimistische Haltung der Öffentlichkeit gegenüber der Reform lasse sich, laut Prof. Dr. Plumpe, unter anderem dadurch erklären, dass ein grundsätzliches Vertrauen in die Reform fehle. Seit 1973 gebe es eine scheinbar permanente Hochschulreform, dennoch seien keine Änderungen und vor allem keine Dauerhaftigkeit im Reformprozess sichtbar.
Bologna-Reform löst nicht die Probleme der deutschen Universitäten, sondern schafft Neue.
Die Ansätze der Bologna-Reform seien keine angemessene Antwort auf die wirklichen Probleme der deutschen Universitätenlandschaft. Vielmehr habe die Reform zu neuen Problemen geführt, so Plumpe. So seien die Abbrecherquoten nicht, wie erwartet, zurückgegangen und die Anzahl der unterschiedlichen Abschlüsse sei unüberschaubar geworden. Dies führe zu einer großen Heterogenität in der Studienlandschaft, und – entgegen der Zielsetzung der Reform – zum Rückgang der Mobilität im Studium. So sei es zum Beispiel kaum möglich, den Universitätsstandort während eines Bachelorstudiengangs zu wechseln.
Niveauverlust der Lehre – Was trägt Bologna dazu bei?
Auch Ulrich Herbert unterstrich die Defizite des neuen Systems, wie etwa einen Niveauverlust in der Lehre, Chaos an den Universitäten, eine unüberschaubare Vielfalt an Studienabschlüssen, die Minderwertigkeit des B.A.-Abschlusses und die Verschulung des Systems. Er führt dies jedoch nicht nur auf die Bologna-Reform zurück. Seiner Ansicht nach gab es eine Kumulation verschiedener Faktoren, die nun in den Universitäten zum Tragen kommt. Zu solchen Faktoren gehören sicherlich nicht zuletzt die Einführung des Abiturs nach acht Jahren, die steigenden Studierendenzahlen sowie der Beschluss, die deutschen Fachhochschulen nicht weiter auszubauen.
Degradierung der Universitäten zu Gesamthochschulen
Dabei trifft es nach Herbert die Geisteswissenschaften besonders hart. Viele Menschen, die vorher nicht unbedingt studiert hätten, beginnen nun ein geisteswissenschaftliches Studium. Dadurch würden Universitäten zu Gesamthochschulen degradiert. Eine fundierte wissenschaftliche Ausbildung sei kaum mehr möglich. Herbert betonte mehrfach, dass Studierende in die Forschung integriert werden müssten. Deutschland lebe schließlich zu einem nicht zu vernachlässigenden Teil von seiner Forschung auf hohem Niveau. Ein Studium solle keine Berufsausbildung sein. Dennoch müssten den Studierenden Berufspraxisfelder aufgezeigt werden, da nur 2-10% später in die Wissenschaft gingen. Auch Plumpe unterstützte die spezifische Kompetenz der auf die Forschung gestützten Lehre.
Prof. Dr. Sauer dagegen unterstrich die Tatsache, dass es schon immer Berufsausbildungen in den Universitäten gegeben habe, die Universitäten dies nur nie anerkennen wollten. Was anderes als eine Berufsausbildung sei denn der Lehramtsstudiengang? Im Fach Geschichte seien immerhin ein beträchtlicher Prozentsatz – im Wintersemester 2007/2008 40% – Lehramtsstudenten gewesen.
Hier zeige sich besonders gravierend die Absurdität der Bologna-Reform. Schließlich gebe es in der Bundesrepublik Deutschland einen Lehramtsmarkt, der vom Bund geregelt wird. Mit dem Bachelor einen Studiengang einzuführen, der in keiner Weise konkurrenzfähig ist, entbehre jeglicher Logik.
