Enthüllungen aus der Mathematik.

Kapitel 7 von “Wie Mathematiker ticken” ist vielleicht das persönlichste Kapitel, weil Ruelle hier über Ereignisse berichtet, an denen er selbst beteiligt war.

Bei der Gelegenheit paßt es mal zu erwähnen, daß der Klappentext des Buches, der offenbar von allen Verlagen, Webseiten und Pressestellen wörtlich für ihre Werbetexte übernommen wurde, den Inhalt des Buches nicht gut widergibt. Es ist im Klappentext die Rede davon, das Buch zeige “wieder einmal, dass Genie und Wahnsinn nah beieinander liegen”, der Autor lasse “auch die Eigenarten, Absonderlichkeiten und persönlichen Tragödien der Mathematiker in seinen Schilderungen nicht aus”, es werde “die Geschichte des britischen Mathematikers Alan Turing” erzählt, und es würden “nicht nur Enthüllungen aus dem Leben berühmter Mathematiker” dargestellt, sondern auch ihre Ideen. (Na ja, das letzte stimmt dann wieder.)

Der im Klappentext vermittelte Eindruck ist jedenfalls irreführend: Turing kommt nur am Ende des 15. Kapitels relativ kurz vor, und “Genie und Wahnsinn” ist kein Thema – John Nash, der wohl das naheliegendste Beispiel dazu gewesen wäre, kommt im Buch überhaupt nicht vor, auch z.B. Gödel oder Cantor werden nur in ihrem Werk und nicht in ihrem Wahn erörtert, und “Enthüllungen aus dem Leben berühmter Mathematiker” gibt es eigentlich auch keine außer eben zu den Ereignissen um Grothendieck und das IHES, an denen Ruelle selbst beteiligt war und wo es ihm offensichtlich ein Anliegen ist, einmal die Erinnerungen eines Beteiligten darzustellen.

In Kapitel 7 geht es also um Alexander Grothendieck und um die Geschichte des IHES:

i-6f2da54acc14a6d5948e97bcfd3e579d-IHES_main_building.jpg

IHES-Hauptgebäude

Das IHES, eines der weltweit bedeutendsten mathematischen Forschungsinstitute, war 1958 von dem russisch-französischen Industriellen Leon Motchane gegründet worden. Der größte Teil von Kapitel 7 ist eigentlich Grothendiecks Biographie, seinen wissenschaftlichen und politischen Aktivitäten und insbesondere auch seinen Veröffentlichungen nach dem Ausscheiden aus dem Institut gewidmet. Ich zitiere hier mal einige Abschnitte, in denen es um die Institutsgeschichte und Grothendiecks Rolle dabei geht:

Trotz der überwältigenden wissenschaftlichen Qualität erschien mir das Institut damals völlig unbedeutend und schlicht: Niemand war Akademiemitglied, und keiner der Wissenschaftler hatte graue Haare.
[…]
In geistiger Hinsicht war das IHÉS, als ich 1964 dort ankam, ein fantastischer Ort. Doch es gab auch Schwierigkeiten. Mit als erstes erfuhr ich (von René Thom), dass die Professorengehälter nicht immer pünktlich überwiesen wurden. In späteren Jahren musste das IHÉS sein Vermögen veräußern, um seinen Fortbestand zu sichern. (So musste ich mir Geld leihen, um die Wohnung zu kaufen, in der ich zur Miete lebte, oder ausziehen.) Die damaligen Professoren (René Thom, Louis Michel, Alexander Grothendieck und ich) waren sich Motchanes großen Engagements vollkommen bewusst; Sorgen bereitete uns allerdings sein sprunghaftes Verhalten und die Frage seiner Nachfolge.
[…]
Irgendwann in dieser turbulenten Zeit erfuhr Grothendieck, dass das IHÉS Militärgelder erhalten hatte, und kündigte seinen Rücktritt an, falls sich dies fortsetze. Offensichtlich aber liefen diese Militärgelder aus, womit die Angelegenheit beendet war.
Nach Gesprächen mit Michel und Thom reisten Grothendieck und ich am 20. Februar 1970 nach Nancy zu einem Treffen mit dem Kuratoriumsvorstand.
[…]
Bei den Diskussionen mit Motchane war Grothendieck tendenziell offener als wir anderen. Daher hielt Motchane ihn offensichtlich für unseren “Anführer” und verspottete ihn. Irgendwann beschloss Grothendieck anscheinend, die Farce habe nun lange genug gedauert und nannte Motchane bei einem unserer Treffen einen verdammten Lügner. (An den genauen Grund für diese Anschuldigung erinnere ich mich nicht.) Nach diesem Zwischenfall erklärte Motchane, das IHÉS erhalte erneut Militärgelder, und Grothendieck legte sein Amt nieder.

Ruelle verweist (im Kapitel und in den Fußnoten) auf verschiedene Webseiten, hier noch die Links:
Cartier: “A mad day’s work” – Kurzbiographie und verständliche Erklärung von Grothendiecks Beiträgen zur Mathematik
Herreman: “Découvrir et transmettre”
Dieudonne: “De l’analyse fonctionelle aux fondements de la géométrie algébrique”
Jackson: “Comme appelé du néant – as if summoned from the void: The life of Alexandre Grothendieck”
Scharlau: “Wer ist Alexander Grothendieck?”
und natürlich Grothendieck’s Text “Récoltes et Semailles”, in Ruelle’s Worten “ein sehr vielfältiger Text, der sich mal wie Oscar Wildes De profundis liest und mal paranoide Angriffe gegen ehemalige Studenten und Freunde enthält, die er des Verrats an seinem wissenschaftlichen Werk und seiner Botschaft bezichtigt.”

1 / 2 / Auf einer Seite lesen

Kommentare (1)

  1. #1 rolak
    25. Mai 2010

    /Klappentext/
    Warum sollte es bei Sach- und Fachbüchern anders sein als in der Belletristik? Ganz speziell bei der von mir recht intensiv gelesenen SF war ich schon des Öfteren der Meinung, es sei aus Versehen die falsche Kurzbeschreibung aufs Buch gepappt worden. Ganz zu schweigen von Titelbildern, die in keiner Weise das im Text beschriebene darstellen…

    Schöne Rezension mit vielen Guck- & Lesereizungen.