Früher wurde zunächst die Theorie im Studium erworben, die Praxis kam später hinzu. Heute soll die Praxis ins Studium integriert werden. Dies führe jedoch zu einer zeitlichen Überbelastung der Studenten. Abgesehen davon, dass an den Universitäten selbst Praxis bestenfalls simuliert werden kann. Dennoch plädierte Frau Dr. Galler dafür, dass der Bachelor ein berufsqualifizierender Abschluss sei. Es sei durchaus möglich, innerhalb von drei bis vier Jahren berufsfähig ausgebildet zu werden. Weitere nötige Kompetenzen könnten auch erst nach dem Studium erworben werden, schließlich lerne man ja ohnehin lebenslang.
Sichtweise der Studierenden
Als studentischer Vertreter musste Sebastian Wein dem natürlich widersprechen, denn die Praxis sieht hier ganz anders aus. Lebenslanges Lernen gut und schön – doch schließlich will man nach dem Studium auch in einen Beruf wechseln. Schließt man allerdings beispielsweise ein Geschichtsstudium „nur” mit einem Bachelor ab, ist der Berufseinstieg nahezu unmöglich.
In den Geisteswissenschaften ist der Bachelor nicht berufsqualifizierend.
Ein Master ist für Geisteswissenschaftler unerlässlich. Erst dann wird man in der Wissenschaft, aber auch in der freien Wirtschaft, als berufsfähig anerkannt. Vielfach wird der Bachelor im Fach Geschichte von Studierenden wie Lehrenden lediglich als Zwischenprüfung angesehen.
Doch die Einführung des zweigliedrigen Systems hat nicht nur Nachteile. So ist die Mobilität nach dem Bachelor erheblich gestiegen. Die Studierenden haben nun die Möglichkeit, ihren Master an einer ganz anderen Universität zu absolvieren als ihren Bachelor, wie es auch Sebastian Wein getan hat. Auch ist die Mobilität in Europa – und sogar weltweit – erheblich gestiegen. „Früher war ein Auslandsaufenthalt viel schwieriger, aber ein Wechsel innerhalb der Universitäten viel einfacher”, so Herbert. Dennoch sollte man sich bei dieser Entwicklung fragen, ob es wirklich die Bologna-Reform war, die diese Entwicklung vorangebracht hat, oder ob es sich hierbei lediglich um eine logische Folge der voranschreitenden Globalisierung handelt. Auch Plumpe betonte: „Die Europäisierung des Hochschulraumes war immer schon da!”
Zum Abschluss dieser Podiumsdiskussion war man sich einig, dass die Veränderungen durch die Bologna-Reform nicht durchweg schlecht waren. „Es gibt einige gute Ideen, es hapert allerdings erheblich an der Organisation und vor allem am Informationsfluss”, wie Wein nochmals betonte. Es gibt sicherlich in diesem Prozess noch viel zu tun und zu verbessern. Eines der wichtigsten Ziele der nächsten Zeit sollte es, nach Plumpe, zunächst sein, ein Milieu der Herausforderung zu schaffen und den Spaß am Studium wiederherzustellen. Frau Dr. Galler versprach zudem, dafür zu sorgen, dass mehr Personal an den Universitäten eingestellt wird. So könne das Mehr an Betreuungsaufwand, das durch die Reform entstanden ist, kompensiert werden.
Die Diskutanten:
Autorinnen: Christine Buch und Marina Scheiff (RWTH Aachen)
]]>Stefan-Ludwig Hoffmann begrüßte den vollen Raum 1.205 am ersten Programmtag des Historikertags zu der Sektion “Genealogie der Menschenrechte”. Gleich zu Beginn informierte er die Anwesenden, dass einer der Referenten, Herr Kopeček, krankheitsbedingt nicht anreisen konnte.
Die vier ursprünglich geplanten Vorträge sollten sich in zwei Blöcke aufteilen: Die von Samuel Moyn und Hans Joas waren als Einleitungen oder Begriffsklärungen, die von Jan Eckel und Michael Kopeček als exemplarische, zeitlich enger umrissene Darstellungen gedacht. Aufgrund des Ausfalls fehlte leider der wichtige Teil über die Entstehung und den Gebrauch von Moral und die Menschenrechten von Dissidenten und Oppositionellen im Ostblock, das zweite Standbein der späteren Hälfte. Vor der abschließenden Diskussion sollte Sandrine Kott eine Kommentierung bieten und erste Fragen an die Referenten stellen.
Menschenrechte: Wechselvolle Karriere einer Idee
Zur Einführung verwies Hoffmann darauf, dass die historische Erforschung der Menschenrechte ein sehr neues Thema ist, das zwar vom 16. bis ins 18. Jahrhundert aktuell war, in der Zeit danach aber in Vergessenheit geriet. Ab spätestens 1848 kann man den Begriff im Wörterbuch finden, dennoch taucht er zum Beispiel nicht im Stichwortverzeichnis der “Deutschen Gesellschaftsgeschichte” von Wehler oder in Osterhammels “Verwandlung der Welt” auf. Erst in letzter Zeit spielt dieser Begriff auf Tagungen eine Rolle, entsprechend wenig Forschungsliteratur gibt es speziell dazu.
Viele “Universalitys”
Samuel Moyn, der seinen Vortrag auf Englisch hielt, gehört zu den wenigen, die ein Buch über das Thema veröffentlicht haben. Sein Vortrag stützte sich auf diese Arbeit. Direkt zu Beginn legte er Wert darauf, dass es nicht nur eine Art der “universality”, der Allgemeingültigkeit, gebe. Stattdessen wäre der Ursprung der universellen, auf alle Menschen bezogenen Menschenrechte nicht feststellbar: Ob sie nun bei den griechischen Philosophen der Stoa, in der Renaissance, durch die Bewegungen gegen die Sklaverei oder sogar erst als Konzept in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg in Erscheinung traten, ist seiner Meinung nach nicht relevant.
Immer schon hätten verschiedene Konzepte nebeneinander existiert und sich gegenseitig Konkurrenz gemacht. Fest stehe, dass in der Antike, schon bei Homer, eine Unterscheidung getroffen wurde zwischen den Menschen einerseits und den Göttern und Tieren andererseits. Genauso wie die Stoa haben alle drei mosaischen Religionen diesen universellen Anspruch, ohne dass eine ihn besser oder schlechter umsetzt. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen diesen Vorstellungen: wo die Stoa auf eine innerpersonelle Umsetzung zielt, bereitet beispielsweise das (Ur-)Christentum auf das nächste Leben vor.
Einige dieser Konzepte schafften es, vor der Zeit zu bestehen, andere nicht. Diese Vorstellungen häufen sich nicht über die Zeit an oder bauen aufeinander auf, sondern verdrängen sich und treten unterschiedlich in Erscheinung.
Menschenrechte, Nationalismus und Internationalismus
Außerdem waren die Wertekonzepte mit universellem Anspruch vom 17. Jahrhundert an bis in die Zeit der Dekolonialisierung eng mit dem Nationalismus verknüpft. Oft waren die Forderungen nach mehr Rechten für das Individuum verbunden mit Forderungen nach staatlicher Souveränität. Das erklärt die Fixierung auf die eigenen Bürger als Empfänger von Rechten und die weiterhin parallel dazu stattfindende Ausgrenzung zum Beispiel von Juden oder anderen Gruppen, die nicht zur Bürgerschaft gehörten.
Formen des Internationalismus von Menschenrechtsgedanken, wie sie nach der französischen Revolution oder nach dem Zweiten Weltkrieg auftraten, waren dennoch mehr als Tummelplätze der nationalen Bewegungen, die sich trafen, weil sie innerhalb ihres Landes nichts mehr zu tun hatten. Gerade dort wurden neue Rechtsverständnisse entwickelt, neue Aspekte und neue Gruppen in die Überlegungen einbezogen, die vorher aufgrund der stark auf Bürger bezogenen Rechte nicht berücksichtigt wurden.
Ursprünge der Menschenrechte
Hans Joas begründete zu Beginn seines Vortrages, warum die Frage, ob Menschenrechte nun religiöse oder säkulare Ursprünge hätten, eine unfruchtbare Frage ist. Er führte aus, dass die vermeintlich antiklerikalen Bestrebungen der französischen Revolution stärker gegen die Kirche, später gegen das Christentum, nicht jedoch gegen Religiosität gerichtet waren.
Hans Joas: Frage, ob Menschenrechte nun religiöse oder säkulare Ursprünge haben, ist irrelevant.
Die alternative christliche Meistererzählung, die sich auf die Aussagen zur Person in den Evangelien und die mittelalterlichen philosophischen Auslegungen stützt, sei ebensowenig haltbar. So kann sie nicht schlüssig erklären, warum die gleiche Religion sich jahrhundertelang mit Regierungsformen vertrug, die die Menschenrechte nicht achteten oder sich überhaupt dafür interessierten – ohne dass zu diesen Zeiten von Seiten des Christentums kritische Überlegungen angestellt wurden.
Etablierung von Werten
Damit sich Menschenrechte etablieren können, muss im Rahmen einer kulturellen Transformation Akzeptanz in der Bevölkerung gewonnen werden. Die Sakralisierung der Person hat erstens subjektive Evidenz nötig, das heißt, sie muss in jedem Menschen so verankert sein, dass man sie nicht mehr hinterfragt, dass sie allseits als Wertefundament angenommen sind. Zweitens ist eine affektive Bindungswirkung der Rechte in der Bevölkerung wichtig: Bei Verstößen muss es zu einer breiten Empörung kommen.
Im Dreieck aus Institutionen, Werten und Praktiken kann jede Ecke die Veränderung anstoßen, die dann von den anderen Ecken aufgenommen, verändert und nutzbar gemacht oder gehemmt und blockiert wird. Das Grundgesetz ist eine solche Institution, die sich im Bezug auf Menschenrechte sowohl auf die Praktiken wie auf die Werte ausgewirkt hat – aber in allen Bereichen in unterschiedlichem Maß. Das Folterverbot als Beispiel zeigt die unterschiedlichen Stufen: Vom Grundgesetz klar verboten, wird es doch in den Praktiken (Guantanamo, der Fall Daschner) nicht so konsequent verfolgt. Und die fehlende massive Empörung der Bevölkerung sowie die Verständnisbezeugungen im Feuilleton zeigen, dass das Verbot als Wert noch nicht in der Breite der Gesellschaft uneingeschränkt akzeptiert ist.
Um die Inhalte einer solchen Wertetheorie zu erhalten, müsste die Forschung eine narrative Komponente einbeziehen. Verschiedene universale Begründungsmodelle teilen auf abstrakter Ebene die gleichen Konzepte. Die christliche Seele habe, entkleidet von spezifisch religiösen Vorstellungen, einen Kern, den sie mit der Vorstellung des “inneren Buddha” des Buddhismus teile. Diese Wertegeneralisierung kann nur im Dialog entstehen und benötigt spezielle äußere Bedingungen, die es zu erkennen und entsprechend zu nutzen gilt.
Chile und Amnesty
Jan Eckel wählte als Einstieg in seinen Bericht das Erstaunen der chilenischen Junta nach dem Sturz Allendes in den siebziger Jahren über die massive öffentliche Empörung von allen Seiten. In dieser Intensität hat es bis dahin noch keine Anprangerung von Menschenrechtsverletzungen durch Staaten gegeben. In dieser Zeit gründeten sich viele NGOs, die das breite Spektrum der Menschenrechtsverletzungen als ihr Aufgabengebiet ansahen.
NGOs – Regierungen
Der Grund für diesen Aufschwung der NGOs zu “pressure groups”, die von der internationalen Staatengemeinschaft wahrgenommen werden, liege unter anderem an einem “postrevolutionären Aktivismus”. Viele der Organisationen gründeten sich in bewusster Abkehr von der revolutionären Phase um 1968 herum. Sie wollten nicht mehr gegen das System kämpfen, sondern stellten die konkrete Hilfe am einzelnen Menschen in den Vordergrund. Oft wurde dieses Bedürfnis ausgelöst durch vermehrtes Reisen in repressive Länder und direkte Bekanntschaften mit unterdrückten Personen.
Regierungen entdeckten die Menschenrechte ebenfalls in dieser Zeit für sich, Eckel wählte als Beispiele die Carter-Regierung der USA (1977-1981) und die Regierung der Niederlande unter Joop den Uyl (1973-1977). Carters Ziel war es, die Außenpolitik und das Bild der Vereinigten Staaten nach dem desaströsen Imageschaden durch den Vietnamkrieg wieder moralisch aufzuwerten. Unter ihm wurden Menschenrechte erstmals dezidiert Thema in bilateralen Gesprächen und Verhandlungen. Den Uyl verfolgte als linkes Projekt die Überwindung des kalten Krieges und die Unterstützung der Dritten-Welt-Bewegung. Er setzte sich von der bisherigen konventionellen Außenpolitik seiner Vorgänger ab und versuchte, offenere, liberalere Politik durchzusetzen.
Menschenrechte und ihre Wirkung
Konkrete Auswirkungen in dem Sinne, dass Staaten ihr Verhalten änderten, gab es jedoch trotz der breiten Kritik zum Beispiel an Südafrika, der Sowjetunion, Chile oder Argentinien selten. Diese Staaten überlegten sich vielmehr, um den Vorwürfen zu entgehen, wie sie die Vorgänge verschleiern könnten statt sie zu beenden. Wichtig waren diese Aktionen allerdings für die Oppositionen in den jeweiligen Ländern: Das Wissen, dass ihre Probleme weltweit thematisiert werden, half vielen als moralische Unterstützung. Und Menschenrechte konnten als vereinendes Banner vor der heterogenen Opposition hergetragen werden, hinter dem sich sowohl Linke als auch Konservative versammelten.
Methodische Aufgabe
Abschließend betonte der Referent drei Ansätze, die bei der Erforschung der Menschenrechte im Blick behalten werden müssen: Erstens die Multipolarität, denn es geht um Verhältnisse zwischen Staaten, Einzelpersonen und Gruppen. Zweitens müssen, was in den vorangehenden Vorträgen schon anklang, Diskontinuitäten berücksichtigt werden. Die Menschenrechte sind nicht organisch gewachsen, es gab Brüche, Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten sowie verschiedene räumliche und zeitliche Entwicklungen. Drittens sind Ambivalenzen zu berücksichtigen. Nicht alle Effekte der Menschenrechtsentwicklung sind positiv, es sei nur auf die negativen Erfahrungen mit Sozialinterventionen in den Entwicklungsländern verwiesen.
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Bernhard Schell
Zu Beginn dieser Sektion erläuterte Professor Peter Schulz-Hageleit einige zentrale Begriffe, wie z.B. Domäne, Grenzüberschreitung, Kompetenz und Urteil, die in der aktuellen Diskussion der Geschichtsdidaktik eine zentrale Rolle spielen. Dabei seien Urteil und Kompetenz sicherlich Zielbegriffe, wobei sie aber das Prozesshafte der Bildungs- und Lernvorgänge nicht in den Hintergrund drängen dürften. Es muss immer eine lebendige, ergebnisoffene Interaktion zwischen Schüler und Lehrer bzw. Schüler und Schüler bleiben.
Verdient Kaiser Konstantin nun das Prädikat “der Große” oder doch nicht viel eher das eines “Geschichtsunholdes”?
Am Beispiel von Kaiser Konstantin erläuterte er dann die Problematik eines Werturteils. Verdient Konstantin I. (306-337) nun das Prädikat „der Große”? Oder nicht viel eher das eines „Geschichtsunholdes”? Für Professor Schulz-Hageleit sind beide Etiketten zutreffend, komme es doch immer auf den Standpunkt des Betrachters an, sieht man ihn aus dem Blickwinkel des Christentums oder als Teil seiner Familie. Dieses Spannungsfeld gilt es auszuhalten. Ausdrücklich soll der Betrachter auch seinen Empfindungen Raum geben, die Subjektivität gehöre unabdingbar zum Geschichtsunterricht. Werturteile seien nun mal auf Diskussionen angewiesen. Ein Schüler muss Wert- und Bewertungskonflikte erklären und sich selbst darin positionieren.
Das ewige Thema: Angemessene Notengebung
Im zweiten Teil referierte Ulrich Hagemann (Berlin) über das Kerngeschäft des Lehrers, die Notengebung. Bei aller Neuausrichtung der Bildungspolitik und Bildungspraxis, in der das Prozessorientierte eines Lernprozesses über die Stunde hinaus in den Blick genommen ist, kann der Unterrichtende nicht darüber hinwegsehen, Noten geben zu müssen. Das zentrale Problemfeld bilde dabei die mündliche Notengebung, die selten transparent gestaltet bzw. von Schülern so empfunden wird. Es sei höchste Zeit, dass dem Einhalt geboten wird. Als mögliche Hilfestellung für den Lehrer führt er exemplarisch ein Diagnoseraster aus der eigenen Unterrichtspraxis ein.
Vier bewertungsrelevante fachspezifische Kompetenzbereiche werden dabei gewertet. In der Analysekompetenz wird die Fähigkeit beurteilt, in historischen Darstellungen Argumente, Begründungen und Überzeugungen zu ermitteln. In der Deutungskompetenz geht es darum, Daten, Fakten und Argumente zu einer eigenen Darstellung zusammenzufügen. Mit der Methodenkompetenz werden fachspezifische Methoden, wie z.B. die Quellenkritik, überprüft. In der Urteils-/ Orientierungskompetenz kommt die Fähigkeit begründeter und reflektierter Stellungnahmen des Schülers zu historischen oder politischen Sachverhalten auf den Prüfstand.
Hinzu kommt die Kommunikations- und Interaktionsneigung als Überprüfungskriterium. Ulrich Hagemann empfiehlt dieses Feedback alle vier bis sechs Wochen für jeden Schüler, wobei er jedem Schüler Raum für Rückmeldungen lässt, auch dies ist ein Teil des Lernprozesses für beide Seiten.
Durch diesen „Feedback-Bogen” für jeden Schüler werde der Lehrer stärker dazu angeleitet, seinen Fokus auf die Schüleraktivitäten zu legen. Dabei soll er aber sukzessiv auch die Anforderungen an die fachliche Durchdringung, die Selbstreflexion und die Transferleistung des Schülers steigern. So entstehe nach und nach eine kompetenzangereicherte, im Idealfall natürlich eine kompetenzorientierte Unterrichtspraxis. Die notwendige Mehrarbeit für den einzelnen Kollegen sei einmalig, die einmal im Computer gespeicherten Bögen müssten nur abgeändert werden.
Urteilskompetenz auch im Deutschunterricht von zentraler Bedeutung.
Frau Dr. Deborah Mohr regte im Anschluss daran an, die Domäne Geschichte, Politik, Unterrichtsdidaktik um das Fach Deutsch zu erweitern. Die Urteilskompetenz muss auch im Deutschunterricht geschult werden und dazu liefere das Unterrichtsfach Deutsch keine ausreichenden Hilfen, die die Schülerinnen und Schüler dazu befähigten, strukturierte und rational begründete Urteile zu fällen. Anhand zweier literarischer Beispiele wurde dies belegt. Herangezogene wurde zum einen die Frage, ob Werther wirklich sterben musste, zum anderen das Beispiel Wilhelm Tells. Als Grundlage für die Urteilsbildung dient ihr dabei ein vierteiliges Modell der Urteilsbildung, das sich auf Jörg Kayser, Ulrich Hagemann: Urteilsbildung im Geschichts- und Politikunterricht, stützt. Untersucht werden dabei Kategorien als leitende Begriffe, Kriterien als Leitfragen, die unterschiedlichen Betrachtungsebenen, auf denen die Kategorien Anwendung finden, sowie Perspektiven als Angabe der Sicht, aus der geurteilt wird. Mit der Umsetzung dieses Modells, der Vernetzung seiner Komponenten, lassen sich sowohl Sachverhalte im Deutschunterricht als auch im Geschichtsunterricht beurteilen und später daran orientiert handeln.
Didaktische Neuausrichtung
Jörg Ziegenhagen (Berlin) schloss den Vormittag mit seinem Beitrag zu kompetenzorientierten Prüfungs- und andere Aufgaben ab. Die 90er Jahre waren in der Didaktik geprägt durch den Erwerb von Wissen. Wenn man Ernst machen wolle mit der neuen Ausrichtung der Didaktik, dann müsste sich auch die Aufgabenstellung verändern. In den einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) der KMK sei dem Rechnung getragen. Hier werden aber nur Hinweise in formaler Hinsicht gegeben, allerdings bleibt offen, welche Konsequenzen sich daraus für die konkrete Aufgabenstellung ergeben.
Einen Ausweg aus diesem Dilemma sieht Jörg Ziegenhagen darin, dass die Themenorientierung Voraussetzung für die kompetenzbezogene Prüfungs- und Aufgabenform bildet. Diese Themen sind im weitesten Sinne Fragen an den Sachgegenstand und legen damit den Untersuchungsschwerpunkt fest. Die Aufgabe zwingt nun den Schüler dazu, sich strukturiert mit dem Thema auseinanderzusetzen. Am Beispiel der aktuellen Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei, führte er dies weiter aus. Es gilt, den Sachgegenstand festzulegen und einzugrenzen, Ausgangspunkt soll dabei das Schülerinteresse sein. In einem nächsten Schritt gilt es, Untersuchungsscherpunkte festzulegen. Dies wird durch leitende Begriffe wie Differenzierung, exemplarische Auswahl u.v.a.m. erreicht. Fachwissenschaftliche Grundlagen und fachmethodologische Verfahren, wie z.B. Auswahl von Quellen, Darstellungen aktueller Forschungsfragen oder gesellschaftliche Kontroversen bilden eine dritte Auswahlebene. Ziel ist es, dass der Schüler geschichtliches Bewusstsein entwickelt und in der Lage ist, an aktuellen Diskussionen teilzunehmen.
Bernhard Schell ist Oberstudienrat für die Fächer Geschichte und Religion am Hohenstaufen-Gymnasium Eberbach. |
(Redaktion: KP/MS)
]]>Von Julia Naßutt
Der interdisziplinäre Forschungsbereich Umweltgeschichte beschäftigte sich dabei mit dem zweitlängsten Fluss Europas, der mit einer Länge von mehr als 2.800 Kilometern einen wichtigen Schauplatz menschlichen Handelns während der Frühneuzeit in Europa darstellte. Der Fluss ist zum einen eine natürliche Grenze, andererseits wird die Donau aber nicht ausschließlich als Grenze wahrgenommen, sondern dient auch als Verkehrs- und Transportweg und somit als Lebensader der Anrainerstaaten.
Die Donau, der Grenzfluss Europas
Die Sektion am Vormittag nahm die Donau als einen sozionaturalen Schauplatz unter die Lupe. Moderiert wurden die interessanten Vorträge von Frau Prof. Dr. Verena Winiwarter vom Institut für Soziale Ökologie, Professorin für Umweltgeschichte und Dekanin der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (Klagenfurt – Graz – Wien).
In der frühen Neuzeit hatte die Donau einen wichtigen Einfluss auf die Kriegsgeschichte.
Der erste Vortrag von Frau Prof. Dr. Verena Winiwarter selbst beleuchtete mit Hilfe von Quellenmaterial aus der englischen Presse die Donau als Kriegsschauplatz des 17. und 18. Jahrhunderts. Ob Niedrig- oder Hochwasser – beide Dynamiken der Donau konnten während des Russisch-Osmanischen Kriegs die Truppen behindern oder ihnen einen Vorteil verschaffen. Bei Niedrigwasser war die Donau beispielsweise nicht schiffbar, um Munition an den Kriegsschauplatz zu transportieren. Munition und Bomben landeten im Fluss, so dass die Donau einem “Schiffs- und Kanonenfriedhof” glich. Bei Hochwasser dagegen konnten Reiter und Pferd ertrinken. Aber auch Nebel und Vereisung bei kalten, langen Wintern hatten großen Einfluss auf die Kriegsgeschichte an der Donau in der Frühneuzeit.
Anschließend präsentierte Frau Dr. Jelena Mrgić (Belgrad) die Geschichte der Donau mit Hilfe einer biographischen Darstellung: Luigi Ferdinando Marsiglis Leben. Als historische Geographin betrachtete sie dabei die Interaktion zwischen Umwelt/Natur und dem Menschen. Mrgićs Faszination gilt dabei Marsiglis Persönlichkeit, der zum einen als Soldat und später als erster Forscher die zweitgrößte Wasserscheide Europas beschrieb. Marsigli (1658-1730) reiste gerne und erforschte dabei die „Supermacht der Naturgewalt”.
Stadt, Land, Fluss
Aber nicht nur Flüsse, sondern auch die an ihren Ufern gelegenen Städte strukturieren die Landschaft. In Dr. Martin Knolls (Darmstadt/München) anschaulichem Vortrag „Der Fluss in der Stadt und die Stadt in der Flusslandschaft. Abgrenzungsprobleme urbaner Existenz in der geographischen Publizistik zum Donauraum, 16.-18. Jh.” wurden trennende und verbindende Elemente zwischen Stadt und Fluss dargestellt. Mit Hilfe von Stichen des Kupferstechers Matthäus Merian analysierte Knoll die Repräsentationen von Städten, beispielsweise Ulm, Augsburg und Regensburg. Häufig besaß die Donau nur einen geringen Anteil an der urbanen Existenz. Anders dagegen in der Darstellung der Stadt Straubing, bei der sich die Donauschleife und die Alte Donau mit der Flussverbauung durchs Bild schlängeln. Insgesamt werden die sozionaturalen Schauplätze zwar als Orte extremer anthropogener Aktivitäten durch die geographische Kartographie des 16. bis 18. Jahrhunderts repräsentiert, dabei werden jedoch die Extremereignisse eher selten dargestellt oder beschrieben.
Einen weiteren Beitrag leistete Prof. Dr. Martin Schmid (Wien) in seinem Vortrag „Die obere Donau als sozionaturaler Schauplatz: (Grenz)streitigkeiten in fluvialen Umwelten der Frühen Neuzeit”. Maßgebende Fragestellung seines Vortrags war die Darstellung der Umweltgeschichte anhand von vier ausgewählten österreichischen Donauabschnitten, unter anderem Wien und Carnuntum. Sehr anschaulich stellte Schmid dabei dar, wie naturale Prozesse und menschliches Handeln in Wechselbeziehung stehen.
Kommentiert wurde die Sektion zum einen von Herrn Prof. Dr. Achim Landwehr (Düsseldorf), der als Kulturhistoriker den innovativen Ansatz der Umwelthistoriker hervorhob, und zum anderen von Herrn Prof. Dr. Richard C. Hoffmann (Toronto), der im Gegensatz zu seinem Vorredner als Umwelthistoriker die Wahrnehmung der Donau zusammenfasste.
In den Vorträgen wurde deutlich, dass die Donau häufig nicht als Grenze wahrgenommen wird, sondern als dynamischer Schauplatz, der auch als verbindendes Glied zwischen einzelnen Kriegsschauplätzen gelten kann.
In ihrem Sektionsvorschlag liefern die Mitglieder der „Danube Environmental History Initiative” (DEHI) auch einen Einblick in die Arbeit des von der European Science Foundation geförderten Forschungsnetzwerkes, das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geistes-, sozial- und naturwissenschaftlicher Disziplinen aus beinahe allen Donauanrainerstaaten und weiteren Ländern miteinander in Kontakt bringt.
Julia Naßutt ist Studienrätin für die Fächer Englisch und Geographie am Hohenstaufen-Gymnasium Eberbach. |
(Redaktion: KP/MS)
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